Language of document : ECLI:EU:C:2013:232

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PAOLO MENGOZZI

vom 11. April 2013(1)

Rechtssache C‑84/12

Rahmanian Koushkaki

gegen

Bundesrepublik Deutschland

(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Berlin [Deutschland])

„Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Verfahren zur Visaerteilung – Anspruch eines Visumantragstellers, der die Einreisevoraussetzungen erfüllt, auf Erteilung eines Visums – Bewertung des Risikos der rechtswidrigen Einwanderung – Wertungsspielraum der betroffenen Mitgliedstaaten“





1.        Im Jahr 2011 wurden von den Mitgliedstaaten, die sogenannte „Schengen-Visa“ vergeben, zwölf Millionen Visa für kurzfristige Aufenthalte erteilt(2). Das zeigt, welche Bedeutung der Regelung, die den rechtlichen Rahmen für die Erteilung von Schengen-Visa bildet, für die Europäische Union im Allgemeinen und den Schengen-Raum im Besonderen zukommt. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen eröffnet dem Gerichtshof nunmehr eine Möglichkeit, diese Regelung, wie sie durch die Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex)(3) vorgezeichnet wird, genau festzulegen.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

1.      Die Verordnung (EG) Nr. 539/2001

2.        Nach Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 des Rates vom 15. März 2001 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind(4), „[müssen d]ie Staatsangehörigen der Drittländer, die in der Liste in Anhang I aufgeführt sind, … beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten im Besitz eines Visums sein“.

3.        Laut der Liste des Anhangs I der Verordnung Nr. 539/2001 gehört die Islamische Republik Iran zu den Drittländern, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen eines Mitgliedstaats im Besitz eines Visums sein müssen.

2.      Der Schengener Grenzkodex

4.        Die Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex)(5) legt Regeln für die Grenzkontrollen in Bezug auf Personen fest, die die Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Union überschreiten.

5.        In Art. 5 des Schengener Grenzkodex, der die Einreisevoraussetzungen für Drittstaatsangehörige regelt, heißt es:

„(1)      Für einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten je Sechsmonatszeitraum gelten für einen Drittstaatsangehörigen folgende Einreisevoraussetzungen:

a)      Er muss im Besitz eines oder mehrerer gültiger Reisedokumente sein, die ihn zum Überschreiten der Grenze berechtigen.

c)      Er muss den Zweck und die Umstände des beabsichtigten Aufenthalts belegen, und er muss über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts sowohl für die Dauer des beabsichtigten Aufenthalts als auch für die Rückreise in den Herkunftsstaat oder für die Durchreise in einen Drittstaat, in dem seine Zulassung gewährleistet ist, verfügen oder in der Lage sein, diese Mittel rechtmäßig zu erwerben.

d)      Er darf nicht im [Schengener Informationssystem (SIS)] zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben sein.

e)      Er darf keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats darstellen und darf insbesondere nicht in den nationalen Datenbanken der Mitgliedstaaten zur Einreiseverweigerung aus denselben Gründen ausgeschrieben worden sein.

…“

3.      Der Visakodex

6.        Dem sechsten Erwägungsgrund des Visakodex zufolge „[sollte d]ie Bearbeitung der Visumanträge … auf professionelle und respektvolle Weise erfolgen und in einem angemessenen Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen“.

7.        Laut dem 18. Erwägungsgrund des Visakodex ist „[d]ie Schengen-Zusammenarbeit vor Ort … für die einheitliche Anwendung der gemeinsamen Visumpolitik und eine angemessene Bewertung der Migrations- und/oder Sicherheitsrisiken von entscheidender Bedeutung. Aufgrund der unterschiedlichen örtlichen Gegebenheiten sollte die praktische Anwendung bestimmter Rechtsvorschriften von den diplomatischen Missionen und konsularischen Vertretungen der Mitgliedstaaten an den einzelnen Standorten gemeinsam bewertet werden, damit für eine einheitliche Anwendung der Rechtsvorschriften gesorgt wird, um ‚Visa-Shopping‘ und eine Ungleichbehandlung der Visumantragsteller zu vermeiden“.

8.        Im 29. Erwägungsgrund des Visakodex heißt es, dass „[d]iese Verordnung … im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen [steht], die insbesondere mit der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten des Europarates und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden“.

9.        Art. 1 Abs. 1 und 2 des Visakodex lautet:

„(1)      Mit dieser Verordnung werden die Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet von höchstens drei Monaten je Sechsmonatszeitraum festgelegt.

(2) Die Bestimmungen dieser Verordnung gelten für Drittstaatsangehörige, die nach der Verordnung [Nr. 539/2001] beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten im Besitz eines Visums sein müssen…, unbeschadet

a)      des Rechts auf Freizügigkeit, das Drittstaatsangehörige genießen, die Familienangehörige eines Unionsbürgers sind,

b)      der gleichwertigen Rechte von Drittstaatsangehörigen und ihren Familienangehörigen, die aufgrund von Übereinkommen zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und den betreffenden Drittstaaten andererseits Freizügigkeitsrechte genießen, die denen der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen gleichwertig sind.“

10.      Art. 21 des Visakodex betrifft die Prüfung der Einreisevoraussetzungen und die Risikobewertung. Dort heißt es:

„(1) Bei der Prüfung eines Antrags auf ein einheitliches Visum ist festzustellen, ob der Antragsteller die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 Absatz 1 Buchstaben a, c, d und e des Schengener Grenzkodexes erfüllt, und ist insbesondere zu beurteilen, ob bei ihm das Risiko der rechtswidrigen Einwanderung besteht, ob er eine Gefahr für die Sicherheit der Mitgliedstaaten darstellt und ob er beabsichtigt, vor Ablauf der Gültigkeitsdauer des beantragten Visums das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu verlassen.

(3) Bei der Kontrolle, ob der Antragsteller die Einreisevoraussetzungen erfüllt, prüft das Konsulat,

a)      dass das vorgelegte Reisedokument nicht falsch, verfälscht oder gefälscht ist;

b)      ob die Angaben des Antragstellers zum Zweck und zu den Bedingungen des beabsichtigten Aufenthalts begründet sind und ob er über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts sowohl für die Dauer des beabsichtigten Aufenthalts als auch für die Rückreise in den Herkunfts- oder Wohnsitzstaat oder für die Durchreise in einen Drittstaat, in dem seine Zulassung gewährleistet ist, verfügt oder in der Lage ist, diese Mittel rechtmäßig zu erwerben;

c)      ob der Antragsteller im [SIS] zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben ist;

d)      ob der Antragsteller keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit oder die öffentliche Gesundheit im Sinne von Artikel 2 Nummer 19 des Schengener Grenzkodexes oder für die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats darstellt und ob er insbesondere nicht in den nationalen Datenbanken der Mitgliedstaaten zur Einreiseverweigerung aus denselben Gründen ausgeschrieben worden ist;

e)      ob der Antragsteller, soweit erforderlich, im Besitz einer angemessenen und gültigen Reisekrankenversicherung ist.

…“

11.      Art. 32 des Visakodex legt fest, unter welchen Bedingungen ein Visum zu verweigern ist. Er bestimmt:

„(1)      Unbeschadet des Artikels 25 Absatz 1 wird das Visum verweigert,

a)      wenn der Antragsteller:

i)      ein Reisedokument vorlegt, das falsch, verfälscht oder gefälscht ist;

ii)      den Zweck und die Bedingungen des geplanten Aufenthalts nicht begründet;

iii)      nicht den Nachweis erbringt, dass er über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts sowohl für die Dauer des geplanten Aufenthalts als auch für die Rückreise in den Herkunfts- oder Wohnsitzstaat … verfügt …;

iv)      sich im laufenden Sechsmonatszeitraum bereits drei Monate im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten … aufgehalten hat;

v)      im SIS zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben ist;

vi)      als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit oder die öffentliche Gesundheit im Sinne von Artikel 2 Absatz 19 des Schengener Grenzkodexes oder für die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats eingestuft wird, insbesondere wenn er in den nationalen Datenbanken der Mitgliedstaaten zur Einreiseverweigerung aus denselben Gründen ausgeschrieben worden ist; oder

vii)      nicht nachweist, dass er, soweit erforderlich, über eine angemessene und gültige Reisekrankenversicherung verfügt;

oder

b)      wenn begründete Zweifel an der Echtheit der von dem Antragsteller vorgelegten Belege oder am Wahrheitsgehalt ihres Inhalts, an der Glaubwürdigkeit seiner Aussagen oder der von ihm bekundeten Absicht bestehen, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten Visums zu verlassen.

(2)      Eine Entscheidung über die Verweigerung und die entsprechende Begründung werden dem Antragsteller unter Verwendung des Standardformulars in Anhang VI mitgeteilt.

(3)      Antragstellern, deren Visumantrag abgelehnt wurde, steht ein Rechtsmittel zu. Die Rechtsmittel sind gegen den Mitgliedstaat, der endgültig über den Visumantrag entschieden hat, und in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht dieses Mitgliedstaats zu führen. Die Mitgliedstaaten informieren die Antragsteller über das im Falle der Einlegung eines Rechtsmittels zu befolgende Verfahren nach Anhang VI.

…“

B –    Deutsches Recht

12.      § 6 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz)(6) bestimmt:

„(1)      Einem Ausländer können nach Maßgabe [des Visakodex] folgende Visa erteilt werden:

1.      ein Visum für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Schengen-Staaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet von bis zu drei Monaten innerhalb einer Frist von sechs Monaten von dem Tag der ersten Einreise an (Schengen-Visum),

(2)      Schengen-Visa können nach Maßgabe [des Visakodex] bis zu einer Gesamtaufenthaltsdauer von drei Monaten innerhalb einer Frist von sechs Monaten von dem Tag der ersten Einreise an verlängert werden. Für weitere drei Monate innerhalb der betreffenden Sechsmonatsfrist kann ein Schengen-Visum aus den in Artikel 33 [des Visakodex] genannten Gründen, zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder aus völkerrechtlichen Gründen als nationales Visum verlängert werden.

…“

II – Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13.      Herr Koushkaki, der Kläger des Ausgangsverfahrens, ist iranischer Staatsangehöriger. Am 7. November 2010 beantragte er bei der deutschen Botschaft in Teheran (Iran) die Erteilung eines Schengen-Visums. Bei dieser Gelegenheit gab er an, verheiratet zu sein, bezeichnete seine berufliche Tätigkeit mit „free job“, bemaß seine geplante Aufenthaltsdauer mit 62 Tagen und benannte seinen Einladenden, der eine Verpflichtungserklärung ausgestellt hatte. Bei der Antragstellung war Herr Koushkaki im Besitz eines gültigen Reisedokuments und einer Versicherungsbescheinigung für seinen Aufenthalt.

14.      Die deutschen Behörden lehnten den Antrag mit der Begründung ab, der Kläger habe nicht den Nachweis erbracht, dass er über ausreichende Mittel verfüge, um seinen Lebensunterhalt für die Dauer seines Aufenthalts zu bestreiten und seine Rückkehr in den Iran zu gewährleisten.

15.      Der Kläger des Ausgangsverfahrens remonstrierte gegen diese Entscheidung und berief sich dabei u. a. darauf, dass er seinen Bruder besuchen wolle, der in Deutschland asylberechtigt sei und daher nicht in den Iran reisen könne; daraufhin wurde diese Entscheidung durch eine neue, auf den 5. Januar 2011 datierte Ablehnungsentscheidung ersetzt, die nunmehr damit begründet wurde, dass ein überwiegender Zweifel an der Rückkehrbereitschaft des Antragstellers bestehe. Trotz der Erklärungen des Antragstellers und der vorgelegten Belege habe die von der deutschen Botschaft durchgeführte Prüfung keine ausreichende wirtschaftliche Verwurzelung, die die Absicht zur Rückkehr in den Iran sicherstellen könne, ergeben.

16.      Am 8. Februar 2011 erhob Herr Koushkaki, der die Rechtmäßigkeit der zweiten Ablehnungsentscheidung der deutschen Botschaft in Teheran in Abrede stellt, beim vorlegenden Gericht Klage auf Erteilung des von ihm beantragten Visums.

17.      Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts erfüllt der Kläger des Ausgangsverfahrens alle Einreisevoraussetzungen nach Art. 21 Abs. 1 des Visakodex, der auf Art. 5 Abs. 1 Buchst. a, c, d und e des Schengener Grenzkodex verweise: Der Kläger verfüge über ein gültiges Reisedokument, habe den Zweck und die Umstände seines Aufenthalts in Deutschland belegt und sei nicht im SIS ausgeschrieben. Für das vorlegende Gericht ist zudem weder ersichtlich, dass es dem Antragsteller an den notwendigen Mitteln für seine Rückreise fehlt, noch, dass er eine Gefahr für die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats darstellt.

18.      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist allein zweifelhaft, ob der Kläger wegen des starken Migrationsdrucks im Iran, den die Bundesrepublik Deutschland zu ihrer Verteidigung anführt, und wegen des in seiner Person bestehenden Risikos einer rechtswidrigen Einwanderung eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt. Aus diesem Grund stellt sich das vorlegende Gericht, das sich als befugt ansieht, über den Visumantrag des Klägers zu entscheiden, falls es zu dem Ergebnis gelangt, dass die Ablehnungsentscheidung der deutschen Botschaft in Teheran aufzuheben ist, die Frage nach dem Grad der Überzeugung, der bei dem Gericht entstehen muss, um zu entscheiden, ob der Visumantragsteller tatsächlich vor Ablauf der Gültigkeit des Visums das deutsche Hoheitsgebiet verlassen wird.

19.      Außerdem stellt sich das vorlegende Gericht die Frage nach den Rechtsfolgen, die sich ergeben, wenn der Antragsteller alle Einreisevoraussetzungen gemäß Art. 21 des Visakodex erfüllt und ihm keiner der in Art. 32 Abs. 1 des Visakodex aufgeführten Visaverweigerungsgründe entgegengehalten werden kann. Es möchte wissen, ob dem Kläger in einem solchen Fall ein Anspruch auf Erteilung eines Schengen-Visums zuzuerkennen ist.

20.      Da das Verwaltungsgericht Berlin (Deutschland) Zweifel hinsichtlich der Auslegung des Unionsrechts hegt, hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof – mit einer am 17. Februar 2012 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangenen Vorlageentscheidung – gemäß Art. 267 AEUV folgende drei Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Setzt die Verpflichtung der Beklagten durch das Gericht, dem Kläger ein Schengen-Visum zu erteilen, voraus, dass das Gericht zu seiner Überzeugung nach Art. 21 Abs. 1 Visakodex feststellt, dass der Kläger beabsichtigt, vor Ablauf der Gültigkeitsdauer des beantragten Visums das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu verlassen, oder genügt es, dass das Gericht nach Prüfung von Art. 32 Abs. 1 Buchst. b Visakodex keine durch besondere Umstände begründeten Zweifel an der vom Kläger bekundeten Absicht hat, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten Visums zu verlassen?

2.      Begründet der Visakodex einen gebundenen Anspruch auf Erteilung eines Schengen-Visums, wenn die Einreisevoraussetzungen insbesondere des Art. 21 Abs. 1 Visakodex erfüllt sind und kein Grund für die Verweigerung des Visums nach Art. 32 Abs. 1 Visakodex gegeben ist?

3.      Steht der Visakodex einer nationalen Regelung entgegen, wonach einem Ausländer nach Maßgabe der Verordnung Nr. 810/2009 ein Visum für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Schengen-Staaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet von bis zu drei Monaten innerhalb einer Frist von sechs Monaten von dem Tag der ersten Einreise an (Schengen-Visum) erteilt werden kann?

III – Das Verfahren vor dem Gerichtshof

21.      Die deutsche, die belgische, die tschechische, die dänische, die estnische und die griechische Regierung, die Schweizer Eidgenossenschaft(7) sowie die Europäische Kommission haben beim Gerichtshof schriftliche Erklärungen eingereicht.

22.      In der Sitzung vom 29. Januar 2013 haben Herr Koushkaki, die deutsche, die belgische, die dänische und die polnische Regierung sowie die Kommission mündliche Erklärungen abgegeben.

IV – Rechtliche Würdigung

A –    Vorbemerkungen

23.      Vorab sind in zweifacher Hinsicht Bemerkungen erforderlich: Zunächst bedarf das Postulat, von dem das vorlegende Gericht ausgeht, einer Berichtigung, und des Weiteren ist es erforderlich, die dem Gerichtshof gestellten Fragen umzuformulieren und neu zu ordnen.

24.      So nimmt das vorlegende Gericht zum einen an, dass allein streitig sei, ob beim Kläger das Risiko der rechtswidrigen Einwanderung bestehe, das eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 21 Abs. 3 Buchst. d und Art. 32 Abs. 1 Buchst. a Ziff. vi des Visakodex darstellen könne. Anders ausgedrückt will das vorlegende Gericht im Visaerteilungsverfahren nach dem Visakodex allein das eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellende Risiko der rechtswidrigen Einwanderung berücksichtigt wissen.

25.      Aus dem Wortlaut von Art. 21 Abs. 1 des Visakodex geht jedoch klar hervor, dass es bei der grundsätzlich von den Konsularbehörden(8) durchgeführten Prüfung zum einen darum geht, ob der Antragsteller die Einreisevoraussetzungen erfüllt, wozu das Nichtvorhandensein einer Gefahr für die öffentliche Ordnung gehört, und zum anderen um die Beurteilung des Risikos der rechtswidrigen Einwanderung, der Gefahr für die innere Sicherheit der Mitgliedstaaten sowie der Absicht des Antragstellers, vor Ablauf der Gültigkeitsdauer des beantragten Visums das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu verlassen. Bei dem Risiko der rechtswidrigen Einwanderung sowie dem Zweifel an der Absicht zum Verlassen des Hoheitsgebiets handelt es sich – worauf einige der am vorliegenden Vorabentscheidungsverfahren Beteiligten hingewiesen haben – um zwei gegenüber dem Kriterium der Gefahr für die öffentliche Ordnung eigenständige Kriterien, die bei der Prüfung durch die Konsularbehörden beachtet werden müssen.

26.      Außerdem geht die erste Vorlagefrage eindeutig davon aus, dass das vorlegende Gericht dazu berechtigt sei, die von der deutschen Botschaft in Teheran vorgenommene Beurteilung des Falles des Klägers durch seine eigene Beurteilung zu ersetzen. In ihren Erklärungen hat die deutsche Regierung darauf hingewiesen, dass innerstaatlich gerade die Frage umstritten sei, ob die deutschen Gerichte befugt seien, im Rahmen einer Klage wie der des Ausgangsverfahrens eine unbeschränkte Nachprüfung vorzunehmen und die Konsularbehörden zur Erteilung des Visums zu verpflichten.

27.      Es ist nicht Sache des Gerichtshofs, sich an dieser Debatte zu beteiligen, da die Ausgestaltung der gerichtlichen Rechtsbehelfe gegen eine Entscheidung, mit der die Erteilung eines Schengen-Visums verweigert wird, in die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten fällt. Daher ist die erste Frage umzuformulieren und davon auszugehen, dass mit ihr festgestellt werden soll, ob die Behörden, die für die Beurteilung zuständig sind, ob die Absicht zum Verlassen des Hoheitsgebiets besteht, im Rahmen dieser Beurteilung die Rückkehrabsicht des Antragstellers tatsächlich feststellen müssen oder ob es ausreichen kann, dass kein vernünftiger Zweifel am Bestehen dieser Absicht vorliegt, damit die Einreisevoraussetzung, die die Absicht verlangt, vor Ablauf der Gültigkeitsdauer des beantragten Visums das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu verlassen, als erfüllt anzusehen ist. Mit der ersten Vorlagefrage soll also erreicht werden, dass der Gerichtshof die Voraussetzungen für die praktische Anwendung dieses Kriteriums, das auf die Absicht des Antragstellers, in sein Herkunftsland zurückzukehren, abstellt, genau festlegt.

28.      In der zweiten und der dritten Frage geht es darum, ob die mit der Prüfung des Antrags betrauten Behörden generell, wenn ein Antragsteller alle Einreisevoraussetzungen im Sinne von Art. 21 des Visakodex erfüllt und ihm keiner der in Art. 32 Abs. 1 des Visakodex aufgeführten Visaverweigerungsgründe entgegengehalten werden kann, zur Erteilung des Visums gehalten sind – ob sie es erteilen müssen –, obwohl die geltenden nationalen Rechtsvorschriften lediglich vorsehen, dass die betreffenden Behörden das Visum erteilen „können“. Diese beiden Fragen werden daher gemeinsam behandelt.

B –    Zur ersten Frage in ihrer umformulierten Fassung

29.      Der Visakodex verfolgt ausdrücklich das Ziel, die Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa mit einer Geltungsdauer von höchstens drei Monaten festzulegen(9). Art. 14 des Visakodex erlegt außerdem die Beweislast dafür, dass die Einreisevoraussetzungen erfüllt sind, eindeutig dem Antragsteller auf, indem er die Unterlagen aufführt, die dieser bei der Beantragung vorlegen muss. Die Vorlage von „Angaben, anhand deren seine Absicht, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf der Gültigkeitsdauer des beantragten Visums zu verlassen, beurteilt werden kann“(10), obliegt somit dem Antragsteller.

30.      Nach der Stellung des Visumantrags müssen die mit seiner Bearbeitung betrauten Behörden gemäß Art. 21 Abs. 1 des Visakodex nicht nur die Erfüllung der in Art. 5 Abs. 1 Buchst. a, c, d und e des Schengener Grenzkodex genannten Einreisevoraussetzungen, sondern auch die Absicht des Antragstellers prüfen, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf der Gültigkeitsdauer des beantragten Visums zu verlassen. Art. 21 des Visakodex enthält keine weiter gehenden Leitlinien, an denen sich die Behörden bei der Beurteilung der genannten Absicht zur Rückkehr in das Herkunftsland orientieren müssen. Lediglich Anhang II des Visakodex enthält eine nicht erschöpfende Liste von Belegen, deren Vorlage durch den Antragsteller sinnvoll sein kann und anhand deren sich dessen Absicht zum Verlassen des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten beurteilen lässt(11).

31.      Der die Prüfung der Einreisevoraussetzungen und die Risikobewertung betreffende Art. 21 Abs. 1 des Visakodex muss notwendigerweise zusammen mit dem die Gründe für die Ablehnung eines Visumantrags betreffenden Art. 32 des Visakodex gelesen werden. So wird laut Art. 32 Abs. 1 Buchst. b des Visakodex das Visum verweigert, „wenn begründete Zweifel an der … Absicht bestehen, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten Visums zu verlassen“(12).

32.      Aus dem Wortlaut von Art. 32 Abs. 1 Buchst. b des Visakodex geht somit hervor, dass die für die Bearbeitung eines Visumantrags zuständigen Behörden, wenn sie den Antrag wegen des Fehlens der Absicht zum Verlassen des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten ablehnen wollen, einen begründeten Zweifel an dem tatsächlichen Rückkehrwillen des Antragstellers haben müssen. Ein begründeter Zweifel kommt dem Antragsteller daher nicht zugute. Ein einfacher Zweifel reicht hingegen nicht(13), der Zweifel muss begründet sein.

33.      Die Definition des Begriffs des begründeten Zweifels bereitet sicherlich besondere Schwierigkeiten. Trotzdem lässt sich bereits sagen, dass er in der Mitte zwischen der Überzeugung, der Gewissheit, auf der einen Seite und dem leichten oder bloß hypothetischen Zweifel auf der anderen Seite angesiedelt ist.

34.      Im Visabereich hat eine Reihe von Umständen den Gesetzgeber davon abgehalten, die Kriterien für eine Ablehnungsentscheidung inhaltlich genauer zu formulieren und die möglichen Anhaltspunkte für die Feststellung der Absicht zum Verlassen des Hoheitsgebiets weiter gehend festzulegen. So hat die Kommission schon bei der Vorstellung des Entwurfs eines Vorschlags für eine Verordnung über einen Visakodex der Gemeinschaft darauf hingewiesen, dass ihr, „[a]uch wenn die grundlegenden Rechtsvorschriften in den Mitgliedstaaten unmittelbar gelten, … bewusst [ist], dass die Vielfalt der Einzelfälle und örtlichen Bedingungen die Aufstellung detaillierter Vorschriften, die unter allen Umständen gelten und alle Situationen abdecken, stark erschwert“(14). Dennoch kann es sinnvoll sein, dem vorlegenden Gericht im Rahmen des Möglichen Hinweise zu geben, inwieweit die mit der Bearbeitung eines Visumantrags betrauten Behörden davon ausgehen können, dass ein begründeter Zweifel an der Absicht zum Verlassen des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten besteht.

35.      Zu diesem Zweck ist auf das Handbuch für die Bearbeitung von Visumanträgen und die Änderung von bereits erteilten Visa(15) zu verweisen, das von der Kommission erstellt worden ist und Weisungen zur praktischen Anwendung der Bestimmungen des Visakodex(16) enthält, welche, obgleich nicht verbindlich, so doch erhellend sind. In Abschnitt 7.12 dieses Handbuchs werden den mit der Bearbeitung eines Visumantrags betrauten Behörden eine Reihe von Anhaltspunkten an die Hand gegeben, die bei der Beurteilung der Frage, ob beim Antragsteller die Absicht zum Verlassen des Hoheitsgebiets vorhanden ist, berücksichtigt werden können. Daraus ergibt sich, dass zwei Arten von Kriterien einer Prüfung bedürfen, nämlich Kriterien in Bezug auf die „objektive“ Situation des Herkunftsstaats des Antragstellers und Kriterien, die ich als eher „subjektiv“ einstufe, da sie die individuelle Situation des Antragstellers kennzeichnen. Hinsichtlich der letztgenannten Kriterien wird ausdrücklich anerkannt, dass „[j]e nach Wohnsitzstaat des Antragstellers … andere Faktoren eine Rolle spielen [können]“(17), was den entscheidenden Behörden einen weiten Wertungsspielraum lässt. Jedenfalls kann ein begründeter Zweifel aber nur entstehen, nachdem „alle Aspekte einbezogen“ worden sind, „[u]m eine objektive Beurteilung zu gewährleisten“(18), und „jeder Antrag [ist] nach den Umständen des Einzelfalls … zu prüfen“(19). Ein begründeter Zweifel darf sich somit nicht auf eine bloße Vermutung oder die Prüfung allein der sogenannten „objektiven“ Kriterien in Bezug auf die Situation im Herkunftsland stützen.

36.      Aus all diesen Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die erste Vorlagefrage in der von mir umformulierten Fassung zu antworten, dass nach Art. 21 Abs. 1 des Visakodex in Verbindung mit dessen Art. 32 Abs. 1 Buchst. b bei den mit der Bearbeitung eines Visumantrags betrauten Behörden, wenn sie den Antrag wegen Fehlens der Rückkehrabsicht des Antragstellers zurückweisen wollen, ein begründeter Zweifel hinsichtlich des wirklichen Rückkehrwillens des Antragstellers entstanden sein muss, nachdem sie alle für eine objektive Beurteilung erforderlichen Anhaltspunkte berücksichtigt haben, zu denen sowohl Anhaltspunkte hinsichtlich der besonderen Situation des Herkunftslands gehören als auch Anhaltspunkte in Bezug auf die individuelle Situation des Antragstellers und die von diesem vorgelegten Belege.

C –    Zur zweiten und zur dritten Frage

37.      Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Visakodex eine Art subjektives Recht zugunsten von Drittstaatsangehörigen begründet, das die mit der Bearbeitung eines Antrags betrauten Behörden verpflichtet, dem Antragsteller ein Kurzzeitvisum auszustellen, sobald dieser alle Einreisevoraussetzungen gemäß Art. 21 des Visakodex erfüllt und ihm keiner der in Art. 32 Abs. 1 des Visakodex aufgeführten Visaverweigerungsgründe entgegengehalten werden kann. Infolgedessen fragt sich das vorlegende Gericht auch, ob nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die bei Erfüllung der von mir beschriebenen Voraussetzungen lediglich die Möglichkeit der Erteilung eines Visums vorsehen, mit dem Visakodex vereinbar sind.

38.      Die deutsche Regierung hat in der mündlichen Verhandlung klargestellt, dass die Weigerung, Herrn Koushkaki ein Visum zu erteilen, auf keinen anderen als die in Art. 32 Abs. 1 des Visakodex vorgesehenen Gründe gestützt gewesen sei, und bekräftigt, es seien die Zweifel an der Absicht des Klägers, Deutschland vor Ablauf der Gültigkeitsdauer des beantragten Visums zu verlassen, gewesen, die die deutschen Konsularbehörden veranlasst hätten, eine ablehnende Entscheidung zu erlassen. Das vorlegende Gericht wiederum ist der Ansicht, dass Herr Koushkaki die Einreisevoraussetzungen des Art. 21 des Visakodex erfülle und ihm keiner der in Art. 32 Abs. 1 des Visakodex aufgeführten Visaverweigerungsgründe entgegengehalten werden könne. Ich habe jedoch weiter oben ausgeführt(20), dass die vom vorlegenden Gericht vorgenommene Bewertung nicht frei von Fehlern ist. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass das vorlegende Gericht nach einer Korrektur seines Auslegungsfehlers zu dem Ergebnis gelangt, dass die deutschen Konsularbehörden gegenüber dem Kläger eine Ablehnungsentscheidung hätten erlassen dürfen, weil diesem die Absicht zum Verlassen des Hoheitsgebiets gefehlt habe. Es ist daher darauf hinzuweisen, dass eine Beantwortung der zweiten und der dritten Frage somit nur für den Fall sinnvoll bleibt, dass das vorlegende Gericht, nachdem es festgestellt hat, dass das Fehlen der Absicht des Antragstellers zum Verlassen des Hoheitsgebiets im Sinne des Visakodex tatsächlich einen im Verhältnis zur Gefahr für die öffentliche Ordnung eigenständigen Ablehnungsgrund darstellt, an der Auffassung festhält, dass der Kläger die Einreisevoraussetzungen des Art. 21 des Visakodex erfülle und ihm keiner der in Art. 32 Abs. 1 des Visakodex aufgeführten Visaverweigerungsgründe entgegengehalten werden könne.

39.      Mit diesen Fragen verbindet sich implizit die Frage, ob der Visakodex eine vollständige Harmonisierung im Bereich der Erteilung von Kurzzeitvisa an Drittstaatsangehörige vornimmt, was zum einen zur Folge hätte, dass ein Mitgliedstaat den in Art. 32 Abs. 1 des Visakodex bereits vorgesehenen Ablehnungsgründen einseitig keinen weiteren Ablehnungsgrund hinzufügen dürfte, und zum anderen, dass die Mitgliedstaaten bei Erfüllung der Voraussetzungen von Art. 21 und Art. 32 Abs. 1 des Visakodex vor allem verpflichtet wären, dem Antragsteller ein Kurzzeitvisum zu erteilen, auf das dieser einen Anspruch hätte, den er unmittelbar gegenüber dem Mitgliedstaat, bei dem er seinen Antrag gestellt hat, geltend machen könnte.

40.      Um hierauf zu antworten, werde ich zunächst den Wortlaut des Visakodex analysieren, bei dem ich hervorheben möchte, dass er sich darauf beschränkt, das Verhalten in den Blick zu nehmen, das jeder Mitgliedstaat gegenüber dem Antragsteller an den Tag legen muss. Ich werde demzufolge das System untersuchen, das dieser insoweit schafft. Sodann werde ich, um meine Beurteilung zu vervollständigen, überprüfen, ob die Ergebnisse meiner vorgenannten Analysen mit den vom Visakodex verfolgten Zielen im Einklang stehen. Schließlich werde ich einige abschließende Bemerkungen zu dessen Mehrwert machen.

1.      Analyse des Wortlauts

41.      Erstens fällt auf, dass der Visakodex keine Vorschrift enthält, die irgendeine Verpflichtung für die Mitgliedstaaten festschreibt, Drittstaatsangehörigen, die ein Kurzzeitvisum beantragen und die Voraussetzungen nach Art. 21 und Art. 32 Abs. 1 des Visakodex erfüllen, ein solches Visum zu erteilen. Zwar ist Kapitel IV des Visakodex tatsächlich mit „Visumerteilung“ überschrieben; die in diesem Kapitel enthaltenen Vorschriften behandeln jedoch in keiner Weise die Frage, ob ein Anspruch auf Erteilung besteht, sondern betreffen die Bestimmung der Gültigkeitsdauer des Visums und der Aufenthaltsdauer(21), die Voraussetzungen, unter denen die Mitgliedstaaten ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit erteilen können(22), die Voraussetzungen für die Gültigkeit und die Geltungsdauer eines Visums für den Flughafentransit(23) sowie Details zur Visummarke(24). In Kapitel IV des Visakodex findet sich im Übrigen der den Rechten aufgrund eines erteilten Visums gewidmete Art. 30, der in keiner Weise ein subjektives Recht festschreibt, sondern klarstellt, dass „[d]er bloße Besitz eines einheitlichen Visums oder eines Visums mit räumlich beschränkter Gültigkeit … nicht automatisch zur Einreise [berechtigt]“.

42.      Zweitens spricht der Visakodex nirgendwo davon, dass er eine vollständige Harmonisierung vornimmt. So ist seinem dritten Erwägungsgrund zufolge „die Aufstellung eines ‚gemeinsamen Bestands‘ an Rechtsvorschriften, insbesondere durch Konsolidierung und Weiterentwicklung des bestehenden Besitzstands auf diesem Gebiet (der entsprechenden Bestimmungen des Schengener Durchführungsübereinkommens vom 14. Juni 1985 [ABl. 2000, L 239, S. 19] und der Gemeinsamen Konsularischen Instruktion …, eine wesentliche Komponente der Weiterentwicklung der gemeinsamen Visumpolitik ‚als Teil eines vielschichtigen Systems, mit dem durch die weitere Harmonisierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften und der Bearbeitungsgepflogenheiten bei den örtlichen konsularischen Dienststellen legale Reisen erleichtert und die illegale Einwanderung bekämpft werden sollen‘“(25). Darüber hinaus wird die einheitliche Anwendung des Visakodex als ein zu erreichendes Ziel dargestellt(26) und nicht als ein tatsächlicher Zustand, der sich bereits allein aus dem vom Visakodex geschaffenen System ergeben würde.

43.      Drittens sind die in Art. 32 Abs. 1 genannten Ablehnungsgründe besonders weit gefasst, und zwar gerade wegen der „unterschiedlichen örtlichen Gegebenheiten“(27), so dass der Unionsgesetzgeber ganz bewusst die konkrete Anwendung bestimmter Rechtsvorschriften der Bewertung durch die Konsularbehörden an den einzelnen Standorten überlassen hat, „damit für eine einheitliche Anwendung der Rechtsvorschriften gesorgt wird, um ‚Visa-Shopping‘ und eine Ungleichbehandlung der Visumantragsteller zu vermeiden“(28). Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier ein merkwürdiger Widerspruch besteht zwischen der Anerkennung sehr unterschiedlicher örtlicher Gegebenheiten und dem ausdrücklichen Bestreben einer harmonisierten Anwendung, die letztlich der Bewertung durch die Konsularbehörden überlassen wird.

44.      Was somit den reinen Wortlaut des Visakodex angeht, gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Unionsgesetzgeber, als er den Visakodex verfasste, die Absicht hatte, zugunsten von Drittstaatsangehörigen, die ein Kurzzeitvisum beantragen, ein subjektives Recht auf Erteilung eines solchen Visums festzuschreiben. In einem so sensiblen Bereich wie dem vorliegenden kann man sich nicht darauf beschränken, die These aufzustellen, der Unionsgesetzgeber habe sich mit einer lediglich impliziten Festschreibung begnügt.

45.      Es bleibt noch zu prüfen, ob dieses Ergebnis durch eine Analyse des Visakodex hinsichtlich seiner Systematik bestätigt wird.

2.      Analyse hinsichtlich der Systematik

46.      Der Erlass des Visakodex erfolgte im Zusammenhang mit dem fortschreitenden Ausbau einer auf der Ebene der Union festgelegten Visapolitik; initiiert wurde dieser Ausbau von einigen Mitgliedstaaten und zwischen Mitgliedstaaten im Rahmen des Schengener Übereinkommens, des Übereinkommens zur Durchführung dieses Übereinkommens und der Gemeinsamen Konsularischen Instruktion. Entsprechend der Entwicklung der Verträge ist der Bereich der Visa fortschreitend vergemeinschaftet worden.

47.      Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass es sich bei der Frage der Erteilung von Visa an Drittstaatsangehörige um ein für die Mitgliedstaaten äußerst sensibles Thema handelt. Denn wenn es einen Grundsatz des Völkerrechts gibt, der als eine der charakteristischen Erscheinungen der staatlichen Souveränität angesehen wird, dann ist es der Grundsatz, dass die Staaten das Recht haben, die Einreise von Nichtstaatsangehörigen zu kontrollieren(29). Zwar haben sich die Mitgliedstaaten ganz offensichtlich bereit erklärt, bei den europäischen Bürgern, deren Freizügigkeit durch die „Verfassungsurkunde“ der Union(30) gewährleistet ist, auf die Anwendung dieses Grundsatzes zu verzichten; die Situation ist jedoch weitaus weniger offensichtlich, was den Zugang von Drittstaatsangehörigen zum Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten angeht, insbesondere dann, wenn keine enge familiäre Bindung zu einem Unionsbürger geltend gemacht wird(31).

48.      So darf die im Rahmen des Schengener Übereinkommens eingeleitete und heute im Visakodex kodifizierte Zusammenarbeit nicht den Blick auf die vorhandenen internationalen Herausforderungen verstellen. Insoweit ist ein Hinweis darauf angezeigt, dass der Europäische Rat im Stockholmer Programm, das 2010 erstellt wurde(32) – also nach dem Erlass des Visakodex –, die Kommission ersucht hat, „ihre Bemühungen zu verstärken, um dem Grundsatz der Gegenseitigkeit bei der Befreiung von der Visumpflicht Geltung zu verschaffen und zu verhindern, dass Drittstaaten gegenüber einem Mitgliedstaat eine Visumpflicht (wieder-)einführen, und um Maßnahmen zu ermitteln, die zur Anwendung kommen könnten, bevor der Gegenseitigkeitsmechanismus gegenüber diesen Drittländern ausgelöst wird“(33). Er hat die Kommission ferner ersucht, „[i]m Hinblick auf die Möglichkeit, zu einer neuen Stufe der Entwicklung der gemeinsamen Visumpolitik unter Berücksichtigung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten in diesem Bereich überzugehen, … eine Studie darüber vorzulegen, ob ein gemeinsamer europäischer Mechanismus für die Ausstellung von Kurzaufenthaltsvisa festgelegt werden kann“(34).

49.      Ein Automatismus bei der Visumerteilung, der sich aus der Anerkennung eines subjektiven Rechts ergäbe, ließe sich schwer mit dem vorgenannten Gegenseitigkeitsgedanken vereinbaren, wenn z. B. ein in Anhang I der Verordnung Nr. 539/2001 aufgeführter Drittstaat seine Visaerteilungspolitik gegenüber Unionsbürgern erheblich verschärft.

50.      Jedenfalls ergibt sich aus den Vorschriften des Sekundärrechts, dass das Visum nicht als Recht, sondern als eine Pflicht desjenigen ausgestaltet ist, der einen Kurzaufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats anstrebt, d. h. als Voraussetzung für die Einreise in das Hoheitsgebiet der Union. So definiert die Verordnung Nr. 539/2001 das Visum als „eine von einem Mitgliedstaat ausgestellte Genehmigung oder eine von einem Mitgliedstaat getroffene Entscheidung, die erforderlich ist … für die Einreise zum Zwecke eines Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat …, der insgesamt drei Monate nicht überschreitet“(35). Dem Schengener Grenzkodex liegt kein anderer Visumbegriff zugrunde(36). Im Visakodex wiederum findet sich, wie ich vorstehend ausgeführt habe, nirgendwo ein Hinweis auf das Bestehen eines Erteilungsanspruchs; dort wird vielmehr mehrmals darauf hingewiesen, dass es sich insoweit um eine Pflicht handelt, der die betroffenen Drittstaatsangehörigen unterliegen(37), und ein Visum ebenfalls als eine „von einem Mitgliedstaat erteilte Genehmigung“(38) definiert.

51.      Die Tatsache, dass das Visum als eine den Angehörigen der betreffenden Drittstaaten auferlegte Pflicht und nicht als ein Recht angesehen wird, erklärt sich u. a. mit der eigentlichen Funktion eines Visums. Ein Visum als eine vorherige Genehmigung zur Einreise in ein Hoheitsgebiet ist ein Mittel, um Einreisen und damit Migrationsströme zu kontrollieren, und kann ebenso auch ein Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik darstellen. Mit dem, was auf Ebene der Union im Visabereich unternommen wird, wird eindeutig ein eher defensives Ziel verfolgt, nämlich die Bekämpfung der illegalen Einwanderung(39) und die Vermeidung von „Visa-Shopping“(40); es soll also vermieden werden, dass ein Mitgliedstaat eine für Antragsteller offenkundig günstigere Visapolitik verfolgt, da eine solche Politik wegen der fehlenden Kontrollen an den Binnengrenzen möglicherweise mit dem Risiko einer Destabilisierung des Schengen-Raums verbunden wäre.

52.      Eben aus diesem Grund schafft der Visakodex eine Verpflichtung, ein Visum zu verweigern, wenn die vom Antragsteller verlangten Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Dem Gerichtshof zufolge ist die Tatsache, dass die Vertragsstaaten des Übereinkommens zur Durchführung des Schengener Übereinkommens zu einer automatischen Verweigerung verpflichtet werden, wenn der Antragsteller die Einreisevoraussetzungen nicht einhält, „Ausdruck des Grundsatzes der Zusammenarbeit zwischen den Vertragsstaaten, der dem Schengen-Besitzstand zugrunde liegt und der für das Funktionieren eines integrierten Verwaltungssystems unerlässlich ist, das als Folge des freien Übertritts der Grenzen innerhalb des Schengen-Raums ein hohes einheitliches Kontroll- und Überwachungsniveau an den Außengrenzen gewährleisten soll“(41).

53.      Was im Zusammenhang mit der Kontrolle der Außengrenzen verlangt wird, wird in der Rechtsgrundlage für den Visakodex ausgeführt. Denn der Visakodex ist zwar auf Art. 62 Abs. 2 Buchst. b Ziff. ii EG gestützt, der den Erlass einer Unionsregelung „über Visa für geplante Aufenthalte von höchstens drei Monaten einschließlich … der Verfahren und Voraussetzungen für die Visumerteilung durch die Mitgliedstaaten“ vorsieht; in Art. 62 Abs. 2 Buchst. a EG jedoch, der ebenfalls als Rechtsgrundlage für den Visakodex genannt wird, geht es um den Erlass von „Maßnahmen bezüglich des Überschreitens der Außengrenzen der Mitgliedstaaten, mit denen … Normen und Verfahren [festgelegt werden], die von den Mitgliedstaaten bei der Durchführung der Personenkontrollen an diesen Grenzen einzuhalten sind“.

54.      Ich habe daher starke Zweifel an der These, dass die Mitgliedstaaten, indem sie den Visakodex in der Form einer Verordnung erlassen haben, de facto einem Qualitätssprung zugestimmt haben, der so grundlegend ist wie der Übergang von der Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Visumsverweigerung gemäß dem Schengen-Besitzstand zur Verleihung eines subjektiven Rechts auf Erteilung, auf das sich Drittstaatsangehörige berufen könnten, da sich für eine solche These weder im Wortlaut noch in der Systematik irgendein Anhaltspunkt findet.

55.      Schließlich gibt es meines Erachtens noch einen weiteren Anhaltspunkt, der belegt, dass der Unionsgesetzgeber den Visakodex nicht als Instrument zur Verleihung eines subjektiven Rechts auf die Erteilung eines Visums ausgestaltet hat. Zu den großen Fortschritten, die mit dem Visakodex eingeführt worden sind – und auf die ich später noch eingehen werde –, gehört die Schaffung eines Rechts auf ein Rechtsmittel gegen Entscheidungen, mit denen die Erteilung eines Visums verweigert wurde(42). Der Gesetzgeber hat jedoch nicht ausdrücklich ein Rechtsmittel zu einem Gericht vorgesehen(43) und dadurch, dass er auf die nationalen Rechtsordnungen verweist, die Festlegung der Art und Weise der Ausübung dieses Rechtsmittels in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt. Im Übrigen wurde den Mitgliedstaaten für die entsprechende Ausgestaltung ihrer nationalen Systeme eine Zusatzfrist eingeräumt und der Zeitpunkt für die Anwendung der Vorschrift, mit der dieses Recht geschaffen wird, auf den 5. April 2011 hinausgeschoben(44). Aus dem Jahresbericht der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte für das Jahr 2011(45) geht hervor, dass das Rechtsmittel gegen eine Entscheidung, mit der ein Schengen-Visum verweigert wird, je nach dem Mitgliedstaat, um den es geht, entweder vor einer Verwaltungsbehörde, vor einer gerichtsähnlichen Einrichtung oder aber vor einem Gericht erhoben werden muss. Diese Unterschiede – die sowohl darauf zurückzuführen sind, dass die Mitgliedstaaten zurückhaltend sind, sich weiter festzulegen, was die Verfahrensgarantien zugunsten der Antragsteller betrifft, als auch darauf, dass bei der Schaffung eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes für Personen, die keinen Zugang zum nationalen Hoheitsgebiet haben, konkrete Schwierigkeiten bestehen – lassen sich ebenfalls schwer mit der Idee vereinbaren, dass ein subjektives Recht geschaffen worden sein soll.

3.      Überprüfung, ob die festgestellten Ergebnisse mit den vom Visakodex verfolgten Zielen im Einklang stehen

56.      Bei der Prüfung, ob die Ergebnisse der vorstehend vorgenommenen Analysen anhand des Wortlauts und der Systematik mit den Zielen des Visakodex im Einklang stehen, ist zu berücksichtigen, dass dieser nicht nur das Ziel verfolgt, dass sich die Mitgliedstaaten im Schengen-Raum gegenüber den Visumantragstellern in einer bestimmten Art und Weise verhalten sollen, die das von ihnen durchzuführende Verfahren und die anzuwendenden Voraussetzungen für den Antragsteller klarer und nachvollziehbarer macht, um diesem eine Behandlung, die seine Menschenwürde und seine Person achtet, zu gewährleisten.

57.      Der Visakodex verfolgt außerdem ein weiteres Ziel, das im Zusammenhang mit der Kooperation und Zusammenarbeit der Staaten des Schengen-Raums steht, die beschlossen haben, tatsächlich füreinander einzustehen, indem sie dafür gesorgt haben, dass die Auswirkungen der Entscheidung eines Mitgliedstaats nicht auf dessen Hoheitsgebiet beschränkt sind(46), sondern den Schengen-Raum insgesamt betreffen.

58.      So hat der Visakodex nicht nur eine Reihe von Verpflichtungen der Mitgliedstaaten gegenüber dem Antragsteller auf ein Schengen-Visum festgeschrieben, sondern auch das Ziel, dass jeder Mitgliedstaat gegenüber den anderen Mitgliedstaaten im Schengen-Raum wegen der Auswirkungen, die sich an das betreffende Visum in all diesen Staaten knüpfen sollen, die Pflicht haben soll, das betreffende Visum zu verweigern, wenn es an den vom Visakodex vorgesehenen Voraussetzungen fehlt. Insoweit erscheint es möglich, dass dem Gebrauch des Verbs „kann“ in Art. 24 Abs. 1 des Visakodex eine weiter gehende Bedeutung zukommt, als sich aus einer Auslegung des Visakodex anhand seines Wortlauts und seiner Systematik ergibt. Denkbar ist, dass der Unionsgesetzgeber ihm sogar eine Bedeutung zugewiesen hat, die an das vorstehend genannte Ziel anknüpft, nämlich die einer (sich aus dem Gebrauch des Verbs „können“ ergebenden) Möglichkeit für jeden Staat im Schengen-Raum, ein Visum mit Wirkung erga omnes zu erteilen, die nur bei Vorliegen der vom Visakodex vorgesehenen Voraussetzungen besteht.

59.      Dieses teleologische Verständnis des Visakodex bestätigt, dass kein subjektives Recht auf die Erteilung eines Schengen-Visums geschaffen wurde.

4.      Der Mehrwert des Visakodex

60.      Meines Erachtens kann daher beim derzeitigen Stand des Unionsrechts und speziell des Visakodex Antragstellern kein subjektives Recht auf Erteilung eines Schengen-Visums zuerkannt werden. Es steht jedoch nicht im freien Ermessen der Mitgliedstaaten, wie sie die bei ihnen gestellten Anträge behandeln, und der Visakodex hat, auch wenn die Schaffung eines subjektiven Rechts hinsichtlich des Antragstellers nicht Teil der mit ihm eingeführten Regelungen ist, wesentlich zu einer Verbesserung der Garantien für den Antragsteller beigetragen.

61.      Zum einen hat der Visakodex Verfahren zur Beantragung eines Visums harmonisiert, und zwar u. a. dadurch, dass er die Höhe der Visumgebühren festlegt(47), ein Muster für das Antragsformular vorgibt(48), die Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Antrags klarstellt(49) sowie eine Verpflichtung für die Mitgliedstaaten schafft, über den Antrag innerhalb einer kurzen Frist zu entscheiden(50), ihre Ablehnungsentscheidungen zu begründen(51) und im Fall einer Versagung die Möglichkeit eines Rechtsmittels vorzusehen(52).

62.      Der Visakodex hat nicht nur die zwingenden Vorschriften über das Verfahren zur Visaerteilung in einem einzigen Text zusammengefasst, sondern darüber hinaus auch die Politik im Bereich der Visaerteilung wesentlich befördert, indem er sie verständlicher, sichtbarer und kohärenter gemacht hat(53).

63.      Die materielle Harmonisierung weist, wie wir gesehen haben, größere Lücken auf und könnte zu einer Abschwächung der Fortschritte bei der Verfahrensharmonisierung führen, so dass mangels einer präzisen Festlegung der Einreisevoraussetzungen, der Risikobewertung und der Verweigerungsgründe nach den Art. 21 und 32 Abs. 1 des Visakodex während des Verfahrens der Visumerteilung Willkür wieder eine Rolle spielen könnte.

64.      Es ist daher wesentlich, zu betonen, dass der Unionsgesetzgeber diese Unzulänglichkeiten einhegen wollte, indem er den Visakodex mit dem Stempel der Grundrechte(54) und insbesondere der Menschenwürde versehen hat. So verpflichtet Art. 39 des Visakodex entsprechend den Vorgaben seiner Erwägungsgründe 6 und 7 die Mitgliedstaaten dazu, die Antragsteller „zuvorkommend“ zu behandeln(55), und ersucht deren Konsularbedienstete, „die Menschenwürde uneingeschränkt zu achten“ und sämtliche Maßnahmen unter Beachtung „eine[s] angemessenen Verhältnis[es] zu den angestrebten Zielen“(56) und des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung(57) zu treffen.

65.      Somit wird der Spielraum der Mitgliedstaaten bei der inhaltlichen Beurteilung der Voraussetzungen und Gründe im Sinne der Art. 21 und 32 Abs. 1 des Visakodex, so weit er auch sein mag, zwingend durch die Achtung der Menschenrechte des Antragstellers, darunter an erster Stelle seine Würde, sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Nichtdiskriminierung begrenzt.

66.      Anstatt ein subjektives Recht auf Erteilung eines Visums einzuräumen, verpflichtet letztlich der Visakodex die Mitgliedstaaten nicht nur zur Einhaltung der Voraussetzungen, die erforderlich sind, damit das Visum gegenüber allen Mitgliedstaaten im Schengen-Raum wirkt, sondern auch dazu, sicherzustellen, dass das Verfahren unter Achtung der Grundrechte des Antragstellers verläuft, was es – wie ich bereits ausgeführt habe – erforderlich macht, jeden Visumantrag nicht unter Zugrundelegung bloßer Vermutungen, sondern vielmehr anhand einer Gesamtbeurteilung der Situation unter gebührender Berücksichtigung des persönlichen und menschlichen Kontexts des dem jeweiligen Antrag zugrunde liegenden Einzelfalls zu prüfen.

67.      Aus all diesen Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die zweite und die dritte Vorlagefrage zusammen betrachtet zu antworten, dass der Visakodex nicht dahin ausgelegt werden kann, dass er zugunsten der Antragsteller ein subjektives Recht auf Erteilung eines Schengen-Visums begründet. Er verpflichtet die Mitgliedstaaten jedoch dazu, dass Entscheidungen über Anträge auf ein Schengen-Visum im Anschluss an eine Gesamtbeurteilung der Situation unter gebührender Berücksichtigung nicht nur der Voraussetzungen, die erforderlich sind, damit das Visum gegenüber allen Mitgliedstaaten im Schengen-Raum wirkt, sondern auch des persönlichen und menschlichen Kontexts des dem jeweiligen Antrag zugrunde liegenden Einzelfalls sowie an ein Verfahren, bei dem die Grundrechte, darunter an erster Stelle die Menschenrechte, in vollem Umfang beachtet worden sind und das im Einklang mit den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Nichtdiskriminierung durchgeführt worden ist, getroffen werden.

V –    Ergebnis

68.      Angesichts der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Verwaltungsgerichts Berlin wie folgt zu antworten:

1.      Nach Art. 21 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft in Verbindung mit Art. 32 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung muss bei den mit der Bearbeitung eines Visumantrags betrauten Behörden, wenn sie den Antrag wegen Fehlens der Rückkehrabsicht des Antragstellers zurückweisen wollen, ein begründeter Zweifel hinsichtlich des wirklichen Rückkehrwillens des Antragstellers entstanden sein, nachdem sie alle für eine objektive Beurteilung erforderlichen Anhaltspunkte berücksichtigt haben, zu denen sowohl Anhaltspunkte hinsichtlich der besonderen Situation des Herkunftslands gehören als auch Anhaltspunkte in Bezug auf die individuelle Situation des Antragstellers und die von diesem vorgelegten Belege.

2.      Die Verordnung Nr. 810/2009 kann nicht dahin ausgelegt werden, dass sie zugunsten der Antragsteller ein subjektives Recht auf Erteilung eines Schengen-Visums begründet. Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten jedoch dazu, dass Entscheidungen über Anträge auf ein Schengen-Visum im Anschluss an eine Gesamtbeurteilung der Situation unter gebührender Berücksichtigung nicht nur der Voraussetzungen, die erforderlich sind, damit das Visum gegenüber allen Mitgliedstaaten im Schengen-Raum wirkt, sondern auch des persönlichen und menschlichen Kontexts des dem jeweiligen Antrag zugrunde liegenden Einzelfalls sowie an ein Verfahren, bei dem die Grundrechte, darunter an erster Stelle die Menschenrechte, in vollem Umfang beachtet worden sind und das im Einklang mit den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Nichtdiskriminierung durchgeführt worden ist, getroffen werden.


1 –      Originalsprache: Französisch.


2 – Siehe den Bericht der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament – Funktionieren der Schengen-Zusammenarbeit vor Ort in den ersten beiden Jahren der Durchführung des Visakodexes (COM[2012] 648 final).


3 –      ABl. L 243, S. 1.


4 –      ABl. L 81, S. 1.


5 –      ABl. L 105, S. 1.


6 – BGBl. I vom 25. Februar 2008, S. 162.


7 – Gemäß Art. 8 Abs. 2 des Abkommens zwischen der Europäischen Union, der Europäischen Gemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Assoziierung dieses Staates bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen-Besitzstands (ABl. 2008, L 53, S. 52).


8 – Der Einfachheit halber und im Interesse der Kohärenz mit dem Visakodex werden im Rahmen dieser Schlussanträge alle Auslandsvertretungen der Mitgliedstaaten (diplomatische Vertretungen und konsularische Dienststellen) als Konsularbehörden bezeichnet.


9 – Siehe 28. Erwägungsgrund und Art. 1 Abs. 1 des Visakodex.


10 –      Art. 14 Abs. 1 Buchst. d des Visakodex.


11 – Anhang II Abschnitt B des Visakodex. Vorgelegt werden können u. a. ein Flugticket für die Rückreise, Nachweise über den Besitz von Gütern oder zur Eingliederung des Antragstellers in den Herkunftsstaat.


12 –      Hervorhebung nur hier.


13 – Zwar begnügte sich der Entwurf des Verordnungsvorschlags der Kommission damit, einfach einen „Zweifel“ zu verlangen (vgl. Art. 18 Abs. 7 des Entwurfs eines Vorschlags für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über einen Visakodex der Gemeinschaft, KOM[2006] 403 endgültig); in der Endfassung des Textes hielt man es jedoch für angebracht, einen verstärkten Zweifel, nämlich einen begründeten Zweifel zu fordern.


14 – Vorgenannter Entwurf eines Verordnungsvorschlags (Ziff. 3.3).


15 – Beschluss der Kommission vom 19. März 2010 über ein Handbuch für die Bearbeitung von Visumanträgen und die Änderung von bereits erteilten Visa (K[2010] 1620 endgültig) in der durch den Beschluss der Kommission vom 4. August 2011 (K[2011] 5501 endgültig) geänderten Fassung.


16 –      Vgl. Art. 51 des Visakodex.


17 – Vorgenanntes Handbuch für die Bearbeitung von Visumanträgen und die Änderung von bereits erteilten Visa (Abschnitt 7.12).


18 – Ebd.


19 –      Ebd.


20 –      Siehe Nrn. 24 f. dieser Schlussanträge.


21 –      Siehe Art. 25 des Visakodex. Zu bemerken ist insbesondere, dass es in dieser Vorschrift wörtlich heißt: „Das Visum kann für eine, zwei oder mehrere Einreisen erteilt werden.“ (Hervorhebung nur hier).


22 –      Siehe Art. 25 des Visakodex.


23 –      Siehe Art. 26 des Visakodex.


24 – Siehe Art. 27 bis 29 des Visakodex.


25 –      Hervorhebung nur hier.


26 – Vgl. u. a. die Erwägungsgründe 18 und 22 des Visakodex. Vgl. auch Urteil vom 10. April 2012, Vo (C‑83/12 PPU, Randnr. 36).


27 –      18. Erwägungsgrund.


28 – Ebd.


29 – Dieser Grundsatz ist auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt worden (vgl. u. a. EGMR, Urteil vom 26. Juli 2005, N./Finnland, Beschwerde Nr. 38885/02, § 158 und die dort angeführte Rechtsprechung).


30 – Urteil vom 23. April 1986, Les Verts/Parlament (294/83, Slg. 1986, 1339, Randnr. 23).


31 – Für einen solchen Fall siehe Art. 1 Abs. 2 Buchst. a des Visakodex.


32 –      Das Stockholmer Programm − ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger (ABl. 2010, C 115, S. 1).


33 –      Vgl. Abschnitt 5.2 des Stockholmer Programms.


34 – Ebd. Hervorhebung nur hier.


35 –      Art. 2 der Verordnung Nr. 539/2001.


36 – Vgl. insbesondere Art. 5 Abs. 1 Buchst. b und Art. 7 Abs. 3 Buchst. a Ziff. i des Schengener Grenzkodex.


37 – Vgl. Erwägungsgründe 4 und 5 sowie Art. 1 Abs. 1 und Art. 3 des Visakodex.


38 – Art. 2 Nr. 2 des Visakodex.


39 – Vgl. fünften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 539/2001 sowie die Erwägungsgründe 3, 5 und 6 des Visakodex. Zwar wird das Ziel, legale Reisen zu erleichtern, ebenfalls im dritten Erwägungsgrund des Visakodex angesprochen; dennoch ist festzustellen, dass das Ziel der Bekämpfung der illegalen Einwanderung im Schengen-Besitzstand sowie im Visakodex weitaus mehr im Vordergrund steht (vgl. u. a. Teil V der Gemeinsamen Konsularischen Instruktion an die diplomatischen Missionen und die konsularischen Vertretungen, die von Berufskonsularbeamten geleitet werden [ABl. 2005, C 326, S. 1]).


40 – Erwägungsgründe 14 und 18 des Visakodex.


41 –      Urteil vom 31. Januar 2006, Kommission/Spanien (C‑503/03, Slg. 2003, I‑1097, Randnr. 37). Hinsichtlich der Verpflichtung zur Visumverweigerung siehe auch den vom Redaktionsausschuss für die Aktualisierung des Schengen-Katalogs zur Visumerteilung erstellten Aktualisierten Katalog von Empfehlungen für die ordnungsgemäße Anwendung des Schengen-Besitzstands und der bewährten Praktiken: Visumerteilung (Dokument 12099/09 vom 10. Juli 2009, S. 10).


42 –      Vgl. Art. 32 Abs. 3 des Visakodex.


43 – Insoweit haben weder die Kommission in ihrem vorerwähnten Entwurf für einen Verordnungsvorschlag noch das Parlament in seinem Bericht zu diesem Verordnungsvorschlag (Lax-Bericht vom 18. April 2008, A6-0161/2008) daran Anstoß genommen, dass nicht klar ist, ob es sich um ein gerichtliches oder außergerichtliches Rechtsmittel handelt.


44 –      Art. 58 Abs. 5 des Visakodex.


45 – Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, Rapport annuel 2011 – Les droits fondamentaux: défis et réussites en 2011, S. 89 bis 91.


46 – Mit Ausnahme der nach Art. 25 des Visakodex erteilten Visa.


47 –      Art. 16 des Visakodex.


48 – Anhang I des Visakodex.


49 –      Art. 18 f. des Visakodex.


50 –      Art. 23 des Visakodex.


51 –      Art. 32 Abs. 2 des Visakodex. Anhang VI des Visakodex gibt ein einheitliches Formblatt zur Unterrichtung über die Verweigerung, Annullierung oder Aufhebung eines Visums und zur entsprechenden Begründung vor. Die Begründung nach dem Visakodex fällt jedoch vergleichsweise knapp aus, da es ausreicht, einen von elf vorgesehenen Verweigerungs-, Annullierungs- oder Aufhebungsgründen anzukreuzen.


52 –      Art. 32 Abs. 3 des Visakodex.


53 – Siehe auch die Begründung des vorerwähnten Entwurfs des Verordnungsvorschlags.


54 – Vgl. 29. Erwägungsgrund des Visakodex.


55 –      Art. 39 Abs. 1 des Visakodex.


56 –      Art. 39 Abs. 2 des Visakodex.


57 –      Art. 39 Abs. 3 des Visakodex.