EMARK - JICRA - GICRA 2006 / 24

2006 / 24 - 251

Auszug aus dem Urteil der ARK vom 6. Juli 2006 i.S. A.P., Russland
Art. 29 Abs. 2 BV; Art. 12
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 12 - Die Behörde stellt den Sachverhalt von Amtes wegen fest und bedient sich nötigenfalls folgender Beweismittel:
a  Urkunden;
b  Auskünfte der Parteien;
c  Auskünfte oder Zeugnis von Drittpersonen;
d  Augenschein;
e  Gutachten von Sachverständigen.
, Art. 29
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 29 - Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör.
, Art. 32 Abs. 1
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 32
1    Die Behörde würdigt, bevor sie verfügt, alle erheblichen und rechtzeitigen Vorbringen der Parteien.
2    Verspätete Parteivorbringen, die ausschlaggebend erscheinen, kann sie trotz der Verspätung berücksichtigen.
und Art. 35 Abs. 1
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 35
1    Schriftliche Verfügungen sind, auch wenn die Behörde sie in Briefform eröffnet, als solche zu bezeichnen, zu begründen und mit einer Rechtsmittelbelehrung zu versehen.
2    Die Rechtsmittelbelehrung muss das zulässige ordentliche Rechtsmittel, die Rechtsmittelinstanz und die Rechtsmittelfrist nennen.
3    Die Behörde kann auf Begründung und Rechtsmittelbelehrung verzichten, wenn sie den Begehren der Parteien voll entspricht und keine Partei eine Begründung verlangt.
VwVG: Feststellung des Sachverhalts, Anspruch auf rechtliches Gehör, behördliche Begründungspflicht.
Art. 3 Abs. 1
IR 0.107 Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes
KRK Art. 3 - (1) Bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.
KRK: Kindeswohl, völkerrechtskonforme Auslegung von Art. 14a Abs. 4
IR 0.107 Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes
KRK Art. 3 - (1) Bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.
ANAG.

1. Die blosse Feststellung der Vorinstanz, nach ihren Erkenntnissen komme der russische Staat seinen Verpflichtungen gegenüber Waisenkindern im Rahmen des Möglichen nach und die Behörden könnten um Schutz vor Übergriffen im Waisenhaus ersucht werden, trägt der Situation eines Waisenkindes, das unter misslichsten Bedingungen im Waisenhaus aufgewachsen ist, wiederholt misshandelt wurde und auch polizeiliche Übergriffe erlitten hat, nicht Rechnung und verletzt die Begründungspflicht (Erw. 5).

2. Bei der völkerrechtskonformen Beurteilung der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender sind spezifische Abklärungen der persönlichen Situation des Asylsuchenden unter dem Blickwinkel des Kindeswohls vorzunehmen (vgl. EMARK 1997 Nr. 23, 1999 Nr. 2). Mit der allgemeinen Feststellung, der Vollzug der Wegweisung eines Waisenkindes erweise sich als zumutbar, weil in Russland geeignete Einrichtungen bestehen würden, an die sich dieses wenden könne, beziehungsweise der Minderjährige könne wieder in dasselbe Waisenhaus zurückkehren, hat das Bundesamt vorliegend den Sachverhalt insoweit unvollständig festgestellt (Erw. 6).
Art. 29 al. 2 Cst. ; art. 12, art. 29, art. 32 al. 1 et art. 35 al. 1 PA : constatation des faits, droit d'être entendu, obligation de motiver.
Art. 3 al. 1 Conv. droits enfant : bien de l'enfant , interprétation conforme au droit international de l'art. 14a al. 4 LSEE.

1. La simple constatation, faite par l'autorité de première instance sur la base de ses propres informations, que l'Etat russe assume ses obligations envers les orphelins dans la mesure de ses moyens et qu'il est possible à ces enfants de requérir la protection de l'Etat en cas de maltrai-

2006 / 24 - 252

tance avérée dans un orphelinat, constatation opérée sans considération du cas particulier d'un enfant élevé en institution, dans des conditions très dures, qui plus est, maltraité de manière répétée, y compris par la police, est constitutive d'une violation de l'obligation de motiver (consid. 5).

2. L'évaluation, conforme au droit international, de l'exigibilité de l'exécution du renvoi d'un mineur non accompagné présuppose la clarification de la situation personnelle du requérant sous l'angle spécifique du bien de l'enfant (JICRA 1997 n° 23, 1999 n° 2). L'affirmation toute générale selon laquelle l'exécution du renvoi d'un orphelin est exigible parce qu'existent en Russie des institutions appropriées auxquelles il peut s'adresser - ainsi celle-là même où il a vécu et où il pourrait retourner - est constitutive d'une constatation incomplète des faits pertinents (consid. 6).
Art. 29 cpv. 2 Cost.; art. 12, 29, 32 cpv. 1 nonché 35 cpv. 1 PA: accertamento dei fatti, diritto d'essere sentito e obbligo di motivare.
Art. 3 cpv. 1 Conv. fanciullo: benessere del fanciullo; interpretazione conforme al diritto internazionale dell'art. 14a cpv. 4 LDDS.

1. La mera constatazione, da parte dell'autorità inferiore, che - giusta le informazioni in suo possesso - lo stato russo assume i propri obblighi nei confronti degli orfani nella misura delle sue possibilità e che è possibile chiedere la sua protezione contro maltrattamenti patiti negli orfanotrofi, non tiene in considerazione la situazione di un fanciullo cresciuto in condizioni difficili in un orfanotrofio e già maltrattato dalla polizia. Quest'omissione costituisce una violazione dell'obbligo di motivare (consid. 5).

2. La valutazione conforme al diritto internazionale dell'esigibilità dell'esecuzione dell'allontanamento di un minorenne non accompagnato presuppone lo svolgimento d'indagini volte a chiarire la situazione personale del minorenne, tenuto conto dell'interesse superiore del fanciullo (GICRA 1997 n. 23 e 1999 n. 2). La generica constatazione, secondo la quale l'esecuzione dell'allontanamento di un orfano è esigibile perché in Russia sussistono delle istituzioni idonee alle quali egli può rivolgersi (tra le quali il medesimo istituto che l'avrebbe già ospitato), rappresenta

2006 / 24 - 253

un accertamento incompleto dei fatti giuridicamente rilevanti (consid. 6).
Zusammenfassung des Sachverhalts:
Am 29. November 2004 ersuchte der Beschwerdeführer in der Schweiz um Asyl und machte geltend, er sei minderjährig und Vollwaise. Seinen Vater kenne er nicht. Seine Mutter sei - als er etwa vier Jahre alt gewesen sei - nach Inguschetien gegangen und habe ihn bei seiner Grossmutter zurückgelassen. Im Jahre 2002 sei die Grossmutter gestorben. Seither habe er im Kinderheim O. (Stavropol-Gebiet) gelebt. Das Essen im Heim sei sehr schlecht gewesen, er habe oft Hunger gehabt. Sie seien deshalb von der Heimleitung angehalten worden, auf den Feldern zu arbeiten. Die jüngeren Kinder seien unter Misshandlungen von den älteren Heimkindern zum Arbeiten, Betteln und zur Abgabe des dabei erworbenen Geldes gezwungen worden. Er sei auch aufgefordert worden, einen Kiosk auszurauben oder eine Telefonzelle aufzubrechen. Die Aufseher hätten die älteren Kinder gewähren lassen oder die jüngeren Waisenkinder zusätzlich bestraft. Obwohl die Heimleitung Kenntnis von der Situation gehabt habe, habe sie nichts dagegen unternommen. Als er habe fliehen wollen, sei er im Zug von der Polizei aufgegriffen worden, habe sich nackt ausziehen müssen, sei geschlagen, eine Nacht festgehalten und am nächsten Tag ins Kinderheim zurückgebracht worden. Von einem Bekannten
habe er den Tipp erhalten, sich in einer Autowaschanlage zu melden und dort nach Arbeit zu fragen, was er auch getan habe. In der Autowaschanlage habe er "Onkel S." kennen gelernt, welcher sich in der Folge um ihn gekümmert und ihn nach rund einem halben Jahr in die Schweiz gebracht habe.
Das BFM stellte mit Verfügung vom 10. Februar 2005 fest, der Beschwerdeführer erfülle die Flüchtlingseigenschaft nicht, und lehnte das Asylgesuch ab. Gleichzeitig ordnete es die Wegweisung aus der Schweiz und deren Vollzug an.
Mit Beschwerde vom 11. März 2005 an die ARK beantragte der Beschwerdeführer, die Verfügung des BFM sei aufzuheben. Er sei als Flüchtling anzuerkennen und sein Asylgesuch sei gutzuheissen.
Die ARK heisst die Beschwerde gut, hebt die Verfügung vom 10. Februar 2005 auf und weist die Sache zur Wiederaufnahme des Verfahrens und Neubeurteilung an die Vorinstanz zurück.

2006 / 24 - 254

Aus den Erwägungen:

4.

4.1. Das BFM lehnte das Asylgesuch ab, da die Vorbringen des Beschwerdeführers den Anforderungen an die Flüchtlingseigenschaft gemäss Art. 3
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 3 Flüchtlingsbegriff - 1 Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
1    Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
2    Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken. Den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen.
3    Keine Flüchtlinge sind Personen, die wegen Wehrdienstverweigerung oder Desertion ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden. Vorbehalten bleibt die Einhaltung des Abkommens vom 28. Juli 19514 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Flüchtlingskonvention).5
4    Keine Flüchtlinge sind Personen, die Gründe geltend machen, die wegen ihres Verhaltens nach der Ausreise entstanden sind und die weder Ausdruck noch Fortsetzung einer bereits im Heimat- oder Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Vorbehalten bleibt die Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951.6
AsylG nicht standhielten. Es sei notorisch, dass in Russland gerade in ländlichen Gebieten physisch und sozial Schwache Schikanen durch Stärkere ausgesetzt sein könnten. Dem BFM sei aufgrund des Augenscheins auch bekannt, wie schwierig die Verhältnisse in ländlichen russischen Waisenhäusern sein können. Grundsätzlich komme der russische Staat nach den Erkenntnissen des BFM jedoch seinen Verpflichtungen gegenüber Waisenkindern im Rahmen der Möglichkeiten nach. Aus dem zu beurteilenden Sachverhalt würden keine Hinweise auf Verfolgung hervorgehen. Bei den geltend gemachten Schikanen und Schlägen durch ältere Heimkinder handle es sich um Nachteile seitens Dritter. Diese seien nur dann asylrelevant, wenn der russische Staat sie aus einem asylrelevanten Grund anrege, billige oder tatenlos hinnehme. Dafür gebe es keine Anhaltspunkte. Zwar würden in Russland gerade auf dem Lande oft harte Sitten herrschen, dem Beschwerdeführer wäre es jedoch grundsätzlich möglich und zumutbar gewesen, sich an die zuständigen Behörden zu wenden. Eigenen Angaben nach habe er einen Bekannten in der Umgebung gehabt, der
ihm sogar die aufwendige illegale Reise in die Schweiz ermöglicht haben soll. Es wäre diesem Mann mit weitaus weniger Aufwand leicht möglich gewesen, durch Fürsprache vor Ort etwas für den Beschwerdeführer zu tun.

4.2.

4.2.1. In der Rechtsmitteleingabe hält der Beschwerdeführer daran fest, er erfülle die Voraussetzungen zur Anerkennung als Flüchtling. Die Zustände im Kinderheim seien sehr schlecht gewesen. Von der Heimleitung seien sie zur Feldarbeit angehalten worden. Von den älteren Kindern sei er zum Betteln gezwungen, geschlagen und misshandelt worden. Dagegen habe die Heimleitung nichts unternommen. Habe der Beschwerdeführer nach Hilfe geschrieen, sei ihm von den Erziehern die sogenannte "dunkle Kammer" verordnet worden. Nachts sei er mit einer Decke überworfen und von andern Heimkindern kräftig geschlagen worden. Als er sich dagegen gewehrt habe, habe er die ganze Nacht mit ausgestreckten Armen, ein Kissen haltend, stehen müssen. Habe er seine Arme gesenkt, sei ihm vom Erzieher auf die Hände geschlagen worden. Einmal habe der Beschwerdeführer versucht, aus dem Heim zu fliehen. Ohne Billett sei er in einen Regionalzug eingestiegen. Er sei entdeckt und der Polizei übergeben worden. Auf dem Posten habe er sich nackt ausziehen müssen, sei geschlagen, eine Nacht in eine Zelle gesperrt und am folgenden Tag der Heimleitung übergeben worden. Die russische Polizei habe trotz bestehender Schutzpflicht und -fähigkeit den erforderlichen Schutz nicht
gewährt. In der Waschanlage habe er "On-

2006 / 24 - 255

kel S." kennen gelernt. Dieser habe als Deutscher in Russland nach dem Zweiten Weltkrieg selbst keine einfache Kindheit gehabt. Weiter wird in der Beschwerdeschrift ausgeführt, die verschiedenen beigelegten Berichte würden die brutale Behandlung russischer Waisenkinder dokumentieren. Die Kinder würden mangelhaft ernährt, verprügelt, sexuell missbraucht und oft degradierend behandelt. Die Kinderrechtskonvention (KRK) sei auch von Russland ratifiziert worden. Den Kindern in den russischen Waisenhäusern und Kinderheimen würden die in der KRK verbrieften Rechte nicht zukommen. Deswegen habe Amnesty International mit einer Petition an die Leitung des Departements für staatliche Jugendpolitik, Erziehung und sozialen Schutz der Kinder von der russischen Regierung Massnahmen gefordert, um die herrschenden Missstände zu beheben. Bis jetzt habe sich die Lage indes nicht verbessert, sondern teilweise verschlechtert. Also seien die russischen Behörden ihrer Fürsorgepflicht im Umgang mit Minderjährigen nicht nachgekommen. Hier in der Schweiz habe sich der Beschwerdeführer gut integriert.

4.2.2. In der Beschwerdeergänzung vom 21. März 2005 wird ausgeführt, Beschwerden gegen die Heimleitung oder Ausbrüche aus dem Heim würden brutal bestraft. Eine medizinische Untersuchung nach Misshandlungen werde verweigert. Sodann würden die Heimkinder eine im Vergleich zu andern Kindern schlechtere Ausbildung erhalten. Die russischen Behörden würden auf die ausländische Kritik entweder nicht reagieren oder die problematischen Kinderheime für unerwünschte Besucher nicht mehr zugänglich machen. Das Schicksal der russischen Waisenkinder würde die Ausländer mehr interessieren als die einheimischen Politiker.

4.2.3. In der Eingabe vom 31. März 2005 wird geltend gemacht, die Kinder im Heim hätten ihre Wäsche selbst waschen müssen und kaum Gelegenheit gehabt, sich zu duschen. Zu den Strafmethoden der Heimleitung habe die kniende Stellung im grob gemahlenen Salz, das Schlagen mit einem Lineal auf entblösste Körperteile und mit einem Löffel auf die Stirn gehört. Den ungehorsamen Kindern hätten einige Erzieher gedroht, ihre inneren Organe an "Bedürftige" zu verkaufen. Einmal habe der Beschwerdeführer einen Fluchtversuch aus dem Heim unternommen. Dabei sei er von der Polizei verhaftet worden. Die Polizei habe ihn während rund zehn Minuten mit Knüppeln geschlagen. Am folgenden Tag sei der Beschwerdeführer ins Heim zurückgebracht worden. Die russische Polizei habe sich nicht über die Probleme des Beschwerdeführers informieren wollen und ihm trotz bestehender Schutzpflicht und -fähigkeit den erforderlichen Beistand nicht gewährt.

4.3. In der Vernehmlassung vom 14. April 2005 führte das BFM aus, die grosse Zunahme von Waisenkindern und vor allem von so genannten "sozialen Wai-

2006 / 24 - 256

sen" stelle eine der grössten Herausforderungen für die Nachfolgestaaten der UdSSR dar. Insbesondere die Russische Föderation sei von einer unkontrollierten Zunahme betroffen. Die staatlichen Strukturen seien aufgrund finanzieller Engpässe kaum in der Lage, diesen Anstieg zu absorbieren. Schlechte Koordination zwischen den bestehenden Einrichtungen würde zur Ineffizienz beitragen. Ebenso weise das ohnehin überlastete Justizsystem Mängel auf, da kaum spezielle Gerichte für Jugendliche eingerichtet worden seien. Indes könne nicht davon gesprochen werden, die bis zu fünf Millionen verlassenen Kinder in der Russischen Föderation würden staatlicherseits aus einem asylrelevanten Grund verfolgt. Ohne die schwierigen Verhältnisse beschönigen zu wollen, sei aber festzuhalten, dass die russischen Behörden seit dem der Beschwerdeschrift beigelegten Bericht von 1998 eine Reihe von Massnahmen ergriffen hätten, um die Rechte der Kinder besser zu schützen.

5.

5.1. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 29 Allgemeine Verfahrensgarantien - 1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
1    Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
2    Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör.
3    Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand.
BV, Art. 29
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 29 - Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör.
VwVG, Art. 32 Abs. 1
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 32
1    Die Behörde würdigt, bevor sie verfügt, alle erheblichen und rechtzeitigen Vorbringen der Parteien.
2    Verspätete Parteivorbringen, die ausschlaggebend erscheinen, kann sie trotz der Verspätung berücksichtigen.
VwVG) verlangt, dass die verfügende Behörde die Vorbringen des Betroffenen tatsächlich hört, sorgfältig und ernsthaft prüft und in der Entscheidfindung berücksichtigt, was sich entsprechend in der Entscheidbegründung niederschlagen muss (vgl. Art. 35 Abs. 1
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 35
1    Schriftliche Verfügungen sind, auch wenn die Behörde sie in Briefform eröffnet, als solche zu bezeichnen, zu begründen und mit einer Rechtsmittelbelehrung zu versehen.
2    Die Rechtsmittelbelehrung muss das zulässige ordentliche Rechtsmittel, die Rechtsmittelinstanz und die Rechtsmittelfrist nennen.
3    Die Behörde kann auf Begründung und Rechtsmittelbelehrung verzichten, wenn sie den Begehren der Parteien voll entspricht und keine Partei eine Begründung verlangt.
VwVG; EMARK 2004 Nr. 38, Erw. 6.3., S. 264). Die Abfassung der Begründung soll es dem Betroffenen möglich machen, den Entscheid gegebenenfalls sachgerecht anzufechten, was nur möglich ist, wenn sich sowohl der Betroffene als auch die Rechtsmittelinstanz über die Tragweite des Entscheides ein Bild machen können (BGE 129 I 232, Erw. 3.2). Dabei muss sich die verfügende Behörde nicht ausdrücklich mit jeder tatbeständlichen Behauptung und jedem rechtlichen Einwand auseinander setzen, sondern darf sich auf die wesentlichen Gesichtspunkte beschränken (BGE 126 I 97, Erw. 2b). Die Begründungsdichte richtet sich nach dem Verfügungsgegenstand, den Verfahrensumständen und den Interessen des Betroffenen, wobei die bundesgerichtliche Rechtsprechung bei schwerwiegenden Eingriffen in die rechtlich geschützten Interessen des Betroffenen - und um solche geht es bei der Frage der Gewährung des Asyls - eine
sorgfältige Begründung verlangt (BGE 112 Ia 110).

5.2. Der Beschwerdeführer macht geltend, es sei ihm, als minderjähriger Vollwaise, nicht möglich gewesen, sich gegen die Benachteiligungen seitens der anderen Heimkinder sowie der Heimleiter zu wehren. Dazu hält das BFM in der angefochtenen Verfügung fest, der russische Staat komme seinen Verpflichtungen gegenüber Waisenkindern im Rahmen des Möglichen nach. Bei den Schikanen durch die anderen Heimkinder handle es sich um nicht asylrelevante Benachteiligungen seitens Dritter. Es gebe keine Hinweise dafür, dass der russische Staat diese Handlungen anrege, billige oder tatenlos hinnehme. In Russland

2006 / 24 - 257

würden insbesondere auf dem Lande oft harte Sitten herrschen. Dennoch wäre es dem Beschwerdeführer grundsätzlich möglich und zumutbar gewesen, sich an die zuständigen Behörden zu wenden, wenn die Schikanen ein zu grosses Ausmass angenommen hätten. Entsprechend äusserte sich das BFM auch in der Vernehmlassung.
Indes unterliess es die Vorinstanz sowohl in der angefochtenen Verfügung als auch in der Vernehmlassung, sich zu diesem wesentlichen Sachverhaltselement konkret und im Einzelnen zu äussern. Namentlich legte sie nicht dar, wie ein in einem Waisenhaus lebendes, mittelloses Kind im Alter zwischen elf und dreizehn Jahren (vorliegend der Beschwerdeführer) in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht bei den zuständigen Behörden um Schutz hätte nachsuchen können. Gemäss den Aussagen des Beschwerdeführers hat er versucht, sich bei den Erziehern über den Umgang der älteren Heimkinder mit ihm zu beklagen, allerdings ohne Erfolg. Vielmehr wurde der Beschwerdeführer für sein Vorgehen bestraft. Auch die Polizei habe sich nicht mit seinen Problemen auseinandergesetzt, sondern ihn bei seiner Flucht vielmehr in Haft gesetzt, ihn seine Kleider ausziehen lassen, geschlagen und am nächsten Tag dem Kinderheim übergeben. Indem das BFM sich mit diesem wesentlichen Sachverhaltselement nicht weiter auseinander gesetzt hat, hat es die ihm obliegende Begründungspflicht verletzt. An diesem Schluss vermag auch der vom BFM in seiner Verfügung vom 10. Februar 2005 erfolgte Hinweis, der Beschwerdeführer hätte sich von seinem Bekannten ("Onkel S.") beim Ersuchen
der Behörden um Schutzgewährung helfen lassen können, nichts zu ändern. Zwar hat dieser "Onkel" dem Beschwerdeführer zur Flucht in die Schweiz verholfen, indes hat er gegenüber dem Beschwerdeführer keinerlei Pflichten, namentlich keine elterlichen oder vormundschaftlichen Sorgepflichten. Inwieweit dieser "Onkel" ungebildet sei und es ihm daher nicht möglich gewesen wäre, sich vor Ort für den Beschwerdeführer einzusetzen, kann daher offen gelassen werden. Schliesslich hat das BFM nicht weiter mitberücksichtigt, dass die in den Beschwerdeakten aufgezeigte Stigmatisierung von russischen Waisenkindern zusätzliche Schwierigkeiten mit sich bringt, das Rechtssystem in Anspruch nehmen zu können.
Weiter nimmt das BFM mit der blossen Feststellung, es sei nicht ersichtlich, inwiefern der russische Staat die Benachteiligungen durch andere Heimkinder anrege, billige oder tatenlos hinnehme, nicht zu den detaillierten Vorwürfen in der Beschwerde und deren Ergänzungen Stellung, wonach die Sanktionen solcher Handlungen in einer Kette von Verantwortlichkeiten (ältere Heimkinder, Erzieher, Heimleitung, Polizei, Staatsministerium) stehen und diese Handlungen aufgrund gegenseitiger Gutheissung beziehungsweise Duldung dem Staat zuzurechnen seien. Als konkrete Hinweise auf eine mögliche Billigung beziehungsweise ein tatenloses Hinnehmen seitens staatlicher Machträger sind das brutale

2006 / 24 - 258

Bestrafen von Beschwerden gegen die Heimleitung oder von Fluchtversuchen, das Verweigern der medizinischen Untersuchung nach Misshandlungen, die Überweisung in eine psychiatrische Anstalt sowie die Vernachlässigung und der Missbrauch in den zuständigen Staatsministerien zu werten. Zudem räumt das BFM in der Vernehmlassung vom 14. April 2005 zwar ein, das Justizsystem sei überlastet und es gebe kaum spezielle Gerichte für Jugendliche. Indes bleibt es bei dieser Feststellung und es werden keine weitergehenden, diesbezüglich wesentlichen Überlegungen angeführt. Ebenso wenig nimmt die Vorinstanz in der Vernehmlassung vom 14. April 2005 Stellung zum Vorwurf, in Südrussland gebe es keine regierungsunabhängige Organisation für Kinderrechte. Schliesslich unterlässt es das BFM gänzlich, zum Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach er von der örtlichen Polizei anlässlich der Festnahme nach der Flucht aus dem Waisenhaus misshandelt worden sei, Stellung zu nehmen.

5.3. Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist festzuhalten, dass das BFM im Asylpunkt die ihm obliegende Begründungpflicht verletzt hat. Das Bundesamt wird sich im Rahmen des wieder aufzunehmenden erstinstanzlichen Asylverfahrens eingehend mit den im Beschwerdeverfahren im Asylpunkt geäusserten Rügen auseinander zu setzen und ausserdem die vorliegende Konstellation eines Waisenkindes aus der russischen Föderation, dem ein adäquater Schutz versagt geblieben sei, unter dem Aspekt des mit Grundsatzurteil vom 8. Juni 2006 i.S. I.I.A. (EMARK 2006 Nr. 18) beschlossenen Wechsels zur Schutztheorie zu prüfen haben.

6.

6.1. Im Weiteren ist festzustellen, dass die Vorinstanz im Vollzugspunkt den Sachverhalt nicht vollständig festgestellt hat. In der Rechtsmitteleingabe bestreitet der Beschwerdeführer die Zumutbarkeit des Vollzugs der Wegweisung. Aufgrund der vorherrschenden Verhältnisse in Russland, insbesondere in den russischen Kinderheimen, sei es mit der KRK nicht vereinbar und ihm deshalb nicht zumutbar, in seinen Heimatstaat zurückzukehren.

6.2.

6.2.1. Die ARK hat sich im Grundsatzentscheid EMARK 1998 Nr. 13 mit der Problematik unbegleiteter Minderjähriger und insoweit mit der Anwendbarkeit von Art. 3
IR 0.107 Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes
KRK Art. 3 - (1) Bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.
und 22
IR 0.107 Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes
KRK Art. 22 - (1) Die Vertragsstaaten treffen geeignete Massnahmen, um sicherzustellen, dass ein Kind, das die Rechtsstellung eines Flüchtlings begehrt oder nach Massgabe der anzuwendenden Regeln und Verfahren des Völkerrechts oder des innerstaatlichen Rechts als Flüchtling angesehen wird, angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung der Rechte erhält, die in diesem Übereinkommen oder in anderen internationalen Übereinkünften über Menschenrechte oder über humanitäre Fragen, denen die genannten Staaten als Vertragsparteien angehören, festgelegt sind, und zwar unabhängig davon, ob es sich in Begleitung seiner Eltern oder einer anderen Person befindet oder nicht.
KRK auseinandergesetzt. Gemäss Art. 3 Abs. 1
IR 0.107 Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes
KRK Art. 3 - (1) Bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.
KRK ist bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, von Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, das "Wohl des Kindes" zu berücksichtigen. Das Wohl des Kindes ist als Rechtsbegriff auch dem schweizerischen Recht bekannt. Das Kindeswohl gemäss Art. 3 Abs. 1
IR 0.107 Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes
KRK Art. 3 - (1) Bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.
KRK ist jedoch umfassender als der entsprechende Begriff des schweizerischen Rechts; es ist nämlich

2006 / 24 - 259

generell bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, zu beachten, ob sie nun von öffentlichen oder privaten Organen getroffen werden (vgl. BBI 1994 V 26 f.; S. Wolf, Die UNO-Konvention über die Rechte des Kindes und ihre Umsetzung in das schweizerische Kindesrecht, in ZBJV 1998 S. 132).

6.2.2. Gemäss Praxis ist der spezifischen Situation unbegleiteter minderjähriger Asylgesuchsteller unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs gemäss Art. 14a Abs. 4
IR 0.107 Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes
KRK Art. 3 - (1) Bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.
ANAG Rechnung zu tragen, mithin im Rahmen der Frage, ob die Rückkehr eine konkrete Gefährdung darstellen würde (vgl. EMARK 1997 Nr. 23, Erw. 5, S. 186 ff.; 1997 Nr. 24, Erw. 7a, S. 193; Urteil der ARK vom 30. Dezember 1996, teilweise publiziert in ASYL 1997/1 S. 21 f.). Für das BFM ergibt sich dabei insbesondere die Pflicht, bei der Prüfung des Wegweisungsvollzugs die spezifisch mit der Minderjährigkeit verbundenen Aspekte genügend abzuklären, wobei es sich bei der Prüfung der Probleme, die hinsichtlich der Übernahme der Verantwortung für den Minderjährigen und dessen Betreuung im Herkunftsland entstehen können, an Art. 22
IR 0.107 Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes
KRK Art. 22 - (1) Die Vertragsstaaten treffen geeignete Massnahmen, um sicherzustellen, dass ein Kind, das die Rechtsstellung eines Flüchtlings begehrt oder nach Massgabe der anzuwendenden Regeln und Verfahren des Völkerrechts oder des innerstaatlichen Rechts als Flüchtling angesehen wird, angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung der Rechte erhält, die in diesem Übereinkommen oder in anderen internationalen Übereinkünften über Menschenrechte oder über humanitäre Fragen, denen die genannten Staaten als Vertragsparteien angehören, festgelegt sind, und zwar unabhängig davon, ob es sich in Begleitung seiner Eltern oder einer anderen Person befindet oder nicht.
KRK zu orientieren hat (vgl. EMARK 1997 Nr. 23, Erw. 5, S. 186 ff.; 1999 Nr. 2, Erw. 6_b-c, S. 12 ff.).

6.2.3. Gemäss Art. 14a Abs. 4
IR 0.107 Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes
KRK Art. 3 - (1) Bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.
ANAG kann der Vollzug insbesondere nicht zumutbar sein, wenn er für den Ausländer eine konkrete Gefährdung darstellt. Aus der Formulierung "insbesondere" geht hervor, dass nicht nur eine konkrete Gefährdung, sondern auch andere Umstände dazu führen können, dass der Vollzug der Wegweisung als nicht zumutbar erscheint. Art. 14a Abs. 4
IR 0.107 Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes
KRK Art. 3 - (1) Bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.
ANAG lässt mithin Raum, bei der Beurteilung der Zumutbarkeit der Wegweisung auch Überlegungen einfliessen zu lassen, die sich unter dem Aspekt des nach Art. 3 Abs. 1
IR 0.107 Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes
KRK Art. 3 - (1) Bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.
KRK zu berücksichtigenden Kindeswohls ergeben können. Bei einer am Prinzip der vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls orientierten völkerrechtskonformen Auslegung von Art. 14a Abs. 4
IR 0.107 Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes
KRK Art. 3 - (1) Bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.
ANAG ist daher bei der Prüfung der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs nicht bloss die Situation, die sich im Falle der Rückkehr ins Heimatland ergeben würde, zu berücksichtigen. Vielmehr sind unter dem Aspekt des Kindeswohls sämtliche Umstände einzubeziehen und zu würdigen, die im Hinblick auf eine Wegweisung wesentlich erscheinen. Mithin ist der Persönlichkeit des Kindes und seinen Lebensumständen umfassend Rechnung zu tragen. Dabei können namentlich folgende Kriterien in dieser gesamtheitlichen Beurteilung von Bedeutung
sein: Alter, Reife, Abhängigkeiten, Art (Nähe, Intensität, Tragfähigkeit) seiner Beziehungen, Eigenschaften seiner Bezugspersonen (insbesondere Unterstützungsbereitschaft und -fähigkeit), Stand und Prognose bezüglich Entwicklung/Ausbildung, Grad der erfolgten Integration bei einem längeren Aufenthalt in der Schweiz usw. Wie in allen Zumutbarkeitsprüfungen sind zudem in einer Analyse der Situation, die sich für die betroffene Person nach Vollzug der Wegweisung im Heimatland er-

2006 / 24 - 260

gäbe, die damit verbundenen humanitären Aspekte dem öffentlichen Interesse der Schweiz am Wegweisungsvollzug gegenüberzustellen (vgl. EMARK 2005 Nr. 6; 1994 Nr. 18).

6.2.4. Für die Asylbehörden ergibt sich daraus die Verpflichtung, von Amtes wegen abzuklären, welche Situation sich für die im Falle einer Heimkehr unbegleitete minderjährige Person im Heimatland realistischerweise ergeben könnte. In der Praxis ist deshalb nicht nur abzuklären, ob das Kind im Falle der Rückkehr in den Heimat- oder Herkunftsstaat im Sinne von Art. 14a Abs. 4
IR 0.107 Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes
KRK Art. 3 - (1) Bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.
ANAG konkret gefährdet wäre, sondern auch, ob das Kind zu seinen Eltern oder anderen Angehörigen zurückgeführt werden kann und ob diese in der Lage sind, seine (dem Alter, der physischen und psychischen Verfassung, der Herkunft etc. entsprechenden) Bedürfnisse abzudecken. Können die Angehörigen nicht ausfindig gemacht werden oder ergibt sich, dass die Rückkehr zu diesen dem Kindeswohl nicht entspricht, ist weiter abzuklären, ob das Kind in der Heimat allenfalls in einer geeigneten Anstalt oder bei einer Drittperson untergebracht werden kann. Dabei genügt es jedoch nicht, bloss festzustellen, dass im Heimat- oder Herkunftsland Eltern oder andere Angehörige leben beziehungsweise es im betreffenden Land Einrichtungen gibt, die sich um alleinstehende Kinder oder Jugendliche kümmern würden. Es ist vielmehr konkret abzuklären, ob das betreffende Kind tatsächlich in
sein familiäres Umfeld zurückgeführt werden kann beziehungsweise ob es - wo das nicht möglich ist oder nicht dem Wohl des Kindes entspricht - anderweitig untergebracht werden kann.

6.2.5. Das BFM hat in der angefochtenen Verfügung den Vollzug der Wegweisung als zumutbar bezeichnet. Der Beschwerdeführer habe sich bereits ordnungsgemäss in staatlichen Strukturen befunden und sei den Behörden bekannt. Es gebe keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass er nach einer Rückkehr nicht wieder mit staatlicher Unterstützung rechnen könne. Ansprechpartner für eine allfällige Rückführung des Beschwerdeführers sei in Moskau das Departement für staatliche Jugendpolitik, Erziehung und sozialen Schutz der Kinder. Die Bundesbehörden könnten erst nach rechtskräftigem Wegweisungsentscheid mit den Heimatbehörden des Beschwerdeführers in Kontakt treten und begleitende Massnahmen für eine Rückführung einleiten. In der Vernehmlassung vom 14. April 2005 wird ausgeführt, die Schweizer Behörden hätten Kontakt zu den russischen Partnern aufgenommen. Diese hätten ihre grundsätzliche Bereitschaft zur Übernahme der Jugendlichen signalisiert. Sie würden wieder in staatlichen Strukturen übernommen. Personenbezogene Vereinbarungen über die Rückführung könnten jedoch erst erfolgen, sobald ein rechtskräftiger Entscheid vorliege. Zahlreiche Institutionen vor Ort seien bereit, die schweizerischen Behörden zu unterstützen.

2006 / 24 - 261

6.2.6. Gemäss seinen eigenen Angaben ist der Beschwerdeführer heute 15 Jahre alt. Seinen Vater kenne er nicht und seine Mutter habe ihn im Alter von etwa vier Jahren verlassen; er wisse nicht, wo sie sich aufhalte. Die Grossmutter habe sich um ihn gekümmert. Im Herbst 2002 sei die Grossmutter gestorben und er ins Kinderheim O. gebracht worden. Vor diesem Hintergrund hat das BFM in der angefochtenen Verfügung sinngemäss festgestellt, in Russland würden geeignete Einrichtungen bestehen, an die sich der minderjährige und alleinstehende Beschwerdeführer wenden könne und die ihn unterstützen würden. Weiter präzisierte es in der Vernehmlassung vom 14. April 2005, dass sich die russischen Behörden grundsätzlich zur Rücknahme von Jugendlichen und zur Unterbringung in einer geeigneten Unterkunft bereit erklärt hätten. Es stellt sich somit die Frage, ob die Vorinstanz mit diesen allgemeinen Feststellungen den Anforderungen im Sinne der vorstehenden Erwägungen Genüge getan hat.
Zunächst ist festzuhalten, dass weder die Identität noch das Alter des Beschwerdeführers durch entsprechende Identitätsdokumente (Pass oder Identitätskarte) belegt sind. Auch ist aufgrund der Akten nicht erwiesen, ob tatsächlich keine weiteren Verwandten des Beschwerdeführers in Russland leben. Gemäss den Angaben des Beschwerdeführers hat er von 2002 bis 2004 im Kinderheim O. im Stavropolgebiet [...] gelebt. Es ist daher davon auszugehen, dass die Verwaltung dieses Heims beziehungsweise die zuständigen örtlichen Behörden in Anbetracht der vom Beschwerdeführer geschilderten Sachlage durchaus in der Lage sind, Angaben zur persönlichen sowie familiären Situation des Beschwerdeführers zu machen. Unter den vorliegenden Umständen ist namentlich anzunehmen, dass ein schriftlicher Nachweis beziehungsweise die Registrierung des Beschwerdeführers als Vollwaise vorliegt. Sollten die Nachforschungen vor Ort die Identität des Beschwerdeführers, seine Minderjährigkeit sowie den Umstand, dass er Waise und ohne familiäres Beziehungsnetz ist, bestätigen, müssten weitere Abklärungen getroffen werden. Namentlich hätte die Vorinstanz unter dem Aspekt des Kindeswohls abzuklären, ob der Beschwerdeführer konkret in einer geeigneten Unterkunft für
Waisenkinder oder bei einer Drittperson in seiner Heimat untergebracht werden kann. Auch hätte die Vorinstanz durch entsprechende Massnahmen sicherzustellen, dass der Beschwerdeführer bei seiner Rückkehr in einer geeigneten und dem Kindeswohl genügenden Institution untergebracht wird und keinen unzulässigen Sanktionen ausgesetzt wäre. In Anbetracht der von Seiten des BFM bisher unwidersprochen gebliebenen Kritik am russischen System für Waisenkinder und an den daran beteiligten Akteuren ist namentlich nicht auszuschliessen, dass der Beschwerdeführer auch bei einer geordneten und begleiteten Rückkehr erneut einer inakzeptablen Behandlung ausgesetzt wäre. Vor diesem Hintergrund würde als Ergebnis der Abklärungen die blosse Feststellung des BFM, der Beschwerdeführer habe sich bereits vor der Ausreise im Kinderheim O. aufgehalten und könne

2006 / 24 - 262

dorthin zurückkehren, in jedem Fall nicht genügen. Eine Rückführung in die gleichen Strukturen unter denselben Bedingungen (d.h. so wie vom Beschwerdeführer im Rahmen des Asylgesuchs glaubhaft geltend gemacht) wäre mit dem Kindeswohl nicht vereinbar.

6.3. In Anbetracht dieser Erwägungen ist festzustellen, dass das BFM die vorstehend dargelegte und ihm bekannte Rechtsprechung nicht berücksichtigt hat und insoweit den Sachverhalt nicht vollständig festgestellt hat.

7. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das BFM einerseits im Asylpunkt seiner Begründungspflicht nicht nachgekommen ist, andererseits bezüglich des Vollzugs der Wegweisung den Sachverhalt unvollständig festgestellt hat. Die Beschwerde ist daher vollumfänglich gutzuheissen, die Verfügung vom 10. Februar 2005 aufzuheben und die Sache zu weiteren Abklärungen und zum neuen Entscheid im Sinne der vorstehenden Erwägungen an das BFM zurückzuweisen.

© 05.12.06


Decision information   •   DEFRITEN
Document : 2006-24-251-262
Date : 06. Juli 2006
Published : 06. Juli 2006
Source : Vorgängerbehörden des BVGer bis 2006
Status : Publiziert als 2006-24-251-262
Subject area : Russland
Subject : Art. 29 Abs. 2 BV; Art. 12, Art. 29, Art. 32 Abs. 1 und Art. 35 Abs. 1 VwVG: Feststellung des Sachverhalts, Anspruch auf...


Legislation register
ANAG: 14a
AsylG: 3
BV: 29
SR 0.107: 3  22
VwVG: 12  29  32  35
BGE-register
112-IA-107 • 126-I-97 • 129-I-232
Keyword index
Sorted by frequency or alphabet
russia • best interest of the child • lower instance • statement of affairs • uncle • day • night • question • flight • orphan • sanction • letter of complaint • bee • custom • swiss law • mother • father • department • condition • life
... Show all
EMARK
1997/23 • 1997/23 S.2 • 1998/13 S.3 • 2004/38 • 2005/6 • 2006/18
ASYL
1/97 S.21 S.21
ZBJV
1998 S.132