Language of document : ECLI:EU:C:2018:975

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 29. November 2018 (1)

Verbundene Rechtssachen C582/17 und C583/17

Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie

gegen

H. (C582/17)

R. (C583/17)

(Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State [Staatsrat, Niederlande])

(Vorabentscheidungsersuchen – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Bestimmung des für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat von einem Drittstaatsangehörigen gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats – Aufeinanderfolgende Anträge in zwei Mitgliedstaaten – Wiederaufnahmegesuch – Anwendung der Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats durch den ersuchenden Mitgliedstaat – Art. 27 – Frage, ob die gerichtliche Kontrolle auch die fehlerhafte Anwendung der Kapitel‑III-Kriterien durch den ersuchenden Mitgliedstaat umfasst)






1.        Mit diesen beiden Vorabentscheidungsersuchen ersucht der Raad van State (Staatsrat, Niederlande) um Hinweise zur Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist(2). Wechselt ein Drittstaatsangehöriger von einem Mitgliedstaat in einen anderen und stellt einen Antrag auf internationalen Schutz in beiden Mitgliedstaaten stellt der zweite Mitgliedstaat ein Wiederaufnahmegesuch und erlässt eine Entscheidung über die Überstellung der betroffenen Person an den ersten Mitgliedstaat. Das vorlegende Gericht stellt folgende Fragen: (i) Darf (bzw. muss sogar) der zweite Mitgliedstaat zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats die in der Dublin‑III-Verordnung niedergelegten Kriterien (insbesondere diejenigen betreffend die Einheit der Familie) anwenden, und (ii) steht das in der Verordnung verankerte Recht auf einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung zur Anfechtung einer fehlerhaften Anwendung dieser Kriterien zur Verfügung?

 Charta der Grundrechte der Europäischen Union

2.        In Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta)(3) ist das Recht auf Achtung des Familienlebens verankert(4). Nach Art. 47 Abs. 1 hat jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen(5).

3.        Gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta haben „[s]oweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die [EMRK] garantierten Rechten entsprechen, diese die gleiche Bedeutung und Tragweite …, wie sie ihnen in der [EMRK] verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt“.

 DublinIII-Verordnung

4.        Das Dublin-System sieht die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats vor, der für die Entscheidung über Anträge auf internationalen Schutz zuständig ist(6).

5.        Die Erwägungsgründe der Dublin‑III-Verordnung enthalten folgende Ausführungen:

–        Das GEAS umfasst eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrages zuständigen Mitgliedstaats(7).

–        Eine solche Formel sollte auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren. Sie sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen …(8)

–        Im Einklang mit der EMRK und mit der Charta sollte die Achtung des Familienlebens eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten sein, wenn sie die Dublin‑III-Verordnung anwenden(9).

–        Um einen wirksamen Schutz der Rechte der Betroffenen zu gewährleisten, sollten im Einklang insbesondere mit Art. 47 der Charta Rechtsgarantien und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen festgeschrieben werden. Um die Einhaltung des Völkerrechts sicherzustellen, sollte ein wirksamer Rechtsbehelf gegen diese Entscheidungen sowohl die Prüfung der Anwendung der Dublin‑III-Verordnung als auch die Prüfung der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat umfassen, in den der Antragsteller überstellt wird(10).

–        In Bezug auf die Behandlung von Personen, die unter die Dublin‑III-Verordnung fallen, sind die Mitgliedstaaten an ihre Verpflichtungen aus den völkerrechtlichen Instrumenten einschließlich der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden(11). Die Dublin‑III-Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und zielt darauf ab, sowohl die uneingeschränkte Wahrung des in Art. 18 der Charta verankerten Rechts auf Asyl als auch die in ihren Art. 4, 7 und 47 anerkannten Rechte zu gewährleisten(12).

6.        In Art. 1 legt die Dublin‑III-Verordnung „die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zur Anwendung gelangen (im Folgenden: ,zuständiger Mitgliedstaat‘)“(13).

7.        Gemäß Art. 2 bezeichnet der Ausdruck

„c) ,Antragsteller‘ einen Drittstaatsangehörigen …, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden wurde;

d) ,Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz‘ die Gesamtheit der Prüfungsvorgänge, der Entscheidungen oder Urteile der zuständigen Behörden in Bezug auf einen Antrag auf internationalen Schutz gemäß der [Verfahrensrichtlinie] und der [Anerkennungsrichtlinie] mit Ausnahme der Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemäß [der Dublin‑III‑]Verordnung;

e) ,Rücknahme eines Antrags auf internationalen Schutz‘ die vom Antragsteller im Einklang mit der [Verfahrensrichtlinie] ausdrücklich oder stillschweigend unternommenen Schritte zur Beendigung des Verfahrens, das aufgrund des von ihm gestellten Antrags auf internationalen Schutz eingeleitet worden ist;

g) ,Familienangehörige‘ die folgenden Mitglieder der Familie des Antragstellers, die sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat:

–        der Ehegatte des Antragstellers oder sein nicht verheirateter Partner, der mit ihm eine dauerhafte Beziehung führt, soweit nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats nicht verheiratete Paare ausländerrechtlich vergleichbar behandelt werden wie verheiratete Paare,

…“

8.        Art. 3 („Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz“) sieht Folgendes vor:

„(1) Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.

(2) Lässt sich anhand der Kriterien dieser Verordnung der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.

Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der [C]harta mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.

Kann keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.

…“

9.        Kapitel III der Verordnung („Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats“) beginnt mit Art. 7, in dem die Rangfolge der Kapitel‑III-Kriterien verankert ist und der bestimmt:

„(1) Die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats finden in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung.

(2) Bei der Bestimmung des nach den Kriterien dieses Kapitels zuständigen Mitgliedstaats wird von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt.

(3) Im Hinblick auf die Anwendung der in den Artikeln 8, 10 und 16 genannten Kriterien berücksichtigen die Mitgliedstaaten alle vorliegenden Indizien für den Aufenthalt von Familienangehörigen, Verwandten oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung des Antragstellers im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, sofern diese Indizien vorgelegt werden, bevor ein anderer Mitgliedstaat dem Gesuch um Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person gemäß den Artikeln 22 und 25 stattgegeben hat, und sofern über frühere Anträge des Antragstellers auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist.“(14)

10.      Art. 9 (in Kapitel III) betrifft Familienangehörige, die Begünstigte internationalen Schutzes sind. Er sieht vor, dass, wenn „der Antragsteller einen Familienangehörigen [hat] – ungeachtet der Frage, ob die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat –, der in seiner Eigenschaft als Begünstigter internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat aufenthaltsberechtigt ist, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun“.

11.      Nach Art. 17 Abs. 1 kann „[a]bweichend von Artikel 3 Absatz 1 … jeder Mitgliedstaat beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in [der Dublin‑III‑]Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist“(15).

12.      Die Pflichten des zuständigen Mitgliedstaats sind in Kapitel V festgelegt. Nach Art. 18 Abs. 1 ist er u. a. verpflichtet, „einen Antragsteller, der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat, nach Maßgabe der Artikel 21, 22 und 29 aufzunehmen“ (Buchst. a) bzw. „einen Antragsteller, der während der Prüfung seines Antrags in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 wieder aufzunehmen“ (Buchst. b)(16).

13.      Kapitel VI enthält Vorschriften betreffend das Aufnahme- und das Wiederaufnahmeverfahren von Personen, die um internationalen Schutz ersuchen. Abschnitt I Art. 20 sieht vor:

„(1) Das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats wird eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird.

(2) Ein Antrag auf internationalen Schutz gilt als gestellt, wenn den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats ein vom Antragsteller eingereichtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll zugegangen ist. Bei einem nicht in schriftlicher Form gestellten Antrag sollte die Frist zwischen der Abgabe der Willenserklärung und der Erstellung eines Protokolls so kurz wie möglich sein.

(5) Der Mitgliedstaat, bei dem der erste Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, ist gehalten, einen Antragsteller, der sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält oder dort einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, nachdem er seinen ersten Antrag noch während des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zurückgezogen hat, nach den Bestimmungen der Artikel 23, 24, 25 und 29 wieder aufzunehmen, um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zum Abschluss zu bringen.

…“

14.      Kapitel VI Abschnitt  II regelt das Verfahren für Aufnahmegesuche. Art. 21 Abs. 1 sieht vor: „Hält der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig, so kann er so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von drei Monaten nach Antragstellung im Sinne von Artikel 20 Absatz 2, diesen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen.“

15.      Kapitel VI Abschnitt III regelt das Verfahren für Wiederaufnahmegesuche. Art. 23 findet Anwendung auf Fälle, in denen ein Mitgliedstaat um Wiederaufnahme ersucht und im ersuchenden Mitgliedstaat ein neuer Antrag eingereicht wurde. Er lautet:

„(1) Ist ein Mitgliedstaat, in dem eine Person im Sinne des Artikels 18 Absatz 1 Buchstaben b, c oder d einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Auffassung, dass nach Artikel 20 Absatz 5 und Artikel 18 Absatz 1 Buchstaben b, c oder d ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags zuständig ist, so kann er den anderen Mitgliedstaat ersuchen, die Person wieder aufzunehmen.

(2) Ein Wiederaufnahmegesuch ist so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von zwei Monaten nach der Eurodac-Treffermeldung im Sinne von Artikel 9 Absatz 5 der [Eurodac‑]Verordnung … zu stellen.

Stützt sich das Wiederaufnahmegesuch auf andere Beweismittel als Angaben aus dem Eurodac-System, ist es innerhalb von drei Monaten, nachdem der Antrag auf internationalen Schutz im Sinne von Artikel 20 Absatz 2 gestellt wurde, an den ersuchten Mitgliedstaat zu richten.

(3) Erfolgt das Wiederaufnahmegesuch nicht innerhalb der in Absatz 2 festgesetzten Frist, so ist der Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, in dem der neue Antrag gestellt wurde.

…“(17)

16.      Nach Art. 27 Abs. 1 haben Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht.

 Verfahrensrichtlinie

17.      Gemäß Art. 27 Abs. 1 stellen die Mitgliedstaaten, soweit sie die Möglichkeit einer ausdrücklichen Rücknahme des Antrags auf internationalen Schutz vorsehen, sicher, dass die Asylbehörde die Entscheidung trifft, entweder die Antragsprüfung einzustellen oder den Antrag abzulehnen. Besteht Grund zu der Annahme, dass ein Antragsteller seinen Antrag stillschweigend zurückgenommen hat oder das Verfahren nicht weiter betreibt, so stellen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 28 sicher, dass die Asylbehörde entweder entscheidet, die Antragsprüfung einzustellen oder den Antrag abzulehnen. Eine nicht abschließende Liste nennt Beispielsfälle, in denen ein Mitgliedstaat davon ausgehen kann, dass ein Antrag auf internationalen Schutz nicht weiter betrieben wird(18).

18.      Art. 33 regelt, unter welchen Umständen die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten können. Das ist z. B. der Fall, wenn ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat und es sich um einen Folgeantrag handelt, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Anerkennungsrichtlinie als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind(19).

 Nationales Recht

19.      Die Vreemdelingenwet 2000 (Ausländergesetz 2000) sieht vor, dass ein Ausländer sich nur dann rechtmäßig in den Niederlanden aufhält, wenn er eine befristete Aufenthaltserlaubnis hat. Ein Antrag auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis wird nicht geprüft, wenn aufgrund der Dublin‑III-Verordnung festgestellt worden ist, dass ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags des Drittstaatsangehörigen zuständig ist.

 Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

 Frau H.

20.      Am 21. Januar 2016 stellte Frau H. in den Niederlanden einen Antrag auf internationalen Schutz. Aufgrund eines Treffers in der Eurodac-Datenbank stellten die niederländischen Behörden fest, dass Frau H. am 27. Dezember 2015 in Griechenland registriert worden war und dass sie am 5. Januar 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Deutschland gestellt hatte. Frau H. bestreitet dies. Ihr sei gesagt worden, ihre Fingerabdrücke abzugeben, um den deutschen Behörden zu ermöglichen, ihren Fall zu rekonstruieren, und dass die Informationen in der Eurodac-Datenbank keine Auswirkungen auf ihren Antrag auf internationalen Schutz in den Niederlanden hätten. Am 21. März 2016 unterbreiteten die niederländischen Behörden den entsprechenden deutschen Behörden ein Wiederaufnahmegesuch nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Dublin-III-Verordnung. Die deutschen Behörden ließen die Zwei-Wochen-Frist zur Beantwortung des Gesuchs fruchtlos verstreichen, so dass nach Ansicht der Niederlande Deutschland nun der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz von Frau H. zuständige Mitgliedstaat war(20). Frau H. machte sodann geltend, dass die niederländischen Behörden die Kapitel‑III-Kriterien in Art. 9 der Dublin‑III-Verordnung nicht fehlerfrei angewandt hätten und dass ihr eine Antragstellung in den Niederlanden gestattet sein müsse, weil ihrem Ehemann dort bereits Asyl gewährt worden sei und sie bei ihm sein wolle. Mit Entscheidung vom 6. Mai 2016 erklärten die nationalen Behörden das Vorbringen von Frau H. für unbegründet und bestätigten die Überstellungsentscheidung nach Deutschland. Diese Entscheidung wurde in erster Instanz von der Rechtbank Den Haag Zittingsplaats Groningen (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Groningen, Niederlande) aus anderen Gründen für nichtig erklärt; das Gericht gab den zuständigen Behörden auf, eine neue Entscheidung zu fällen(21).

21.      Frau H. legte ein Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht ein und machte geltend, dass das erstinstanzliche Urteil insoweit falsch sei, als dass es ihren Widerspruch wegen einer fehlerhaften Anwendung der Kriterien in Kapitel III Art. 9 als ungültig zurückgewiesen hatte.

 Frau R.

22.      Frau R., eine syrische Staatsangehörige, stellte am 9. März 2016 in den Niederlanden einen Antrag auf internationalen Schutz.

23.      Zuvor hatte sie bereits in Deutschland einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Die niederländischen Behörden hielten Deutschland für den für die Prüfung ihres Antrags zuständigen Mitgliedstaat und stellten daher ein Wiederaufnahmegesuch gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Dublin‑III-Verordnung. Die deutschen Behörden wiesen das Gesuch zunächst zurück, da der Ehegatte von Frau R. in den Niederlanden Begünstigter internationalen Schutzes war.

24.      Die niederländischen Behörden ersuchten die entsprechenden deutschen Behörden daraufhin, das Wiederaufnahmegesuch erneut zu prüfen, da sich die Heiratsurkunde von Frau R. als falsch erwiesen habe und die Ehe damit als Scheinehe einzustufen sei. Deutschland gab dem Wiederaufnahmegesuch am 1. Juni 2016 statt(22).

25.      Die niederländischen Behörden weigerten sich daher, den Antrag von Frau R. auf internationalen Schutz zu prüfen.

26.      Frau R. wandte ein, dass die Niederlande aufgrund von Art. 9 der Dublin‑III-Verordnung für die Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz zuständig seien, weil sich ihr Ehegatte (ein Begünstigter internationalen Schutzes) dort aufhalte.

27.      Mit Entscheidung vom 14. Juli 2016 erklärten die niederländischen Behörden, dass Frau R. eine Scheinehe eingegangen sei und dass daher ihr angeblicher Ehegatte kein Familienangehöriger im Sinne von Art. 2 Buchst. g der Dublin-III-Verordnung sei. Daher könne sich Frau R. nicht auf Art. 9 dieser Verordnung berufen. Außerdem finde das Kriterium nach Kapitel III Art. 9 keine Anwendung, da es sich um ein Wiederaufnahmegesuch und nicht um ein Aufnahmegesuch handele.

28.      Mit Urteil vom 11. August 2016 hob der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag) die Entscheidung aus zwei Gründen auf. Erstens hätten die niederländischen Behörden nicht geprüft, ob zwischen Frau R. und ihrem Partner eine dauerhafte Beziehung im Sinne von Art. 2 Buchst. g der Dublin‑III-Verordnung bestehe; und zweitens könne sich ein Drittstaatsangehöriger unabhängig davon, ob die zuständigen Behörden ein Wiederaufnahmegesuch oder ein Aufnahmegesuch gestellt hätten, auf Art. 9 der Verordnung berufen.

29.      Die niederländischen Behörden legten Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht ein.

30.      Laut Vorlagebeschluss in der Rechtssache C‑582/17 gleicht der Sachverhalt im Wesentlichen dem in der Rechtssache C‑583/17. Daher gäben die Gründe für das Vorabentscheidungsersuchen die im Vorlagebeschluss in der Rechtssache C‑583/17 wieder. Beide Fälle lagen derselben Kammer des Raad van State (Staatsrat) vor, die die jeweiligen Beschlüsse zur Vorlage am selben Tag erließ.

31.      Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz stellt, nach der Dublin‑III-Verordnung im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen einen Überstellungsbeschluss geltend machen kann, dass die in Kapitel III enthaltenen Kriterien zur Bestimmung der Zuständigkeit fehlerhaft angewandt worden seien, und zwar nur in dem Mitgliedstaat, in dem der erste Antrag gestellt worden sei. Beziehe sich die Entscheidung auf ein Wiederaufnahmegesuch, könne der Rechtsbehelf nur in Ausnahmefällen in dem ersuchenden Mitgliedstaat (hier die Niederlande) eingelegt werden: und zwar dann, wenn das Gesuch (i) unvollständig sei oder Falschinformationen enthalte, (ii) nicht rechtzeitig unterbreitet werde, (iii) wenn die Regelung in Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin-III-Verordnung fehlerhaft angewandt werde(23), (iv) wenn das Asylverfahren und die Aufnahmegegebenheiten für Asylbewerber in dem zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufwiesen, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellten, dass ein Asylbewerber tatsächlich im Sinne von Art. 4 der Charta, auf den in Art. 3 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung verwiesen werde, Gefahr liefe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden, oder (v) wenn die Überstellung gegen Art. 4 der Charta verstoße.

32.      Das vorlegende Gericht möchte jedoch wissen, ob seine Auslegung der Dublin‑III-Verordnung mit der Auslegung des Gerichtshofs von Art. 27 der Verordnung in Einklang steht(24). Es stellt fest, dass der Gerichtshof bisher nicht entschieden habe, ob ein Antragsteller im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung geltend machen kann, dass die Kriterien in Kapitel III fehlerhaft angewendet worden seien, und zwar nur in dem ersten Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden sei. Daher ersucht das vorlegende Gericht um Antwort auf folgende Fragen:

1.      Ist die Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen, dass nur der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, mit der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats betraut ist, mit der Folge, dass ein Ausländer nur in diesem Mitgliedstaat gemäß Art. 27 dieser Verordnung gegen die fehlerhafte Anwendung eines der in ihrem Kapitel III, darunter Art. 9, festgelegten Zuständigkeitskriterien rechtlich vorgehen kann?(25)

2.      Inwiefern ist bei der Beantwortung der ersten Frage von Bedeutung, dass in dem ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, bereits eine Entscheidung über diesen Antrag ergangen ist oder der Ausländer den Antrag vorzeitig zurückgenommen hat?

33.      Schriftliche Erklärungen eingereicht haben Frau R. sowie die Regierungen Finnlands, Deutschlands, der Niederlande, der Schweiz und des Vereinigten Königreichs sowie die Europäische Kommission. Frau H., Deutschland, Finnland, die Niederlande und die Kommission haben an der mündlichen Verhandlung am 4. September 2018 teilgenommen und mündliche Ausführungen gemacht.

 Würdigung

 Vorbemerkungen

34.      Das vorlegende Gericht teilt mit, dass die zuständigen Behörden der Ansicht seien, dass die Ehen von Frau H. bzw. Frau R. mit einem Drittstaatsangehörigen, dem in den Niederlanden internationaler Schutz gewährt werde, Scheinehen seien. Zumindest im Falle von Frau R. sei in erster Instanz festgestellt worden, dass sie ihre Ehe gegenüber den zuständigen Behörden nicht ausreichend nachgewiesen habe.

35.      Gemäß Art. 2 Buchst. g der Dublin‑III-Verordnung umfasse der Begriff „Familienangehöriger“ nicht nur Ehegatten, sondern auch nicht verheiratete Partner in einer dauerhaften Beziehung(26). Um festzustellen, ob Art. 9 dieser Verordnung auf Frau H. bzw. Frau R. Anwendung finde, hätten die zuständigen Behörden daher im Einzelfall zu prüfen, ob der angebliche Ehegatte ein Familienangehöriger im Sinne dieser Bestimmung sei.

 Wiederaufnahmegesuche

36.      Sowohl im Fall von Frau H. als auch in dem von Frau R. ist unklar, auf welcher Grundlage das Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet wurde. Laut vorlegendem Gericht haben die niederländischen Behörden die Wiederaufnahmegesuche für Frau H. bzw. Frau R. auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Dublin‑III-Verordnung gestützt. In der Sitzung haben die Niederlande jedoch vorgetragen, dass diese Gesuche auf der Grundlage von Art. 20 Abs. 5 der Verordnung hätten erfolgen müssen, da sich sowohl Frau H. als auch Frau R. ohne Aufenthaltstitel in den Niederlanden aufhielten und das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats noch nicht abgeschlossen sei.

37.      Die Regelungen in Art. 18 Abs. 1 Buchst. b, c und d und in Art. 20 Abs. 5 der Dublin‑III-Verordnung betreffen die unterschiedlichen Umstände, unter denen eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, einen ersten Antrag stellt, dann in einen anderen Mitgliedstaat wechselt und dort einen zweiten Antrag stellt(27). Diese Vorschriften beziehen sich ausdrücklich auf die Bedingungen für die Wiederaufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, u. a. diejenigen in Art. 23 der Verordnung.

38.      Gemäß der in Art. 2 Buchst. d enthaltenen Definition der „Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz“ findet Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Anwendung, wenn ein Wechsel des Aufenthaltsortes während der materiellen Prüfung des Asylantrags (im Sinne der Anerkennungsrichtlinie) erfolgt. Er findet keine Anwendung, wenn das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats im Einzelfall noch nicht beendet ist. Art. 18 Abs. 1 Buchst. c ist einschlägig, wenn eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, den Asylantrag während der materiellen Prüfung ihres Antrags im Sinne von Art. 27 (ausdrückliche Rücknahme) oder von Art. 28 (stillschweigende Rücknahme oder Nichtbetreiben des Verfahrens) der Verfahrensrichtlinie zurücknimmt(28). Art. 18 Abs. 1 Buchst. d findet Anwendung, wenn der Antrag auf internationalen Schutz im ersten Mitgliedstaat in der Sache abgelehnt worden ist(29). Das Wiederaufnahmeverfahren wird gemäß Art. 20 Abs. 5 eingeleitet, wenn die materielle Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz noch nicht begonnen hat, sondern noch geprüft wird, welcher der zuständige Mitgliedstaat nach der Dublin‑III-Verordnung ist.

39.      Welche dieser Vorschriften die Rechtsgrundlage für die beiden Wiederaufnahmeverfahren ist, ist abhängig vom jeweiligen Sachverhalt. Befanden sich die deutschen Behörden zu dem Zeitpunkt, als die Antragstellerinnen ihren jeweils zweiten Antrag in den Niederlanden gestellt haben, noch im Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats? Hatten sie bereits mit der materiellen Prüfung der beiden Anträge begonnen?(30) Sind die ersten, in Deutschland gestellten Anträge zurückgenommen oder abgelehnt worden? Ob das Wiederaufnahmeverfahren auf Grundlage von Art. 18 Abs. 1 Buchst. b, c, d oder von Art. 20 Abs. 5 erfolgen sollte, hat das vorlegende Gericht also anhand der erforderlichen Sachverhaltsfeststellungen zu entscheiden.

40.      Die konkreten Vorlagefragen des vorlegenden Gerichts betreffen die Auslegung der Dublin‑III-Verordnung in Bezug auf die allgemeine Frage, wie die Kriterien in Kapitel III im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens anzuwenden sind. Auch wenn die Rechtsgrundlage für das jeweilige Wiederaufnahmegesuch noch unklar ist, bin ich der Ansicht, dass der Gerichtshof genügend Informationen vorliegen hat, um diese Fragen zu prüfen(31).

 Erste Frage

41.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass nur der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal gestellt wird, den zuständigen Mitgliedstaat bestimmen darf. Wäre dies der Fall, folgte daraus, dass ein Drittstaatsangehöriger gemäß Art. 27 der Dublin‑III-Verordnung nur in diesem Mitgliedstaat über Rechtsbehelfe gegen die fehlerhafte Anwendung der Kriterien in Kapitel III verfügte.

 Allgemeine Überlegungen zu dem Dublin-System

42.      Das Regime der Dublin‑III-Verordnung regelt das Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats anhand der in Kapitel III genannten Kriterien(32). Die materielle Prüfung der Anträge wird (in der Regel) von dem Mitgliedstaat vorgenommen, der nach diesen Kriterien zuständig ist(33). Das Hauptziel des Dublin-Systems ist die rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats(34). Stellt eine Person in mehreren Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz, unterstützt die Eurodac-Verordnung die betroffenen Mitgliedstaaten bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nach der Dublin‑III-Verordnung(35).

43.      Die durch die Dublin‑III-Verordnung vorgenommenen Änderungen an dem früheren System legen nahe, dass der Unionsgesetzgeber das Ziel hatte, Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, an dem Verfahren zu beteiligen(36). Die Antragsteller müssen daher über die für die Bestimmung der Zuständigkeit maßgeblichen Kriterien in Kenntnis gesetzt werden und die Gelegenheit erhalten, Informationen mitteilen zu können, die die fehlerfreie Anwendung der Kriterien erlauben(37). Diese Rechte werden durch ein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die am Ende des Verfahrens ergehende Überstellungsentscheidung ergänzt(38).

44.      Obwohl das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats im Wesentlichen auf den Kriterien in Kapitel III beruht, spielen auch Kapitel VI (betreffend Aufnahme- und Wiederaufnahmegesuche) sowie die Einhaltung der in diesen Vorschriften enthaltenen Fristen eine wichtige Rolle für das Ergebnis des Verfahrens. Antwortet ein Mitgliedstaat auf ein Gesuch nicht innerhalb der einschlägigen Frist, wird davon ausgegangen, dass er dem Gesuch stattgegeben hat und ist er demzufolge für die materielle Prüfung des Asylantrags zuständig(39).

45.      Die Dublin‑III-Verordnung kennt außerdem ausdrückliche Ausnahmen von der allgemeinen Regel, dass der zuständige Mitgliedstaat ausschließlich durch die Kriterien in Kapitel III zu bestimmen ist. So verdrängt Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 die Kriterien, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in dem betreffenden Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta mit sich bringen(40). Dem Zweck von Art. 16 Abs. 2 ist dann Genüge getan, wenn der Antragsteller unterhaltsberechtigt gegenüber einem Familienangehörigen ist und sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem gemäß den Kapitel‑III-Kriterien zuständigen Mitgliedstaat aufhält oder wenn umgekehrt der Familienangehörige gegenüber dem Antragsteller unterhaltsberechtigt ist(41). Ähnlich sieht Art. 17 Abs. 1 vor, dass abweichend von Art. 3 Abs. 1 jeder Mitgliedstaat beschließen kann, einen bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den Kriterien in Kapitel III nicht für die Prüfung zuständig ist.

46.      Zusammengefasst: das Dublin-System beruht im Wesentlichen auf der Anwendung der Kriterien in Kapitel III; jedoch kann ein anderer Mitgliedstaat entweder durch Verstreichenlassen der Frist für die Antwort auf ein Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuch oder in den in der Dublin‑III-Verordnung ausdrücklich vorgesehen Ausnahmefällen vom „normalen“ Ablauf der zuständige Mitgliedstaat werden(42).

 Kriterien in Kapitel III – Folgeanträge auf internationalen Schutz in anderen Mitgliedstaaten – derselbe Antragsteller

47.      Für den Fall, dass dieselbe Person einen Antrag auf internationalen Schutz nacheinander sowohl in Mitgliedstaat A als auch in Mitgliedstaat B stellt und Letzterer ein Wiederaufnahmegesuch an Mitgliedstaat A richtet, sind Finnland, die Niederlande, die Schweiz und das Vereinigte Königreich im Kern der Auffassung, dass Mitgliedstaat B nicht verpflichtet sei, im Rahmen des Wiederaufnahmegesuchs die Kriterien in Kapitel III anzuwenden.

48.      Finnland und die Schweiz halten Mitgliedstaat A für verpflichtet, die Person nach Kapitel VI der Dublin‑III-Verordnung wiederaufzunehmen und dann die Kriterien in Kapitel III anzuwenden.

49.      Die Niederlande tragen vor, dass der Wortlaut von Art. 7 Abs. 2 vorgebe, dass für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats die Situation maßgeblich sei, die bei der ersten Antragstellung vorherrsche. Dies liefe darauf hinaus, dass nur Mitgliedstaat A die Kriterien in Kapitel III anwenden müsste. In Art. 7 Abs. 3 sind jedoch bestimmte Ausnahmefälle geregelt, in denen ein anderer Mitgliedstaat die Kriterien in Kapitel III anwenden kann, namentlich wenn die Art. 8, 10 oder 16 einschlägig sind.

50.      Das Vereinigte Königreich betont, dass die Dublin‑III-Verordnung klar zwischen einem Aufnahme- und einem Wiederaufnahmegesuch unterscheide. Bei Aufnahmegesuchen bestimme Mitgliedstaat A den zuständigen Mitgliedstaat nach den Kriterien in Kapitel III (Art. 18 Abs. 1 Buchst. a). Wiederaufnahmegesuche beruhten auf dem Grundsatz, dass zuvor in Mitgliedstaat A ein Antrag gestellt worden sei (Art. 18 Abs. 1 Buchst. b, c, d und Art. 20 Abs. 5). Dieser Mitgliedstaat sei dann verpflichtet, den Antragsteller wieder aufzunehmen. In diesen Fällen sei die Zuständigkeit nach dem Dublin-System zu dem Zeitpunkt, zu dem der Folgeantrag gestellt werde, bereits bestimmt worden.

51.      Frau H. und Frau R., Deutschland und die Kommission sind anderer Ansicht. Frau H. und Frau R. bringen vor, dass der Wortlaut der Dublin‑III-Verordnung die enge Auslegung, dass nur Mitgliedstaat A die Kapitel‑III-Kriterien anwenden könne, nicht hergebe. Die Kommission schließt sich dieser Auffassung an. Mit Verweis auf Art. 7 Abs. 3 macht sie geltend, dass Mitgliedstaaten sämtliche Indizien für den Aufenthalt des von einem Antrag auf internationalen Schutz betroffenen Familienangehörigen in ihrem Hoheitsgebiet bei der Prüfung der Kriterien in Kapitel III zu berücksichtigen hätten. Dass Art. 7 Abs. 3 keinen ausdrücklichen Rückverweis auf Art. 9 enthalte, sei ein gesetzgeberisches Versehen. Deutschland ist der Auffassung, dass aus den Bestimmungen zum Aufnahme- und Wiederaufnahmegesuch in Kapitel VI eindeutig hervorgehe, dass sowohl Mitgliedstaat A als auch Mitgliedstaat B verpflichtet seien zu prüfen, ob die Kapitel‑III-Kriterien im Einzelfall ordnungsgemäß angewendet worden seien.

52.      Mir scheint, dass der Wortlaut der Dublin‑III-Verordnung keine der beiden Auslegungsvarianten eindeutig ausschließt. Die Verordnung sieht weder vor, dass nur Mitgliedstaat A die Kriterien in Kapitel III anwenden darf. Noch enthält sie eine Bestimmung, dass beide Staaten diese Prüfung durchführen müssen.

53.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut zu berücksichtigen, sondern auch ihr Kontext und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden(43). Die Regeln des sekundären Unionsrechts, also auch die Bestimmungen der Dublin‑III-Verordnung, sind im Einklang mit den in der Charta verankerten Grundrechten auszulegen und anzuwenden(44). Zudem ist bei verschiedenen möglichen Auslegungen einer Vorschrift des Unionsrechts derjenigen der Vorzug zu geben, die die praktische Wirksamkeit der Vorschrift zu wahren geeignet ist(45).

54.      In der Tat ist der Wortlaut der Dublin‑III-Verordnung in den Fällen eindeutig, in denen einem einzelnen Mitgliedstaat oder dem ersten Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird, eine Verpflichtung auferlegt wird(46). So sieht Art. 3 Abs. 1 vor, dass die materielle Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz von einem einzigen Mitgliedstaat vorzunehmen ist. Ebenso ist nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 der erste Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird, dann für dessen Prüfung zuständig, wenn sich der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen lässt. Art. 7 Abs. 2 sieht ausdrücklich vor, dass bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats von der Situation auszugehen ist, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal stellt. Nach Art. 20 Abs. 1 wird das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird(47).

55.      Es ist nicht überraschend, dass für die Verpflichtungen eines einzelnen oder des ersten Mitgliedstaats ausdrückliche Formulierungen gewählt werden. Verordnungen gelten unmittelbar. Es ist daher besonders wichtig, dass diese Verpflichtungen eindeutig und unmissverständlich formuliert sind. Im vorliegenden Fall ist auch die Entstehungsgeschichte bedeutsam – dort zeigt sich, dass der Gesetzgeber es abgelehnt hat, ein System zu schaffen, in dem die Zuständigkeit nur dem Mitgliedstaat auferlegt wird, in dem der Asylantrag erstmals eingereicht wird(48).

56.      Von Beginn an besteht das Dublin-System aus zwei eigenständigen Komponenten, die jeweils einem bestimmten Zweck bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats dienen; die grundlegenden Eigenschaften des Systems sind in der Dublin‑III-Verordnung beibehalten worden(49). Die erste Komponente sind die Kriterien in Kapitel III; die zweite sind die Regeln zur Wiederaufnahme, die Anwendung finden, wenn sich eine Person, die in einem Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, später in einem anderen Mitgliedstaat aufhält(50). Nur dann, wenn keines der Kriterien in Kapitel III einschlägig ist, ist der erste Mitgliedstaat, in dem ein Asylantrag gestellt wird, für die materielle Prüfung zuständig. Zweck der Wiederaufnahmeregelungen ist es, dafür zu sorgen, dass eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, ihren Anspruch nicht in einem anderen Mitgliedstaat geltend macht als dem, der nach der Verordnung für die Prüfung zuständig ist.

57.      Die sich im vorliegenden Fall stellende neue Frage ist die, ob Mitgliedstaat B die Kriterien in Kapitel III berücksichtigen sollte, bevor er Mitgliedstaat A um Wiederaufnahme ersucht, oder ob es einen gewissen Automatismus gibt (wie Finnland und die Schweiz vortragen) und Mitgliedstaat B die Kriterien außer Acht lassen darf, nur weil der Antragsteller von Mitgliedstaat A nach Mitgliedstaat B gewechselt ist.

58.      Diese Frage mit ja oder nein zu beantworten, scheint allzu einfach.

59.      Es kann häufig vorkommen, dass Mitgliedstaat B einen Treffer in Eurodac erhält, keine weiteren Informationen über die Situation des Antragstellers hat und daher aufgrund des Eurodac-Treffers (berechtigterweise) ein Wiederaufnahmegesuch an Mitgliedstaat A richtet. Wenn jedoch Mitgliedstaat B Informationen vorliegen, die darauf hinweisen, dass er nach den Kriterien in Kapitel III der zuständige Mitgliedstaat ist, scheint es mir dem Zweck der Dublin‑III-Verordnung zu widersprechen, wenn er die Kapitel‑III-Kriterien ohne Weiteres nicht anwendet, nur weil er ein Wiederaufnahmegesuch zu stellen beabsichtigt. Der Wortlaut rechtfertigt insbesondere nicht, dass Mitgliedstaat B die Kriterien betreffend die Einheit der Familie unberücksichtigt lassen darf, wenn er prima facie für die materielle Prüfung des Antrags zuständig wäre, um ein Wiederaufnahmegesuch zu stellen, bei dessen Erfolg der Antragsteller von seinem Familienangehörigen getrennt würde.

60.      Eine solche Auslegung stünde im Widerspruch zu der im 32. Erwägungsgrund der Verordnung genannten Verpflichtung, Personen, die unter die Verordnung fallen, gemäß völkerrechtlichen Instrumenten und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu behandeln(51). Sie stünde außerdem im Gegensatz zu den im 39. Erwägungsgrund genannten Grundrechten, u. a. dem in Art. 7 der Charta verankerten Recht auf Achtung des Familienlebens. Ich bin daher der Auffassung, dass die Dublin‑III-Verordnung nicht dahin ausgelegt werden darf, dass immer dann, wenn eine Person nacheinander einen Antrag auf internationalen Schutz in Mitgliedstaat A und Mitgliedstaat B stellt, Letzterer berechtigt ist, ohne Berücksichtigung der Kriterien in Kapitel III Mitgliedstaat A um Wiederaufnahme zu ersuchen.

61.      Kann diese Auslegung dem Missbrauch des Dublin-Systems Vorschub leisten?

62.      Alle Mitgliedstaaten, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, betonen, dass die Dublin‑III-Verordnung nicht dahin ausgelegt werden sollte, dass Missbrauch gefördert wird. Sie legen Wert darauf, Antragsteller davon abzuhalten, von einem Mitgliedstaat in den anderen zu wechseln und nacheinander Anträge auf internationalen Schutz in jedem Mitgliedstaat zu stellen. Diese Argumente bedürfen daher einer sorgfältigen Prüfung.

63.      Hauptzweck der Dublin‑III-Verordnung ist die rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats. Sie ist (an sich) keine Rechtsdurchsetzungsmaßnahme in dem Sinne, dass ihr erklärter Hauptzweck nicht die Einführung von Beschränkungen für den Mitgliedstaat wechselnde Asylbewerber ist(52). Die Bestimmungen zur Wiederaufnahme, die sicherstellen sollen, dass Antragsteller ihren Asylantrag nur in dem zuständigen Mitgliedstaat stellen, sind Ausdruck der zur Verhinderung des Missbrauchs der Asylverfahren gewählten Methode(53).

64.      Wie bereits erwähnt(54), darf ein Mitgliedstaat bei einem Eurodac-Treffer ein Wiederaufnahmegesuch stellen, wenn es an Informationen fehlt, die auf das Vorliegenden eines anderen konkurrierenden Kriteriums in Kapitel III hinweisen. Die von mir vorgeschlagene Auslegung verpflichtet einen Mitgliedstaat lediglich, seine Augen nicht absichtlich vor ihm vorliegenden zusätzlichen Informationen zu verschließen, die für die Anwendung der Kapitel‑III-Kriterien maßgeblich wären.

65.      Ein weiterer Punkt war die Frage, wie mit einem Asylbewerber zu verfahren sei, der durch mehrere Mitgliedstaaten reist und in jedem einen Antrag auf internationalen Schutz stellt. Dies ist vorliegend nicht der Fall, und nach meinem Dafürhalten scheinen die Regelungen zur Wiederaufnahme in Verbindung mit der Eurodac-Verordnung sicherzustellen, dass eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, nicht gleichzeitig mehrere Ansprüche geltend machen kann.

66.      Die Niederlande tragen vor, dass in Art. 7 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung Ausnahmefälle geregelt seien, in denen der um Wiederaufnahme ersuchende Mitgliedstaat tatsächlich die Kriterien in Kapitel III anwenden könne. Art. 9 sei jedoch nicht in Art. 7 Abs. 3 unter diesen Ausnahmefällen aufgeführt, und Frau H. und Frau R. könnten sich deshalb nicht auf Art. 9 berufen.

67.      Nach meiner Auffassung werden die Art. 8, 10 und 16 in Art. 7 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung genannt, um dem (im 14. Erwägungsgrund genannten) Ziel der Verordnung Ausdruck zu verleihen, dass die Achtung des Familienlebens eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten sein sollte, wenn sie die Verordnung anwenden(55).

68.      Die Entstehungsgeschichte offenbart, dass in dem Vorschlag der Kommission der jetzige Art. 9 ursprünglich in der Liste des späteren Art. 7 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung enthalten war(56). Die Aufnahme von Art. 9 in diese Liste war sehr umstritten. In den Verhandlungen im Rat äußerten bestimmte Mitgliedstaaten ihre Bedenken darüber, dass das Dublin-Verfahren missbraucht werden würde: „Es besteht jedoch die Gefahr des Missbrauchs in Bezug auf Art. 9 des Vorschlags [Art. 7 der Dublin‑III-Verordnung] betreffend die Wiedervereinigung mit einem geflüchteten Familienangehörigen unabhängig davon, ob die Familie sich im Ursprungsland gebildet hat oder nicht. In diesem Fall kann eingewendet werden, dass ein Asylbewerber einen Flüchtling in einem anderen Mitgliedstaat heiratet, um die Anwendung der Dublin-Regeln zu verhindern und sich so einen Mitgliedstaat als Aufenthaltsort auszusuchen.“(57) Daher wurde Art. 9 aus der Liste entfernt.

69.      Ich bin der gegenteiligen Ansicht, dass nämlich, wenn keine Hinweise auf einen Missbrauch vorliegen, sich der Geltungsbereich der die Einheit der Familie betreffenden Bestimmungen in der Dublin‑III-Verordnung bezüglich der Anwendung der Kriterien in Kapitel III auf die Person, die um internationalen Schutz nachsucht, und ihre Familienangehörigen erstreckt. Diese Auslegung steht im Einklang mit den Zielen der Dublin‑III-Verordnung und wahrt deren praktische Wirksamkeit(58). Die Verordnung anders auszulegen, widerspräche der Charta und den in den Erwägungsgründen 14, 32 und 39 der Dublin‑III-Verordnung genannten Zielen und Erklärungen.

70.      Unter Kontrolle der nationalen Gerichte ist es Sache der zuständigen Behörden zu prüfen, ob im Einzelfall Anhaltspunkte für eine Scheinehe vorliegen, deren Zweck es war, einen bestimmten Mitgliedstaat als Aufenthaltsort wählen zu können und so die Anwendung der Kriterien in Kapitel III der Dublin‑III-Verordnung, die nicht die Einheit der Familie betreffen, zu umgehen(59). Dasselbe gilt für Anträge, die sich auf das Bestehen einer dauerhaften Beziehung stützen.

71.      Die Niederlande tragen vor, dass der Gesetzgeber bei Verabschiedung der Dublin‑III-Verordnung vor Augen gehabt habe, dass in der Richtlinie 2003/86/EG des Rates eine Bestimmung zur Einheit der Familie mit dem Recht der Familienzusammenführung enthalten sein würde(60). Ein Mitgliedstaat, der um Wiederaufnahme ersuche, müsse Art. 9 in Kapitel III nicht berücksichtigen, da die Bestimmungen in dieser Verordnung ausreichenden Schutz für die Einheit der Familie in Fällen wie denen von Frau H. und Frau R. böten.

72.      Es stimmt zwar, dass die Richtlinie 2003/86 Bestimmungen zur Einheit der Familie enthält, sie ist aber im Wesentlichen darauf gerichtet, dass Drittstaatsangehörige, die sich (bereits) rechtmäßig im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufhalten, fair behandelt werden und dass die soziokulturelle Stabilität gefördert wird(61). Die Regelungen zur Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats dienen einem völlig anderen Zweck. Sie sollen die Effektivität des Dublin-Systems allgemein sicherstellen(62). Die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ist der erste Verfahrensschritt, noch bevor der Antrag in der Sache geprüft wird. Obwohl die Kriterien betreffend die Einheit der Familie in der Dublin‑III-Verordnung unzweifelhaft zur Achtung familiärer Bindungen führen sollen, haben diese Vorschriften jedoch nicht denselben Zweck wie die Richtlinie 2003/86 und konzentrieren sich auf die Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, und nicht auf den Familienangehörigen, der sich bereits rechtmäßig im Hoheitsgebiet aufhält.

73.      Entgegen der Auffassung der Niederlande bin ich daher der Ansicht, dass diese Richtlinie bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemäß der Dublin‑III-Verordnung keine Berücksichtigung finden sollte.

74.      Ich weise auch das Argument zurück, dass der erste Mitgliedstaat dem zweiten Mitgliedstaat – gegebenenfalls – ein Wiederaufnahmegesuch unterbreiten muss, um sicherzustellen, dass dieser für die Prüfung des Asylantrags zuständig wird. Dieses Argument geht an der Grundsatzfrage vorbei, ob nämlich der zweite Mitgliedstaat die Kriterien in Kapitel III der Dublin‑III-Verordnung anwenden darf.

75.      In vielen Fällen führt das Erfordernis der Beachtung der in Art. 21 der Dublin III-Verordnung geregelten starren Fristen für das Wiederaufnahmegesuch dazu, dass es dem ersten Mitgliedstaat (hier Deutschland) in der Praxis nicht möglich ist, ein solches Gesuch zu stellen(63). Dieser Punkt wird deutlich bei Betrachtung des Sachverhalts in der Rechtssache H. Der Antrag auf internationalen Schutz wurde am 5. Januar 2016 in Deutschland eingereicht(64). Gemäß Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 war die Frist für ein Wiederaufnahmegesuch der 5. April 2016. Die Fingerabdrücke und persönlichen Daten von Frau H. waren in Eurodac registriert, und im Falle eines Eurodac-Treffers verkürzt sich die Frist auf zwei Monate (5. März 2016). Die deutschen Behörden erhielten am 21. März 2016 ein Wiederaufnahmegesuch von ihren niederländischen Kollegen. Die Frist für ein Wiederaufnahmegesuch war also bereits abgelaufen, als die deutschen Behörden das Wiederaufnahmegesuch erhielten. Unter diesen Umständen hilft das Wiederaufnahmesystem dem betroffenen Asylbewerber oder den betroffenen Mitgliedstaaten nicht, ihre Situation durch Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemäß den Kriterien betreffend die Einheit der Familie in Kapitel III der Dublin‑III-Verordnung zu klären.

76.      Angesichts des Wortlauts und des Ziels der Dublin‑III-Verordnung sollten die Vorschriften zur Wiederaufnahme dahin ausgelegt werden, dass die in der Charta verankerten Garantien auf Schutz des Familienlebens gewahrt sind. Kann eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, eine Beziehung zu einem Familienangehörigen im Sinne von Art. 2 Buchst. g der Dublin‑III-Verordnung nachweisen, und beruft sie sich auf Art. 9 der Verordnung, sollte also der Mitgliedstaat, der ein Wiederaufnahmegesuch zu stellen gedenkt, die Kriterien betreffend die Einheit der Familie bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemäß Art. 3 Abs. 1 berücksichtigen, es sei denn, dass die zuständigen Behörden nachweisen können, dass die Person eine familiäre Bindung eingegangen ist, nur um die Anwendung der Dublin‑III-Verordnung zu verhindern.

 Art. 27 der DublinIII-Verordnung

77.      Art. 27 der Dublin‑III-Verordnung unterscheidet für die Überprüfung einer Überstellungsentscheidung nicht zwischen einem Aufnahme- und einem Wiederaufnahmegesuch. Daher sollte eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, in beiden Fällen das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel in dem Mitgliedstaat haben, in dem die Kapitel‑III-Kriterien mutmaßlich fehlerhaft angewendet wurden(65). Durch diese Auslegung ist sichergestellt, dass das in Art. 27 verankerte Recht auf einen Rechtsbehelf nicht seiner praktischen Wirksamkeit beraubt wird(66).

78.      Im Urteil Ghezelbash stellte der Gerichtshof fest, dass dem Wortlaut des Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung eindeutig zu entnehmen sei, dass das in dieser Bestimmung vorgesehene Rechtsmittel wirksam sein müsse und auf Sach- und Rechtsfragen gerichtet sei. Des Weiteren beschränke der Wortlaut nicht das Vorbringen, auf das sich der Asylbewerber im Rahmen dieses Rechtsmittels stützen könne(67). Der Gerichtshof wies außerdem darauf hin, dass zur Sicherstellung der Einhaltung des Völkerrechts nach dem 19. Erwägungsgrund das durch die Dublin‑III-Verordnung geschaffene wirksame Rechtsmittel gegen Überstellungsentscheidungen zum einen die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung und zum anderen die Prüfung der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat umfassen sollte, in den der Antragsteller überstellt werden solle(68). Hier ist der erste Teil der Prüfung von Bedeutung; und die frühere Entscheidung des Gerichtshofs kann und sollte nach meinem Dafürhalten in den vorliegenden Umständen angewendet werden. Dies steht auch vollumfänglich in Einklang mit dem ausdrücklichen Zweck der Dublin‑III-Verordnung, nämlich dem der Kontrolle der praktischen Anwendung der Verordnung durch ein Gericht(69).

79.      Ich möchte hinzufügen, dass es hier nicht darum geht, ob Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, ein Recht auf einen Rechtsbehelf gegen sämtliche Überstellungsentscheidungen haben sollten, wenn ein Mitgliedstaat einem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben hat. Eines solchen Rechts bedarf es nur in den Fällen, in denen sich ein Antragsteller auf ein konkurrierendes Kriterium aus Kapitel III berufen kann, insbesondere auf das Kriterium der Einheit der Familie, und in denen also eine fehlerhafte Anwendung der Kriterien in Betracht kommt.

80.      Ich komme daher zu dem Ergebnis, dass die Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass dann, wenn eine Person in einem Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz stellt und daraufhin in einen zweiten Mitgliedstaat reist und dort einen weiteren Antrag stellt und danach eine auf ein Wiederaufnahmegesuch ergehende Überstellungsentscheidung wegen einer Fehlanwendung der Kapitel‑III-Kriterien, insbesondere der Bestimmungen zur Einheit der Familie einschließlich Art. 9 der Verordnung, durch den zweiten Mitgliedstaat anfechten möchte, die zuständigen Behörden verpflichtet sind, die einschlägigen Kriterien in Kapitel III anzuwenden. Gemäß Art. 27 Abs. 1 der Verordnung unterliegen solche Entscheidungen der Überprüfung durch ein nationales Gericht, um die fehlerfreie Anwendung der Kriterien sicherzustellen.

 Zweite Frage

81.      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, inwiefern es unter den Umständen der ersten Frage von Bedeutung ist, dass in dem ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, bereits eine Entscheidung über diesen Antrag ergangen ist oder dass der Antragsteller den Antrag zurückgenommen hat.

82.      Zum Ersten geht nicht klar aus dem Vorlagebeschluss hervor, in welchem Zusammenhang die zweite Frage mit dem Sachverhalt der vorliegenden Rechtssachen steht. Das vorlegende Gericht geht nicht darauf ein, ob die angesprochene Entscheidung des ersten Gerichts im Rahmen der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats oder der materiellen Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz ergangen ist.

83.      Zum Zweiten ergibt der Sachverhalt im Falle von Frau H., dass die deutschen Behörden weder die eine noch die andere Entscheidung erlassen haben. In der Rechtssache R. hat die deutsche Regierung in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass zu dem Zeitpunkt, zu dem die niederländischen Behörden das Wiederaufnahmegesuch gestellt hätten (23. April 2016), die entsprechenden deutschen Behörden noch keine Entscheidung in der Sache getroffen hatten. Frau R. sei erst am 6. Oktober 2016 subsidiärer Schutz gewährt worden. Der Sachverhalt gibt keine Hinweise darauf, dass die beiden Antragstellerinnen ihren Antrag auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 27 oder Art. 28 der Verfahrensrichtlinie zurückgenommen haben.

84.      Obwohl also die tatsächliche Grundlage für die zweite Frage unklar ist, werde ich diese Frage der guten Ordnung halber gleichwohl in aller Kürze prüfen.

85.      Gemäß Art. 7 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung ist bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats von der Situation auszugehen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt. Dies ist der Anknüpfungspunkt. Der zuständige Mitgliedstaat ist im Hinblick auf die tatsächlichen Umstände zu diesem Zeitpunkt zu bestimmen, indem die Kriterien in Kapitel III, insbesondere das Kriterium der Einheit der Familie, angewendet werden (im ersten Prüfungsschritt). Die materielle Prüfung des Antrags für die Zwecke der Anerkennungsrichtlinie (zweiter Prüfungsschritt) folgt danach(70).

86.      Liegt der Sachverhalt so, dass der Antrag im ersten Mitgliedstaat geprüft oder zurückgenommen oder abgelehnt wurde, und dass der zweite Mitgliedstaat zu dem Ergebnis kommt, dass er nicht zuständig ist, ist der Status des Antrags auf internationalen Schutz im ersten Mitgliedstaat gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b, c, oder d für den ersten Prüfungsschritt insoweit relevant, als die Umstände Grundlage für ein Wiederaufnahmegesuch des zweiten Mitgliedstaats sind(71). Hält sich der Mitgliedstaat aber selbst für den zuständigen Mitgliedstaat und fährt mit dem zweiten Prüfungsschritt (materielle Prüfung) fort, ist eine Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz oder dessen Rücknahme im ersten Mitgliedstaat relevant, um die Zulässigkeit des Antrags gemäß den nationalen Regelungen zur Umsetzung von Art. 33 der Verfahrensrichtlinie zu prüfen(72). Der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, dass dann, wenn der erste Mitgliedstaat dem Antragsteller zum Zeitpunkt der Stellung des Folgeantrags in einem zweiten Mitgliedstaat bereits internationalen Schutz gewährt hat, die Person nicht mehr in den Anwendungsbereich der Dublin‑III-Verordnung fällt, da er kein „Antragsteller“ im Sinne von Art. 2 Buchst. c wäre.

87.      Ob also eine Entscheidung über den Antrag im ersten Mitgliedstaat ergangen ist oder ob der Antragsteller sein Gesuch zurücknimmt, ist nicht notwendigerweise maßgebend für die Prüfung der fehlerfreien Anwendung der Kapitel‑III-Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nach der Dublin‑III-Verordnung durch die zuständigen Behörden des zweiten Mitgliedstaats.

 Ergebnis

88.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) gestellten Fragen wie folgt zu beantworten:

–        Die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen zuständig ist, ist dahin auszulegen, dass dann, wenn eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat stellt und anschließend in einen anderen Mitgliedstaat reist und dort einen weiteren Antrag stellt und eine auf ein Wiederaufnahmegesuch ergehende Überstellungsentscheidung mit der Begründung anfechten möchte, dass der zweite Mitgliedstaat die Kriterien nach Kapitel III, insbesondere die Bestimmungen über die Einheit der Familie, einschließlich Art. 9 dieser Verordnung, fehlerhaft angewandt habe, die zuständigen Behörden die einschlägigen Kriterien nach Kapitel III anzuwenden haben. Gemäß Art. 27 Abs. 1 der Verordnung unterliegen solche Entscheidungen der Überprüfung durch die nationalen Gerichte, um die fehlerfreie Anwendung der Kriterien sicherzustellen.

–        Der Umstand, dass im ersten Mitgliedstaat eine Entscheidung über den Antrag ergangen ist oder dass der Antragsteller sein Gesuch zurücknimmt, ist nicht notwendigerweise maßgebend für die Prüfung der fehlerfreien Anwendung der Kriterien in Kapitel III durch die zuständigen Behörden im zweiten Mitgliedstaat, um den zuständigen Mitgliedstaat für die Zwecke der Verordnung Nr. 604/2013 zu bestimmen.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. 2013, L 180, S. 31; Dublin‑III-Verordnung). Die Verordnung ist Teil des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Dazu gehören außerdem die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9; Anerkennungsrichtlinie) sowie die Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60; Verfahrensrichtlinie).


3      ABl. 2010, C 83, S. 391.


4      Art. 7 entspricht den in Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (im Folgenden: EMRK) verankerten Rechten.


5      Die in Art. 47 der Charta enthaltenen Rechte entsprechen denen in den Art. 6 und 13 EMRK.


6      Neben der Dublin‑III-Verordnung gehören zu diesem System die Verordnung (EU) Nr. 603/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über die Einrichtung von „Eurodac“ für den Vergleich von Fingerabdrücken zum Zwecke der effektiven Anwendung der Verordnung Nr. 604/2013 und über die Anträge auf Abgleich mit Eurodac-Daten durch Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten und Europol zu Strafverfolgungszwecken sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1077/2011 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für das Betriebsmanagement von IT‑Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (ABl. 2013, L 180, S. 1; Eurodac-Verordnung) und die Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. 2003, L 222, S. 3), geändert durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 (ABl. 2014, L 39, S. 1).


7      Vierter Erwägungsgrund.


8      5. Erwägungsgrund.


9      14. Erwägungsgrund.


10      19. Erwägungsgrund.


11      32. Erwägungsgrund.


12      39. Erwägungsgrund.


13      Nach dem am 1. März 2008 in Kraft getretenen Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestellten Asylantrags gilt die Dublin‑III-Verordnung für diesen Staat. Das Abkommen wurde durch den Beschluss 2008/147/EG des Rates vom 28. Januar 2008 (ABl. 2008, L 53, S. 3) und durch Beschluss 2009/487/EG des Rates vom 24. Oktober 2008 (ABl. 2009, L 161, S. 6) genehmigt. Das Dublin-System findet außerdem Anwendung auf das Fürstentum Liechtenstein. Island und Norwegen wenden das Dublin-System auf der Grundlage bilateraler Abkommen mit der Europäischen Union an, die durch den Beschluss 2001/258/EG des Rates vom 15. März 2001 (ABl. 2001, L 93, S. 38) genehmigt wurden.


14      Weitere Artikel in Kapitel III enthalten Kriterien zum Schutz der Einheit der Familie. So ist im Falle eines unbegleiteten Minderjährigen gemäß Art. 8 der Mitgliedstaat zuständig, in dem sich ein Familienangehöriger oder eines der Geschwister des Minderjährigen rechtmäßig aufhält. In Art. 10 ist der Fall geregelt, dass ein Antragsteller einen Familienangehörigen in einem Mitgliedstaat hat, über dessen Antrag auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist. Art. 16 betrifft Antragsteller, die auf einen Familienangehörigen angewiesen sind, der sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhält. Ist eine Person, die internationalen Schutz beantragt, auf die Unterstützung ihres Kindes, eines ihrer Geschwister oder eines Elternteils angewiesen, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, oder ist das Kind, eines der Geschwister oder der Elternteil auf den Antragsteller angewiesen und hält sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat als der Antragsteller auf, ist gemäß Art. 16 Abs. 2 der Mitgliedstaat, in dem sich der Familienangehörige rechtmäßig aufhält, der zuständige Mitgliedstaat. Die Art. 8, 10 und 16 werde ich im Folgenden zusammenfassend als die „Kriterien betreffend die Einheit der Familie“ bezeichnen.


15      Die Art. 16 und 17 finden sich in Kapitel IV, das abhängige Personen und Ermessensklauseln umfasst.


16      In Art. 22 ist die Antwort auf ein Aufnahmegesuch geregelt. Kurz gesagt nimmt der ersuchte Mitgliedstaat die erforderlichen Überprüfungen vor und entscheidet über das Gesuch um Aufnahme innerhalb von zwei Monaten nach Erhalt des Gesuchs. Art. 24 regelt ein Wiederaufnahmegesuch, wenn im ersuchenden Mitgliedstaat kein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde. In Art. 25 sind die Regelungen für die Antwort auf ein Wiederaufnahmegesuch enthalten und in Art. 29 die Modalitäten und Fristen für eine Überstellung.


17      Siehe oben, Fn. 16.


18      Dazu gehören Fälle, in denen der Antragsteller Aufforderungen zur Vorlage von für den Antrag wesentlichen Informationen nicht nachgekommen ist, untergetaucht ist oder seinen Aufenthaltsort ohne Genehmigung verlassen hat.


19      Art. 33 Abs. 2 Buchst. a bzw. d. Gemäß Art. 2 Buchst. q ist ein „Folgeantrag“ ein erneuter Antrag auf internationalen Schutz, der nach dem Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird. Dies umfasst sowohl die ausdrückliche Rücknahme als auch die Rücknahme eines Antrags im Sinne von Art. 28 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie.


20      Siehe Art. 25 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung.


21      So der Sachverhalt nach meinem Verständnis der Akten des nationalen Gerichts.


22      Nach meinem Verständnis ersuchten die Niederlande Deutschland zur erneuten Prüfung des Gesuchs auf der Grundlage von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1560/2003; siehe auch Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet in der Rechtssache X (C‑47/17 und C‑48/17, EU:C:2018:212‚ Rn. 81) (Urteil vom 13. November 2018, EU:C:2018:900).


23      Nach Art. 19 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung erlöschen die Pflichten des ersuchten Mitgliedstaats zur Wiederaufnahme eines Asylbewerbers, wenn dieser Staat nachweisen kann, dass die betreffende Person das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat. Diese Bestimmung ermöglicht dem ersuchten Mitgliedstaat die Beurteilung, ob er tatsächlich der zuständige Mitgliedstaat im Sinne der Dublin‑III-Verordnung ist, wobei alle möglicherweise relevanten Beweismittel und Indizien gemäß Art. 22 Abs. 2 und Verordnung Nr. 1560/2003 zu berücksichtigen sind.


24      Urteile vom 7. Juni 2016, Ghezelbash (C‑63/15, EU:C:2016:409) und Karim (C‑155/15, EU:C:2016:410).


25      In der Rechtssache H. (C‑582/17) ist die Vorlagefrage des vorlegenden Gerichts mit der ersten Vorlagefrage in der Rechtssache R. (C‑583/17) identisch. In der Rechtssache H. (C‑582/17) gibt es keine zweite Vorlagefrage.


26      Siehe oben, Nr. 7.


27      Diese Vorschriften finden auch Anwendung, wenn der Antragsteller ohne Aufenthaltstitel seinen Aufenthaltsort in einen anderen Mitgliedstaat verlegt. Da sowohl Frau H. als auch Frau R. nacheinander Anträge in Deutschland und in den Niederlanden gestellt haben, ist diese Bedingung in Art. 18 Abs. 1 Buchst. b, c, d oder in Art. 20 Abs. 5 vorliegend maßgeblich.


28      Siehe oben, Nr. 17.


29      Siehe unten, Nrn. 85 bis 87.


30      Siehe unten, Nr. 75.


31      Art. 18 Abs. 1 Buchst. a findet dann Anwendung, wenn ein Aufnahmegesuch gestellt wird. Da im Vorlagebeschluss keine Informationen dahin enthalten sind, ob die niederländischen Behörden ein solches Gesuch an die entsprechenden deutschen Behörden übermittelt haben, befasse ich mich mit dieser Vorschrift nicht weiter.


32      Urteil vom 7. Juni 2016, Ghezelbash (C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 41).


33      Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 56); vgl. auch die Definition von „Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz“ oben in Nr. 7.


34      Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 57); siehe auch den 5. Erwägungsgrund der Dublin‑III-Verordnung. Vgl. auch oben, Nrn. 37 und 39.


35      Siehe Art. 1 der Eurodac-Verordnung.


36      Die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. 2003 L 50, S. 1; Dublin‑II-Verordnung), Teil des früheren Systems, wurde durch die Dublin‑III-Verordnung aufgehoben und ersetzt.


37      Urteil vom 7. Juni 2016, Ghezelbash (C‑63/15, EU:C:2016:409‚ Rn. 45 bis 47); siehe auch oben, Nr. 43.


38      Urteile vom 7. Juni 2016, Ghezelbash (C‑63/15, EU:C:2016:409‚ Rn. 51) und vom 26. Juli 2017, Mengesteab (C‑670/16, EU:C:2017:587, Rn. 45).


39      Urteil vom 26. Juli 2017, Mengesteab (C‑670/16, EU:C:2017:587, Rn. 49, 50 und 52); siehe auch Urteil vom 25. Oktober 2017, Shiri (C‑201/16, EU:C:2017:805, Rn. 39).


40      Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 59 bis 63); vgl. außerdem den 9. Erwägungsgrund.


41      Urteil vom 6. November 2012, K (C‑245/11, EU:C:2012:685, Rn. 36); vgl. auch oben, Fn. 14.


42      Siehe Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 und Art. 17 Abs. 1.


43      Urteil vom 6. Juni 2013, MA u. a. (C‑648/11, EU:C:2013:367, Rn. 50 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


44      Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 59 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


45      Urteil vom 25. Januar 2018, Hasan (C‑360/16, EU:C:2018:35, Rn. 73 und 74).


46      Urteil vom 26. Juli 2017, Mengesteab (C‑670/16, EU:C:2017:587, Rn. 93).


47      Vgl. entsprechend der Wortlaut der Dublin‑III-Verordnung, der im Urteil vom 6. Juni 2013, MA u. a. (C‑648/11, EU:C:2013:367, Rn. 51 bis 53) geprüft wurde.


48      Begründung des Vorschlags der Kommission KOM(2001) 447, Nr. 2.1; vgl. auch Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen, SEK(2000) 522, Nr. 22.


49      Vgl. Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen, SEK(2000) 522, Begründung des Vorschlags der Kommission KOM(2001) 447, Nr. 3.1, sowie die Begründung des Vorschlags der Kommission (KOM[2008] 820, Nr. 3.2).


50      Siehe oben, Nr. 44.


51      Der Begriff Familie in Art. 8 der EMRK ist nicht nur auf eheliche Beziehungen beschränkt, sondern kann andere de facto familiäre Bindungen, wie außereheliches Zusammenleben, umfassen, EGMR, 18. Dezember 1986, Johnston u. a. [GC], ECLI:CE:ECHR:1986:1218JUD000969782, § 56. Selbst ohne ein Zusammenleben können ausreichende Bindungen für ein Familienleben vorhanden sein, EGMR, 7. November 2013, Vallianatos u. a./Griechenland [GC], ECLI:CE:ECHR:2013:1107JUD002938109, § 49 und § 73.


52      Dieser Ansatz wurde als Grundsatz, nach dem der zuständige Mitgliedstaat bestimmt wird, verworfen; siehe Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen SEK(2000) 522, Nr. 56, vierter Gedankenstrich.


53      Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen, SEK(2000) 522, Nr. 6.


54      Siehe oben, Nr. 59.


55      Siehe Begründung des Vorschlags der Kommission, KOM(2008) 820, Nr. 4, vierter Gedankenstrich.


56      Begründung des Vorschlags der Kommission, KOM(2008) 820, Nr. 4.


57      Interinstitutionelles Dossier 2008/0243 (COD), 12364/09 Asile 56 CODEC 1000 vom 27. Juli 2009, Anlage II, S. 37.


58      14. Erwägungsgrund der Dublin-III-Verordnung.


59      Das am häufigsten einschlägige Kriterium aus Kapitel III ist Art. 13; siehe Urteil vom 26. Juli 2017, Jafari (C‑646/16, EU:C:2017:586, Rn. 87) sowie die Studie von ICF International im Auftrag der Europäischen Kommission vom 18. März 2016 „Evaluation of the Implementation of the Dublin III Regulation – Final Report“.


60      Richtlinie vom 22. September 2003 (ABl. 2003, L 251, S. 12).


61      Vgl. Erwägungsgründe 3 und 4 der Richtlinie 2003/86.


62      Grund hierfür ist, dass Informationen zum Hintergrund und zu den Lebensumständen eines Antragstellers effizienter ermittelt werden können, wenn ein Mitgliedstaat die Umstände der Familienangehörigen prüft, die aus demselben Ursprungsland stammen; vgl. S. 7 der Begründung zu KOM(2001) 447 endg.


63      Urteil vom 26. Juli 2017, Mengesteab (C‑670/16, EU:C:2017:587, Rn. 50).


64      Glücklicherweise trug die deutsche Regierung bei der mündlichen Verhandlung nähere Angaben zum Fortgang beider Fälle, von Frau H. und Frau R., vor.


65      Urteil vom 26. Juli 2017, Mengesteab (C‑670/16, EU:C:2017:587, Rn. 57 und 58).


66      Urteil vom 26. Juli 2017, A.S. (C‑490/16, EU:C:2017:585, Rn. 34).


67      Urteil vom 7. Juni 2016 (C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 36).


68      Urteil vom 7. Juni 2016, Ghezelbash (C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 39 und 44).


69      Urteil vom 26. Juli 2017, Mengesteab (C‑670/16, EU:C:2017:587, Rn. 46).


70      Siehe oben, Nr. 42.


71      Siehe oben, Nr. 37.


72      Siehe oben, Nr. 17.