Language of document : ECLI:EU:C:2006:406

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 15. Juni 2006(1)

Rechtssache C‑467/04

G. Francesco Gasparini

Jose Mª L.A. Gasparini

G. Costa Bozzo

Juan de Lucchi Calcagno

Francesco Mario Gasparini

José A. Hormiga Marrero

Sindicatura Quiebra






1.        Mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen begehrt die Audiencia Provincial Málaga, Sección Primera, Auskunft über die Tragweite des in Artikel 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen(2) (im Folgenden: Durchführungsübereinkommen) niedergelegten Grundsatzes ne bis in idem.

2.        Das vorlegende Gericht möchte insbesondere wissen, ob nach diesem Grundsatz die Entscheidung eines Gerichts eines Mitgliedstaats, durch die ein weiteres Strafverfahren wegen eines bestimmten Sachverhalts ausgeschlossen ist, weil die Verfolgung der Straftat nach innerstaatlichem Recht verjährt ist, eine Entscheidung ist, die die Strafgerichte eines anderen Mitgliedstaats daran hindert, denselben oder einen anderen Angeklagten wegen einer Straftat zu verfolgen, der derselbe Sachverhalt zugrunde liegt.

3.        Zur Beantwortung dieser Frage muss sich der Gerichtshof mit einen der grundlegenden Aspekte des in Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens (und damit zwangsläufig allgemein im Gemeinschaftsrecht) verankerten Grundsatzes ne bis in idem befassen, nämlich mit der Frage, ob der Grundsatz nur Anwendung findet, wenn das erste Gericht seine Entscheidung nach Prüfung in der Sache getroffen hat.

 Maßgebliche Vorschriften

 Vorschriften in Bezug auf den Schengen-Besitzstand und das Durchführungsübereinkommen

4.        Nach Artikel 1 des Protokolls zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union(3) (im Folgenden: Protokoll) sind dreizehn Mitgliedstaaten der Europäischen Union, darunter Spanien und Portugal, ermächtigt, untereinander eine verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen des so genannten Schengen-Besitzstands zu begründen.

5.        Nach dem Anhang zum Protokoll gehören zum „Schengen-Besitzstand“ das am 14. Juni 1985 in Schengen unterzeichnete Übereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen(4) (im Folgenden: Schengener Übereinkommen) sowie insbesondere das Durchführungsübereinkommen.

6.        Ziel der Unterzeichner des Schengener Übereinkommens und des Durchführungsübereinkommens ist es, die „Abschaffung der Kontrollen des Personenverkehrs an den gemeinsamen Grenzen … zu verwirklichen“(5), da „die immer engere Union zwischen den Völkern der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften ihren Ausdruck im freien Überschreiten der Binnengrenzen durch alle Angehörigen der Mitgliedstaaten … finden muss“(6). Der Schengen-Besitzstand hat nach dem ersten Absatz der Präambel des Protokolls zum Ziel, „die europäische Integration zu vertiefen und insbesondere der Europäischen Union die Möglichkeit zu geben, sich schneller zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln“.

7.        Nach Artikel 2 Absatz 1 vierter Gedankenstrich EU gehören zu den Zielen der Europäischen Union die Erhaltung und die Weiterentwicklung eines solchen Raumes, in dem in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität der freie Personenverkehr gewährleistet ist.

8.        Nach Artikel 2 Absatz 1 Unterabsatz 1 des Protokolls ist ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Amsterdam der Schengen-Besitzstand für die in Artikel 1 dieses Protokolls aufgeführten dreizehn Mitgliedstaaten sofort anwendbar.

9.        Der Rat hat nach Artikel 2 Absatz 1 Unterabsatz 2 Satz 2 des Protokolls den Beschluss 1999/436/EG zur Festlegung der Rechtsgrundlagen für die einzelnen Bestimmungen und Beschlüsse, die den Schengen-Besitzstand bilden, nach Maßgabe der einschlägigen Bestimmungen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und des Vertrags über die Europäische Union(7) erlassen. Aus Artikel 2 dieses Beschlusses in Verbindung mit Anhang A des Beschlusses ergibt sich, dass der Rat die Artikel 34 EU und 31 EU, die zum Titel VI des Vertrags über die Europäische Union („Bestimmungen über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen“) gehören, als Rechtsgrundlagen für die Artikel 54 bis 58 des Durchführungsübereinkommens festgelegt hat.

10.      Die Artikel 54 bis 58 des Durchführungsübereinkommens bilden zusammen das Kapitel 3 „Verbot der Doppelbestrafung“ des Titels III „Polizei und Sicherheit“ dieses Übereinkommens(8).

11.      Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens lautet: „Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann“.

12.      Artikel 57 des Durchführungsübereinkommens enthält Bestimmungen, durch die sichergestellt werden soll, dass die zuständigen Behörden der Vertragsparteien bei der Erteilung von Auskünften zwecks Durchsetzung des Grundsatzes ne bis in idem zusammenarbeiten.

 Internationale Übereinkommen über den Grundsatz ne bis in idem

13.      Mehrere Übereinkommen regeln unmittelbar oder mittelbar die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem auf internationaler oder europäischer Ebene(9). Artikel 4 des Protokolls Nr. 7 zur Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) befasst sich dabei speziell mit dem Grundsatz ne bis in idem.

14.      Artikel 4 Absatz 1 des Protokolls Nr. 7 bestimmt: „Niemand darf wegen einer Straftat, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden.“ Artikel 4 Absatz 2 sieht dagegen vor, dass „Artikel 1 … die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht [ausschließt], falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist“.

15.      Auf Artikel 4 Absatz 2 des Protokolls Nr. 7 bezog sich der Gerichtshof, als er feststellte, dass der Grundsatz ne bis in idem ein tragender Grundsatz des Gemeinschaftsrechts sei(10).

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16.      Das Vorabentscheidungsersuchen geht aus einem Strafverfahren hervor, das in Spanien wegen der Vermarktung von Olivenöl gegen eine Reihe von Personen eingeleitet wurde, die mit dem spanischen Unternehmen Minerva SA in Verbindung stehen.

17.      Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass die Minerva SA, die ihren Sitz in Málaga hat, im Jahr 1989 gegründet wurde und ihr Gesellschaftszweck im Raffinieren und im Verkauf von nicht abgefülltem Olivenöl bestand. Sie vermarktete ihre Erzeugnisse sowohl in Spanien als auch im Ausland. Im Jahr 1997 wurde ein Strafverfahren gegen ihre Anteilseigner und Geschäftsführer eingeleitet, die ich im Folgenden als „in Portugal Angeklagte“ bezeichnen werde. In diesem Strafverfahren wurde offenbar vorgebracht, dass die Anteilseigner und Geschäftsführer 1993 übereingekommen waren, aus Tunesien und der Türkei stammendes Lampant-Öl über den Hafen von Setúbal in Portugal einzuführen, dass eine Reihe von Ladungen nach Setúbal verbracht wurden, dass das Öl bei den Zollbehörden nicht deklariert, jedoch mit Fahrzeugen nach Málaga in Spanien befördert wurde, und dass ein System gefälschter Rechnungen ersonnen wurde, mit dem vorgetäuscht wurde, dass das Öl aus der Schweiz stammte.

18.      Zu den im spanischen Verfahren Angeklagten (im Folgenden: in Spanien Angeklagte) gehören auch zwei in Portugal Angeklagte.

19.      Ausweislich des Vorabentscheidungsersuchens stellte das Supremo Tribunal, bei dem die Anklagebehörde im portugiesischen Verfahren gegen das Urteil des Tribunal Judicial de Setúbal – Vara Competência Mista (im Folgenden: Strafgericht in Setúbal) Rechtsmittel eingelegt hatte, fest, „dass das nach Portugal eingeführte Lampant-Öl in zehn Fällen aus Tunesien und in einem Fall aus der Türkei stammte und dass in Portugal die Einfuhr einer geringeren Menge als der tatsächlichen deklariert wurde; es sprach die [in Portugal] Angeklagten frei, da es die Straftat [nach dem portugiesischen Strafgesetzbuch] als verjährt ansah“.

20.      Ich weise sogleich darauf hin, dass die Richtigkeit der Sachverhaltsdarstellung des vorlegenden Gerichts von den in Spanien Angeklagten entschieden bestritten wird. Ich werde diesen Punkt eingehend bei der Prüfung der Zulässigkeit erörtern(11).

21.      In Spanien wurde 1997 in Málaga ebenfalls ein Strafverfahren eingeleitet. Der Juzgado de Instrucción (Untersuchungsrichter) erließ einen Beschluss über die Eröffnung eines vereinfachten Strafverfahrens. Die in Spanien Angeklagten legten gegen diesen Beschluss Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht ein.

22.      Die Angeklagten machten im Wesentlichen geltend, dass die Tat bereits in Portugal abgeurteilt sei. Da bereits Rechtskraft eingetreten sei, könne in Spanien somit nicht erneut über diese Tat entschieden werden. Sie trugen auch vor, dass ohne Rücksicht darauf, dass die konkreten Entscheidungen der portugiesischen Gerichte nur zwei der in Spanien Angeklagten beträfen, allen in Spanien Angeklagten eine Reflexwirkung der Rechtskraft der strafrechtlichen Entscheidung zugute kommen müsse. Außerdem sei im portugiesischen Strafverfahren nicht nachgewiesen worden, dass die Ware nicht aus der Gemeinschaft stamme.

23.      Die Anklagebehörde ist der Auffassung, das spanische Strafverfahren beziehe sich nicht auf die rechtswidrige Einfuhr des Öls (über die bereits in Portugal entschieden worden sei), sondern auf die anschließende Vermarktung in Spanien, die von der Einfuhr unabhängig sei. Auch schließe der Umstand, dass die Herkunft der Ware von außerhalb der Gemeinschaft in Portugal nicht nachgewiesen worden sei, nicht aus, dass andere Mitgliedstaaten, in denen die Ware später vertrieben worden sei, die Untersuchungen ausweiteten, um zu zeigen, dass die Ware nicht aus der Gemeinschaft stamme und unter Umgehung des Gemeinschaftszolls heimlich eingeführt worden sei.

24.      Die Angeklagten erwidern, dass die Straftat des Schmuggels eine Begehungstat sei und dass, da die Ware gerade zum Zwecke der Vermarktung eingeführt worden sei, ihre Einfuhr und ihre Vermarktung unlösbar miteinander verbunden seien und nicht unabhängig voneinander beurteilt werden könnten.

25.      Das vorlegende Gericht hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Was die Rechtskraft der strafrechtlichen Entscheidung betrifft, benötigt das vorlegende Gericht die Auslegung von Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens zu folgenden Punkten:

1.      Ist die Feststellung der Verjährung einer Straftat durch die Gerichte eines Gemeinschaftsstaats für die Gerichte der übrigen Gemeinschaftsstaaten bindend?

2.      Hat der Freispruch eines wegen einer Straftat Angeklagten aufgrund der Verjährung begünstigende Reflexwirkungen für in einem anderen Mitgliedstaat Angeklagte, wenn es sich um identische Sachverhalte handelt? Oder, was dem gleichkommt, könnte davon ausgegangen werden, dass die Verjährung auch den in einem anderen Gemeinschaftsstaat Angeklagten zugute kommt, wenn ein identischer Sachverhalt zugrunde liegt?

3.      Können die Gerichte eines Gemeinschaftsstaats, wenn die Strafgerichte eines anderen Gemeinschaftsstaats im Zusammenhang mit einer Schmuggelstraftat feststellen, dass eine Ware nicht von außerhalb der Gemeinschaft stammt, und den Angeklagten freisprechen, den Umfang der Untersuchung ausweiten, um zu zeigen, dass die ohne Zollentrichtungen vorgenommene Einfuhr der Ware aus einem nicht zur Gemeinschaft gehörenden Staat erfolgt ist?

Was den Begriff der Ware im zollrechtlich freien Verkehr angeht, benötigt das vorlegende Gericht die Auslegung von Artikel 24 EG zu folgenden Punkten:

4.      Wenn ein Strafgericht der Gemeinschaft festgestellt hat, dass nicht feststeht, dass die Ware rechtswidrig in das Gebiet der Gemeinschaft eingeführt worden ist, oder dass die Schmuggelstraftat verjährt ist, kann dann

a)      diese Ware im übrigen Gemeinschaftsgebiet als im zollrechtlich freien Verkehr befindlich angesehen werden;

b)      die Vermarktung in einem anderen Gemeinschaftsstaat im Anschluss an die Einfuhr in den Gemeinschaftsstaat, in dem der Freispruch ergeht, als eigenständige und somit strafbare Handlung angesehen werden, oder ist sie im Gegenteil als mit der Einfuhr untrennbar zusammenhängende Handlung zu betrachten?

26.      Die in Spanien Angeklagten mit Ausnahme von José Hormiga Marrero und der Sindicatura Quiebra sowie die Kommission, Spanien, Italien, die Niederlande und Polen haben schriftliche Erklärungen eingereicht. In der Sitzung haben diese Beteiligten – mit Ausnahme von Polen – sowie Frankreich mündliche Erklärungen abgegeben.

 Erörterung

 Zulässigkeit

27.      Gemäß Artikel 35 EU hat Spanien die Zuständigkeit des Gerichtshofes für Vorabentscheidungen über die Gültigkeit und die Auslegung von Handlungen nach Titel VI des EU-Vertrags anerkannt. Spanien entschied sich für die Möglichkeit nach Artikel 35 Absatz 3 Buchstabe a EU, wonach nur ein innerstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorlegen kann.

28.      In der Sitzung hat Spanien vorgetragen, das vorlegende Gericht falle hier in den Geltungsbereich des Artikels 35 Absatz 3 Buchstabe a EU, da seine Entscheidung über das von den Angeklagten eingelegte Rechtsmittel(12), das zu dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen führte, nicht mehr mit gewöhnlichen Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden könne. Gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofes nach Artikel 234 EG zu dem Begriff des „Gerichts, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können“ ist das vorlegende Gericht somit zutreffend als ein letztinstanzliches Gericht im Sinne des Artikel 35 Absatz 3 Buchstabe a EU anzusehen. Das Vorabentscheidungsersuchen ist somit grundsätzlich zulässig.

29.      Eine schwer zu beantwortende Frage der Zulässigkeit könnte sich aus der Abfassung des Beschlusses ergeben. Zwar hat keiner der Beteiligten, der Erklärungen abgegeben hat, ausdrücklich vorgeschlagen, die Vorlagefragen wegen der Art ihrer Abfassung als unzulässig anzusehen, doch haben einige die tatsächlichen Feststellungen des Vorabentscheidungsersuchens in wesentlichen Punkten beanstandet.

30.      Die in Spanien Angeklagten machen geltend, die Darlegungen des vorlegenden Gerichts zum Sachverhalt, insbesondere die Wiedergabe der Feststellungen des portugiesischen Supremo Tribunal, seien schlicht falsch.

31.      Die Angeklagten zitieren in ihren schriftlichen Erklärungen Passagen aus dem Urteil des genannten Gerichts. Sie haben sich in der mündlichen Verhandlung auch eingehend auf das erstinstanzliche Urteil des Strafgerichts in Setúbal bezogen. Sie behaupten, dass in Wirklichkeit beide Gerichte nach Prüfung der vorgelegten Beweise festgestellt hätten, dass die Anklagebehörde den Nachweis der rechtswidrigen Einfuhr nicht habe erbringen können, was das genaue Gegenteil der Feststellungen im Vorabentscheidungsersuchen sei.

32.      Auch die Kommission, und in geringerem Umfang die niederländische Regierung, vertreten in ihren Erklärungen die Auffassung, die Annahme, die der dritten und vierten Vorlagefrage offensichtlich zugrunde liege (dass im Zusammenhang mit einer Schmuggelstraftat nicht festgestellt wurde, dass eine Ware rechtswidrig eingeführt und von außerhalb der Gemeinschaft stammt), stehe im offenen Widerspruch zu den oben dargelegten tatsächlichen Feststellungen im Vorabentscheidungsersuchen(13).

33.      Nach Prüfung der Urteile des Strafgerichts in Setúbal und des portugiesischen Supremo Tribunal(14) ist für mich klar, dass das Vorabentscheidungsersuchen irreführend ist und den Sachverhalt in einer Weise zusammenfasst, die mit den genannten Urteilen eindeutig nicht im Einklang steht. Aus den Urteilen geht hervor, dass den in Portugal Angeklagten vier Straftaten zur Last gelegt wurden, denen ein und derselbe Sachverhalt zugrunde lag, nämlich die Einfuhr verschiedener Ölsorten nach Portugal in mehreren Fällen. Durch einen besonderen Beschluss des Strafgerichts in Setúbal wurde erstinstanzlich festgestellt, dass die Verfolgung von zwei dieser Straftaten verjährt war. Die in Portugal Angeklagten wurden in der ersten Instanz von den beiden anderen Anklagepunkten freigesprochen, da die Anklage ihnen die erforderlichen Tatumstände nicht nachgewiesen hatte. Beide Entscheidungen wurden sodann im Rechtsmittelverfahren vom portugiesischen Supremo Tribunal bestätigt. Aus den Akten geht jedoch nicht eindeutig hervor, ob die beiden Freisprüche die Folge des Strafverfahrens im eigentlichen Sinne oder des parallelen Zivilverfahrens waren, in dem die etwaige zivilrechtliche Haftung der Angeklagten von denselben Gerichten geprüft wurde(15).

34.      Ich bin jedoch nicht der Auffassung, dass die Vorlagefragen für unzulässig erklärt werden sollten. Nach ständiger Rechtsprechung ist es allein Sache des nationalen Gerichts, den Gegenstand der Fragen zu bestimmen, die es dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vorlegen möchte(16). Das nationale Gericht hat ausgeführt, es benötige Hilfe bei der Frage nach der Tragweite bestimmter Aspekte des in Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens niedergelegten Grundsatzes ne bis in idem (Frage 1, 2 und 3) und bei der Frage nach dem Begriff der „Ware im freien Verkehr“ im Sinne des Artikels 24 EG (Frage 4). Es ist offensichtlich, dass die ersten drei Fragen erheblich sind, und es kann nicht mit Bestimmtheit ausgeschlossen werden, dass eine Antwort auf die vierte Frage für einen Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Strafverfahrens ebenfalls erheblich sein kann.

35.      Ich bin daher der Auffassung, dass alle Fragen zulässig sind und beantwortet werden müssen.

 Zur Hauptsache

 Die Rechtsprechung des Gerichtshofes zum Grundsatz ne bis in idem

36.      Bisher hat der Gerichtshof den in Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens niedergelegten Grundsatz ne bis in idem in drei Urteilen ausgelegt, nämlich in den Urteilen Gözütok und Brügge(17), Miraglia(18) und Van Esbroeck(19).

37.      Darüber hinaus hat der Gerichtshof den allgemeinen Grundsatz ne bis in idem in anderen Bereichen des Gemeinschaftsrechts ausgelegt(20). Am weitgehendsten fand der Grundsatz in den Urteilen Anwendung, die die Verhängung von Gemeinschaftssanktionen nach dem gemeinschaftlichen Wettbewerbsrecht betrafen(21). Von diesen Entscheidungen sind für den vorliegenden Fall am wichtigsten die Urteile Vinyl Maatschappij(22) und Zement(23).

 Rechtsprechung zu Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens

38.      In der Rechtssache Gözütok und Brügge ist der Gerichtshof danach gefragt worden, ob der in Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens verankerte Grundsatz ne bis in idem auf ein nationales Verfahren Anwendung findet, in dem die Anklagebehörde in einer außergerichtlichen Vereinbarung ohne Tätigwerden des Gerichts einseitig die Einstellung des Strafverfahrens anbieten kann, sofern der Angeklagte bestimmte Auflagen erfüllt, insbesondere einen Geldbetrag zahlt. Die Erfüllung dieser Auflagen führt im Hinblick auf den betreffenden Sachverhalt im nationalen Strafrecht zum Strafklageverbrauch.

39.      Der Gerichtshof bejahte diese Frage. Er stellte fest, dass „der Betroffene als hinsichtlich der ihm vorgeworfenen Tat ‚rechtskräftig abgeurteilt‘ im Sinne des Artikels 54 des Durchführungsübereinkommens anzusehen ist, sofern die Strafklage aufgrund eines Verfahrens der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art endgültig verbraucht ist“(24).

40.      Der Gerichtshof begründete seine Feststellung wie folgt:

41.      Erstens befand er, dass „durch ein solches Verfahren … das dem Beschuldigten vorgeworfene unerlaubte Verhalten geahndet wird“(25).

42.      Zweitens vertrat er die Auffassung, dass die Tatsache, dass kein Gericht tätig wurde, „dieser Auslegung nicht [entgegensteht], da solche verfahrensrechtlichen und formalen Gesichtspunkte keinen Einfluss auf die … [strafklageverbrauchenden] Wirkungen dieses Verfahrens haben können, die mangels eines ausdrücklichen gegenteiligen Hinweises in Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens als für die Anwendung des darin vorgesehenen Verbotes der Doppelbestrafung ausreichend anzusehen sind“(26).

43.      Drittens wies der Gerichtshof darauf hin, dass die vorherige Harmonisierung des nationalen Strafrechts keine Voraussetzung für die Anwendung des Artikels 54 des Durchführungsübereinkommens war: „[W]eder eine Bestimmung des Titels VI des Vertrags über die Europäische Union [betreffend] die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen … noch eine Bestimmung des Schengen-Übereinkommens oder des Durchführungsübereinkommens selbst [machen] die Anwendung des Artikels 54 des Durchführungsübereinkommens von der Harmonisierung oder zumindest der Angleichung des Strafrechts der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der zum Strafklageverbrauch führenden Verfahren abhängig“(27).

44.      Viertens hob der Gerichtshof besonders das Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens zugrunde liegende Prinzip des gegenseitigen Vertrauens hervor. Dieses Prinzip impliziere zwingend, „dass ein gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme besteht und dass jeder Mitgliedstaat die Anwendung des in den anderen Mitgliedstaaten geltenden Strafrechts akzeptiert, auch wenn die Anwendung seines eigenen nationales Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde“(28).

45.      Fünftens war der Gerichtshof der Ansicht, dass „nur [diese Auslegung] Ziel und Zweck [des Artikels 54 des Durchführungsübereinkommens] Vorrang gegenüber verfahrensrechtlichen oder rein formalen Aspekten, die im Übrigen in den betroffenen Mitgliedstaaten unterschiedlich sind, einräumt und eine wirksame Anwendung dieses Verbotes gewährleistet“(29).

46.      Schließlich wies der Gerichtshof auf die Integrationsziele des EU-Vertrags hin. Er erinnerte daran, dass „sich die Europäische Union … zum Ziel gesetzt hat, die Union als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist, zu erhalten und weiterzuentwickeln“, und dass „mit der Umsetzung des Schengen-Besitzstands, zu dem Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens gehört, im Rahmen der Europäischen Union bezweckt [wird], die europäische Integration zu vertiefen und insbesondere der Union die Möglichkeit zu geben, sich schneller zu einem solchen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, dessen Erhaltung und Weiterentwicklung sie zum Ziel hat“(30). Vor diesem Hintergrund „[kann] Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens, der verhindern soll, dass eine Person, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, wegen derselben Tat in mehreren Mitgliedstaaten verfolgt wird, … zur vollständigen Verwirklichung dieses Zieles nur dann wirksam beitragen, wenn er auch auf Entscheidungen anwendbar ist, mit denen die Strafverfolgung in einem Mitgliedstaat endgültig beendet wird, auch wenn sie ohne Mitwirkung eines Gerichts und nicht in Form eines Urteils ergehen“(31).

47.      Der Gerichtshof legte bei seiner Entscheidung Wert darauf, dass der Anwendungsbereich von Verfahren, wie sie hier in Rede stehen, beschränkt ist und dass solche Verfahren im Allgemeinen nur auf Straftaten Anwendung finden, die nicht zu den schwersten zählen(32). Auch war für den Gerichtshof Ausgangspunkt seiner Prüfung der Umstand, dass mit den fraglichen abgekürzten Verfahren das in Rede stehende unerlaubte Verhalten tatsächlich geahndet wurde(33).

48.      In der Rechtssache Miraglia hatte der Gerichtshof einen anderen Aspekt des Artikels 54 des Durchführungsübereinkommens zu klären. Er stellte fest, dass „[e]ine gerichtliche Entscheidung …, die erging, nachdem die Staatsanwaltschaft beschlossen hatte, die Strafverfolgung nur deshalb nicht fortzusetzen, weil in einem anderen Mitgliedstaat Strafverfolgungsmaßnahmen gegen denselben Beschuldigten wegen derselben Tat eingeleitet worden sind und ohne dass eine Prüfung in der Sache erfolgt ist, … keine Entscheidung [ist], mit der der Betreffende im Sinne von Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens rechtskräftig abgeurteilt wird“(34). Demgemäß fand der Grundsatz ne bis in idem keine Anwendung.

49.      Die Erwägungen des Gerichtshofes im Urteil Miraglia entsprachen denen im Urteil Gözütok und Brügge, führten jedoch zum gegenteiligen Ergebnis. Wie im Urteil Gözütok und Brügge befand der Gerichtshof, dass nur die von ihm vorgenommene Auslegung „dem Gegenstand und dem Ziel [von Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens] den Vorrang gegenüber verfahrensrechtlichen Aspekten – die im Übrigen in den betroffenen Mitgliedstaaten unterschiedlich sind – einräumt und eine zweckdienliche Anwendung dieses Artikels gewährleistet“(35). Im Gegensatz zum Urteil Gözütok und Brügge jedoch räumte der Gerichtshof im Urteil Miraglia der Notwendigkeit, für eine Ahndung der Straftat zu sorgen, den Vorrang ein und stellte weniger auf die Förderung des freien Personenverkehrs ab. Er stellte fest, dass „[d]ie Anwendung [von Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens] auf eine Entscheidung über die Beendigung des Strafverfahrens wie die im Ausgangsverfahren fragliche … jedoch zur Folge [hätte], dass die konkrete Möglichkeit, das dem Beschuldigten angelastete rechtswidrige Verhalten in den betroffenen Mitgliedstaaten zu ahnden,beeinträchtigt oder sogar ausgeschlossen würde“(36). Das Gericht betonte, dass „eine solche Entscheidung von den Gerichten eines Mitgliedstaats ohne jegliche Beurteilung des dem Beschuldigten angelasteten rechtswidrigen Verhaltens erlassen [wird]“(37). Er führte weiter aus, dass „die Einleitung eines Strafverfahrens in einem anderen Mitgliedstaat wegen derselben Tat beeinträchtigt [würde], obwohl gerade die Einleitung solcher Verfolgungsmaßnahmen die Rechtfertigung dafür wäre, dass die Staatsanwaltschaft des ersten Mitgliedstaats auf die Strafverfolgung verzichtet. Eine solche Konsequenz liefe offensichtlich dem Zweck der Vorschriften des Titels VI des Vertrages über die Europäische Union zuwider, wie er in Artikel 2 Absatz 1 vierter Gedankenstrich EU zum Ausdruck kommt, nämlich der ‚Erhaltung und Weiterentwicklung der Union als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf … die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität der freie Personenverkehr gewährleistet ist‘“(38).

50.      Im Urteil Van Esbroeck schließlich hatte der Gerichtshof u. a. die Tragweite des Begriffes „dieselbe Tat“ im Sinne des Artikels 54 des Durchführungsübereinkommens zu klären. Die Frage stellte sich im Zusammenhang mit Strafverfahren, die in zwei verschiedenen Vertragsstaaten (Norwegen und Belgien)(39) wegen derselben Tat gegen ein und dieselbe Person eingeleitet worden waren, nämlich wegen der Beförderung nicht erlaubter Drogen von Belgien nach Norwegen. Der Angeklagte wurde in Norwegen wegen der Straftat der Einfuhr nicht erlaubter Stoffe und in Belgien wegen der Straftat der Ausfuhr dieser Stoffe verfolgt. Die Vorabentscheidungsfrage ging dahin, ob „dieselbe Tat“ nur die Identität des Sachverhalts voraussetzt oder ob sie darüber hinaus voraussetzt, dass die Tatsachen in beiden nationalen Strafrechtssystemen als dieselbe Straftat einzuordnen sind. Mit anderen Worten: Ist eine „Identität des geschützten Rechtsguts“ erforderlich, wie es der Gerichtshof in Bezug auf die Sanktionen der Gemeinschaft bei Verstößen gegen das gemeinschaftliche Wettbewerbsrecht verlangt hat?(40).

51.       Der Gerichtshof entschied sich dafür, den Grundsatz ne bis in idem weiter auszulegen, als er es früher auf jenem Gebiet des Gemeinschaftsrechts getan hatte, und stellte fest, dass die „Identität des geschützten Rechtsguts“ keine Voraussetzung für die Anwendung des Artikels 54 des Durchführungsübereinkommens ist. Nach dem Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache Van Esbroeck ist „das einzige maßgebende Kriterium“ für Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens, dass eine „Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände“, bestehen muss(41).

52.      Zu diesem Ergebnis gelangte der Gerichtshof aufgrund derselben Erwägungen wie im Urteil Gözütok und Brügge.

53.      Erstens stützte sich der Gerichtshof auf den Wortlaut des Artikels 54 des Durchführungsübereinkommens, der nur auf das Vorliegen der Tat abstellt, ohne auf ihre rechtliche Qualifizierung einzugehen(42).

54.      Zweitens berief sich der Gerichtshof auf die im Urteil Gözütok und Brügge angestellten Erwägungen zum „freien Personenverkehr“ und zum „gegenseitigen Vertrauen“. Er wies darauf hin, dass keine der einschlägigen Bestimmungen die Anwendung des in Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens niedergelegten Grundsatzes von der vorherigen Harmonisierung oder zumindest von der Angleichung der Strafvorschriften der Mitgliedstaaten abhängig mache(43). Der Grundsatz ne bis in idem verlange vielmehr zwingend, dass ein gegenseitiges Vertrauen der Vertragsstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme bestehe(44). Der Umstand, dass dieselbe Tat in zwei verschiedenen Vertragsstaaten rechtlich unterschiedlich qualifiziert werden könne, dürfe deshalb kein Hindernis für die Anwendung des Artikels 54 des Durchführungsübereinkommens sein.

55.      Drittens nahm der Gerichtshof Bezug auf das Ziel des Artikels 54 des Durchführungsübereinkommens und stellte fest, dass das Recht auf Freizügigkeit nur dann voll gewährleistet sei, wenn der Urheber einer Handlung wisse, dass er sich, wenn er in einem Mitgliedstaat verurteilt worden sei und die Strafe verbüßt habe oder endgültig freigesprochen worden sei, im Schengen-Gebiet frei bewegen könne, ohne ein neues Strafverfahren nur deshalb befürchten zu müssen, weil diese Handlung in der Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaats unterschiedlich qualifiziert werde(45).

56.      Der Gerichtshof kam zum Ergebnis, dass wegen der fehlenden Harmonisierung der nationalen Strafvorschriften „ein Kriterium, das auf der rechtlichen Qualifizierung der Tat oder auf dem geschützten rechtlichen Interesse beruht, ebenso viele Hindernisse für die Freizügigkeit im Schengen-Gebiet errichten [würde], wie es Strafrechtssysteme in den Vertragsstaaten gibt“(46).

 Rechtsprechung zum tragenden Grundsatz ne bis in idem im Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft

57.      Im Urteil Vinyl Maatschappij stellte der Gerichtshof fest, dass es sich bei dem Grundsatz ne bis in idem „um einen auch in Artikel 4 Absatz 1 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK verankerten tragenden Grundsatz des Gemeinschaftsrechts handelt“(47). Weiterhin führte das Gericht aus, dass der Grundsatz „einer Wiederaufnahme von Verfolgungsmaßnahmen, die das gleiche wettbewerbswidrige Verhalten betreffen, nicht [entgegensteht], wenn eine erste Entscheidung aus formalen Gründen ohne materielle Beurteilung des zur Last gelegten Sachverhalts für nichtig erklärt wurde; die Nichtigerklärung stellt dann keinen ‚Freispruch‘ im strafrechtlichen Sinne dar“(48).

58.      Im Urteil Zement machte der Gerichtshof die Anwendung des tragenden Grundsatzes ne bis in idem auf das Gebiet des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft von der „dreifachen Voraussetzung“ der „Identität des Sachverhalts, des Zuwiderhandelnden und des geschützten Rechtsguts“ abhängig(49).

 Differenzen in der bisherigen Rechtsprechung

59.      Bei einer Untersuchung dieser Rechtssachen zeigen sich in der Rechtsprechung zum Grundsatz ne bis in idem zwei Bereiche, in denen Differenzen bestehen.

60.      Erstens besteht ein gewisser Widerspruch innerhalb der Rechtsprechung des Gerichtshofes zu Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens.

61.      Im Urteil Gözütok und Brügge sowie im Urteil Van Esbroeck entschied sich der Gerichtshof für eine weite Auslegung des Artikels 54 des Durchführungsübereinkommens und räumte den Zielen des freien Personenverkehrs den Vorrang vor denen der Bekämpfung der Kriminalität und des Schutzes der öffentlichen Sicherheit ein. Im Urteil Miraglia dagegen nahm er eine engere Auslegung vor und räumte der Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität gegenüber dem freien Personenverkehr den Vorrang ein.

62.      Ferner betonte der Gerichtshof im Urteil Gözütok und Brügge sowie im Urteil Van Esbroeck den Grundsatz des „gegenseitigen Vertrauens“, das dem Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens zugrunde liegt, und sah die fehlende Harmonisierung nationaler Strafvorschriften und -verfahren nicht als ein Hindernis für die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem an. Im Urteil Gözütok und Brügge wandte der Gerichtshof daher diesen Grundsatz auf ein besonderes Verfahren an, das zum Strafklageverbrauch im „ersten“ Mitgliedstaat führte. Im Urteil Miraglia dagegen entschied der Gerichtshof, dass eine Sachentscheidung Voraussetzung für die Anwendung des in Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens niedergelegten Grundsatzes sei. Das Urteil Miraglia legt daher nahe, dass die Einstellung eines Verfahrens aus rein verfahrensrechtlichen Gründen im „ersten“ Mitgliedstaat gewöhnlich nicht ausreicht, um Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens zur Anwendung zu bringen.

63.      Zweitens besteht eine Unvereinbarkeit zwischen einerseits der Rechtsprechung zu Artikel 54 des Duchführungsübereinkommens, die (offenbar) eine „Identität des geschützten Rechtsguts“ nicht verlangt, aber bereit ist, den Grundsatz ne bis in idem anzuwenden, sofern eine „Identität der materiellen Tat“ besteht(50) und die Angeklagten in beiden Verfahren identisch sind(51), und andererseits der Rechtsprechung zum Grundsatz ne bis in idem als einem „tragenden Grundsatz des Gemeinschaftsrechts“, die für dessen Anwendung eine „dreifache Voraussetzung“ der „Identität des Sachverhalts, des Zuwiderhandelnden und des geschützten Rechtsguts“ verlangt(52).

 Die erste Frage

64.      Mit der ersten Frage wird um Aufklärung darüber gebeten, ob der in Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens niedergelegte Grundsatz ne bis in idem dahin auszulegen ist, dass er Anwendung findet, wenn ein zuständiges Gericht des „ersten“ Mitgliedstaates eine rechtskräftige Entscheidung (res iudicata) erlassen hat, die eine weitere Verfolgung bestimmter Personen ausschließt, weil nach den Strafvorschriften jenes Mitgliedstaates Verjährung eingetreten ist.

 Vorbemerkungen

65.      Vor Beantwortung der ersten Frage sind meines Erachtens eine Reihe von Vorbemerkungen erforderlich.

 Fristen

66.      In den meisten kontinentalen Rechtssystemen unterliegt das Recht eines Staates auf Einleitung eines Strafverfahrens bestimmten Fristen. Nach Ablauf dieser Fristen ist das Recht auf Verfolgung nach den einschlägigen Rechtsvorschriften verjährt. Erklärt ein zuständiges Gericht in letzter Instanz die Verfolgung für verjährt, wird die Sache zu einer „res iudicata“. Strafverfahren gegen denselben Tatverdächtigen wegen derselben Tat können dann in diesem Mitgliedstaat nicht mehr eingeleitet werden.

67.      Die Verjährungsfristen werden je nach Schwere der Straftat festgesetzt. Zwischen den Mitgliedstaaten fallen jedoch die Fristen, die für annähernd gleiche Straftaten gelten, sehr unterschiedlich aus(53).

68.      In den englischen, schottischen und irischen Rechtssystemen unterliegen demgegenüber Strafverfahren in der Regel keiner zeitlichen Beschränkung(54).

69.      Eine universelle Anerkennung der Verjährung gibt es somit nicht als allgemeinen Grundsatz der Strafrechtssysteme der Mitgliedstaaten.

70.      Mehrere Gründe werden zur Rechtfertigung der Verjährung des staatlichen Verfolgungsanspruchs angeführt. Zum Beispiel wird argumentiert, dass es nach Ablauf einer Reihe von Jahren im Interesse des sozialen Friedens besser sei, die Vergangenheit ruhen zu lassen, als die Emotionen, die die zur Last gelegte Straftat hervorgerufen hatte, neu zu beleben. Versäume es der Staat, den Angeklagten innerhalb der festgelegten Fristen vor Gericht zu stellen, rechtfertige dies den Verlust des gesellschaftlichen Strafanspruchs gegenüber den betreffenden Personen. Auf einer mehr praktischen Ebene schließlich gelte, dass je mehr Zeit seit der behaupteten Straftat vergangen sei, desto schwieriger die Beschaffung zuverlässiger Beweismittel und die Durchführung eines fairen Verfahrens sein dürfte.

71.      Alle diese Gründe beziehen sich auf die Effizienz der Strafrechtspflege und, allgemeiner gesagt, auf Erwägungen des Allgemeininteresses(55).

 Ratio des Grundsatzes ne bis in idem

72.      Der Grundsatz ne bis in idem folgt dagegen einer anderen Ratio. Dieser Grundsatz, dessen Ursprünge in den westlichen Rechtssystemen bis in die Antike zurückverfolgt werden können(56), wird in erster Linie (wenn auch nicht ausschließlich)(57) als ein Mittel verstanden, um den Einzelnen vor einem möglichen Missbrauch des staatlichen ius puniendi zu schützen(58). Der Staat darf nicht wiederholt versuchen, eine Person wegen einer angeblichen Straftat zu verurteilen. Ist ein mit den geeigneten Verfahrensgarantien ausgestattetes Verfahren durchgeführt und die Frage nach der möglichen Schuld der Person gegenüber der Gesellschaft geprüft worden, darf der Staat ihn nicht der Prüfung eines zweiten Verfahrens (oder, wie es in den angloamerikanischen Rechtssystemen heißt, nicht einer „double jeopardy [zweifachen Gefahr]“(59) aussetzen). Wie Richter Black vom Supreme Court der Vereinigten Staaten es prägnant formuliert hat, „[besteht] der grundlegende Gedanke … darin, dass der Staat mit all seinen Ressourcen und all seiner Macht nicht wegen derselben Straftat die Verurteilung einer Person wiederholt versuchen darf und ihn damit Schwierigkeiten, Kosten und Prüfungen aussetzen würde, ihn nötigen würde, in dauernder Angst und Unsicherheit zu leben, und die Gefahr erhöhen würde, dass er trotz Unschuld für schuldig befunden wird.“(60).

73.      Das Recht, nicht zweimal wegen derselben Tat verfolgt zu werden, hat sich somit zu einem vor dem jus puniendi des Staates zu schützenden Grundrecht entwickelt und ist in mehreren völkerrechtlichen Übereinkommen kodifiziert worden(61).

74.      Liegt hierin die Ratio des Grundsatzes ne bis in idem, so setzt dieser Grundsatz jedoch voraus, dass die Gesellschaft eine uneingeschränkte Möglichkeit hatte, die Person, die sie in Verdacht hat, eine Straftat zu Lasten der Gesellschaft begangen zu haben, zur Verantwortung zu ziehen.

75.      Nach einer Auffassung kann dies nur der Fall sein, wenn ein selbständiges Verfahren stattgefunden hat und das Verhalten des Angeklagten von den dazu berufenen Vertretern des Staates untersucht worden ist. Diese Auffassung findet eine Stütze im Wortlaut des Artikels 4 Absatz 2 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK, der vorsieht, dass das Verfahren nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates gleichwohl wiedereröffnet werden kann, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist(62). Anders gesagt, der Gesellschaft wird normalerweise zugebilligt, den Angeklagten einmal vor Gericht zu stellen, sie hat jedoch (ausnahmsweise) Anspruch auf einen „zweiten Versuch“ nach einem anfänglichen Freispruch, wenn entweder (a) (wichtige) neue Tatsachen vorliegen oder (b) das Verhalten des Angeklagten während des ersten Strafverfahrens nicht gehörig untersucht worden ist. Es ist davon auszugehen, dass Artikel 4 des Protokolls Nr. 7 im Rahmen der Europäischen Union die höchste rechtliche Ausformung des Grundsatzes ne bis in idem als ein Grundrecht darstellt.

76.      Nach der anderen Auffassung ist die Möglichkeit der Gesellschaft, den Angeklagten einmal zur Verantwortung zu ziehen, durch die von der Gesellschaft selbst festgelegten Verjährungsfristen beschränkt, und es ist ohne Bedeutung, wenn – aus eben diesem Grund – ein Verfahren „in der Sache“ niemals stattfindet. Wenn ich auch die gedankliche Geschlossenheit dieses Ansatzes respektiere, so scheint mir doch, dass er bei den am Durchführungsübereinkommen beteiligten zahlreichen Nationen und Gesellschaften zu erheblichen Irritationen führen dürfte. Im Rahmen einer einzigen „Gesellschaft“ ist es angemessen, davon auszugehen, dass die Gesellschaft nach Ablauf einer bestimmten Zahl von Jahren auf die Möglichkeit einer Bestrafung selbst verzichtet. Dasselbe Argument ist jedoch weniger angemessen, wenn es für 17 Gesellschaften gelten soll, nämlich für die 13 Mitgliedstaaten, die bisher den Schengen-Besitzstand vollständig umgesetzt haben, darüber hinaus für Island und Norwegen als Vertragsparteien des Durchführungsübereinkommens und für das Vereinigte Königreich(63) und Irland(64) bezüglich u. a. der Artikel 54 bis 58 des Durchführungsübereinkommens(65).

77.      Meines Erachtens geht die rechtlich entscheidende Frage im vorliegenden Fall dahin, ob die Entscheidung, ein Strafverfahren wegen Verjährung einzustellen, bedeutet, dass die betreffende Person im Sinne des Artikels 54 des Durchführungsübereinkommens „in Gefahr“ gebracht wird, so dass sie sich auf ihr Grundrecht berufen kann, nicht „bis in idem“ (zweimal wegen derselben Sache) in Gefahr gebracht zu werden. Wie ich unten ausführen werde, ist diese Frage zu verneinen, es sei denn, die Entscheidung ist das Ergebnis eines Verfahrens, in dem eine Prüfung in der Sache stattgefunden hat. Nur dann ist die betreffende Person tatsächlich „in Gefahr gebracht“ worden, so dass sie sich auf Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens berufen kann(66).

 Tragweite des Grundsatzes ne bis in idem

78.      Obwohl der Grundgedanke des Grundsatzes ne bis in idem allgemein anerkannt ist und der Grundsatz in einigen Abwandlungen in den Rechtssystemen der Vertragsparteien des Durchführungsübereinkommens und sogar in den meisten entwickelten Rechtssystemen (wie zu erwarten) allgemein anzutreffen ist, ergibt sich aus einer kurzen vergleichenden Untersuchung, dass es keine einheitliche, wirklich gemeinsame Definition dessen gibt, was genau dieser Grundsatz bedeutet, was genau seine Tragweite ist, wann genau er anzuwenden ist usw.(67)

79.      Im Rahmen der Europäischen Union zeigt sich das Fehlen eines zugrunde liegenden gemeinsamen Ansatzes darin, dass die verschiedenen gesetzgeberischen Maßnahmen und Initiativen der Gemeinschaftsorgane und Mitgliedstaaten nach Titel VI EU nicht die Tragweite des in Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens verankerten Grundsatzes definiert haben(68).

 Der Grundsatz ne bis in idem als ein Grundsatz eigener Art im Gemeinschaftsrecht

80.      Für das EU-Recht ist es meines Erachtens daher praktisch nicht zu vermeiden, den Begriff des Grundsatzes ne bis in idem (der, wie der Gerichtshof im Urteil Vinyl Maatschappij festgestellt hat, ein tragender Grundsatz des Gemeinschaftsrechts ist) als einen eigenständigen Grundsatz bzw. als einen Grundsatz eigener Art zu verstehen. Mangels sonstiger Initiativen aufgrund einer Änderung des Vertrags oder aufgrund abgeleiteten Gemeinschaftsrechts hat daher der Gerichtshof unter Wahrnehmung seines ihm bei solchen Schlüsselbegriffen des EU-Rechts zustehenden „Auslegungsmonopols“(69) den Grundsatz herauszuarbeiten und weiterzuentwickeln. Die spezifische Anwendung des Grundsatzes auf bestimmten Gebieten (im Wettbewerbsrecht oder über Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens) sollte bestimmt sein von einem genauen Verständnis dessen, was dieser tragende Grundsatz innerhalb der Rechtsordnung der Gemeinschaft bedeutet (oder bedeuten sollte).

81.      Der Vorschlag, den Grundsatz ne bis in idem als einen eigenständigen Grundsatz im Rahmen der Europäischen Union zu verstehen, ist – mit Verlaub – nicht allzu verwegen. Die Europäische Union stellt eine neue Rechtsordnung dar(70), und der europäische Integrationsprozess ist eine einmalige völkerrechtliche Konstruktion. Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens seinerseits ist einer der ersten erfolgreichen Versuche, den Grundsatz ne bis in idem in einem internationalen Zusammenhang multilateral anzuwenden(71). Es scheint daher angebracht, den Grundsatz als einen Grundsatz eigener Art zu definieren, der den besonderen Merkmalen des supranationalen Zusammenhangs, in dem er Anwendung findet, angepasst ist.

 Das Gleichgewicht zwischen dem freien Personenverkehr und den Erfordernissen, die Kriminalität zu bekämpfen und ein hohes Maß an Sicherheit in „einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ zu bieten

82.      Schließlich muss die Erörterung in den weiteren Rahmen des angemessenen Gleichgewichts gestellt werden, das zwischen zwei jeweils grundlegenden und wichtigen Anliegen herzustellen ist, nämlich dem freien Personenverkehr einerseits und der wirksamen Bekämpfung der Kriminalität und der Gewährung eines hohen Maßes an Sicherheit in „einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ andererseits.

83.      Ich weise darauf hin, dass nach Artikel 29 EU (die erste Bestimmung des Titels VI „Bestimmungen über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen“, auf der die Artikel 54 bis 58 des Duchführungsübereinkommens beruhen), „die Union das Ziel [verfolgt], den Bürgern in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ein hohes Maß an Sicherheit zu bieten, indem sie ein gemeinsames Vorgehen der Mitgliedstaaten im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen entwickelt“. Die Verwirklichung des freien Personenverkehrs ist somit zwar wichtig, das Erreichen eines „hohen Maßes an Sicherheit“ ist es aber ebenso. Auch Artikel 2 EU weist der Verwirklichung des freien Personenverkehrs die gleiche Bedeutung zu wie der Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität(72).

84.      Zwar ist der freie Personenverkehr ohne Zweifel wichtig, doch hat er meines Erachtens keinen absoluten Rang(73). Was das Durchführungsübereinkommen erreichen soll, ist der freie Personenverkehr in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Ein fester Bestandteil dieses Prozesses ist es, eine eigene Definition des Grundsatzes ne bis in idem zu finden, die das Recht auf freien Personenverkehr in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zulässt, der durch ein hohes Maß an Sicherheit gekennzeichnet ist. Der Grundsatz ne bis in idem musste (natürlich) durch eine Bestimmung in das Durchführungsübereinkommen aufgenommen werden – durch die Nichtaufnahme eines solchen grundlegenden Begriffs wäre eine gravierende Lücke entstanden. Gleichzeitig darf der Grundsatz nicht unverhältnismäßig entstellt werden. Mit anderen Worten: Er muss eine angemessene, nicht aber eine unbegrenzte Tragweite erhalten.

 Die Beantwortung der ersten Frage

85.      Bei der Beantwortung der ersten Vorlagefrage hat sich der Gerichtshof lediglich zu entscheiden zwischen der Auslegung, dass eine verfahrensrechtliche Verjährung (deren Anwendung in dem Verfahren gegen den Angeklagten grundsätzlich keine Prüfung in der Sache erforderlich macht) ausreicht, um den Grundsatz ne bis in idem zur Anwendung zu bringen, und der Auslegung, dass für die Anwendung dieses Grundsatzes im Rahmen der ersten Strafverfolgung eine gewisse Prüfung in der Sache (gegebenenfalls in welchem Umfang) erforderlich ist. Im Interesse einer einfachen Darstellung werde ich die erstere als eine verfahrensrechtliche Auslegung und die letztere als eine materielle Auslegung bezeichnen.

86.      Die Auffassungen der Beteiligten können kurz wie folgt zusammengefasst werden.

87.      Die in Spanien Angeklagten vertreten im Wesentlichen eine verfahrensrechtliche Auslegung.

88.      Demgegenüber gehen alle Mitgliedstaaten, die Erklärungen abgegeben haben, von einer materiellen Auslegung aus. Spanien, die Niederlande, Polen und Frankreich machen im Wesentlichen geltend, Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens finde nur Anwendung, wenn das zuständige Gericht in einer rechtskräftigen Entscheidung eine Prüfung in der Sache vorgenommen und ein Urteil über die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten gefällt habe. Dies sei nicht der Fall, wenn Strafverfahren allein deswegen rechtskräftig eingestellt würden, weil die Verfolgung der Straftaten verjährt sei. Italien argumentiert ähnlich, Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens finde nur Anwendung, wenn die rechtskräftige Entscheidung, mit der das Verfahren wegen der Verjährung eingestellt werde, das Ergebnis eines Verfahrens sei, in dem eine Prüfung in der Sache und eine Prüfung der strafrechtlichen Verantwortung des Angeklagten stattgefunden habe.

89.      Die Kommission geht aufgrund rein praktischer Erwägungen von einer verfahrensrechtlichen Auslegung aus. Sie ist der Ansicht, je nach den auf nationaler Ebene gegebenen Umständen könnten „Freisprüche“ eine Prüfung in der Sache einschließen, brauchten es aber nicht. Um die Schwierigkeiten zu vermeiden, die ein nationales Gericht haben kann, wenn es darüber zu befinden hat, ob eine frühere, in einem anderen Land getroffene Entscheidung tatsächlich mit einer solchen Prüfung verbunden war, schlägt die Kommission vor, dass jede rechtskräftige Entscheidung, die ein zukünftiges Strafverfahren wegen derselben Tat in einem Mitgliedstaat ausschließe, allgemein als eine rechtskräftige Entscheidung im Sinne von Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens angesehen werden solle.

90.      Ich stimme mit der Kommission in folgendem Punkt überein: Nationale Verfahren, die zu Entscheidungen führen, in denen der Eintritt der Verjährung festgestellt wird, können, müssen aber nicht (je nachdem wie, wann und von wem genau die Frage der Verjährung geltend gemacht wird) eine Prüfung in der Sache einschließen(74). Meines Erachtens ist die Einstellung eines Strafverfahren aufgrund Verjährung ohne jede Prüfung in der Sache jedoch nicht von dem in Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens verankerten Grundsatz ne bis in idem erfasst.

91.      Ich werde im folgenden Abschnitt darlegen, weshalb ich der Meinung bin, dass die materielle Auslegung des Artikels 54 des Durchführungsübereinkommens geeigneter ist. Ich werde sodann eine Reihe von Einwendungen prüfen, die von den Vertretern der verfahrensrechtlichen Auslegung gegenüber der materiellen Auslegung erhoben worden sind.

 Argumente für eine materielle Auslegung des Grundsatzes ne bis in idem

92.      Erstens wird die materielle Auslegung eher der Ratio des Grundsatzes ne bis in idem gerecht. Nach diesem Grundsatz hat der Staat eine einzige Möglichkeit, das zur Last gelegte strafrechtliche Verhalten einer Person zu prüfen und zum Gegenstand eines Urteils zu machen. Erst nach einer materiellen Prüfung kann vernünftigerweise gesagt werden, dass die betreffende Person „in Gefahr“ gebracht wurde und dass – abgesehen von außergewöhnlichen Umständen – keine zweite Prüfung (ne bis) in derselben Sache (in idem) stattfinden darf.

93.      Demgegenüber liegt der Verjährung, wie ausgeführt, eine andere Ratio zugrunde. Die Gesellschaft urteilt hierbei nicht über den Angeklagten, sondern über die Bedeutung, die sie einer Straftat aus objektiver Sicht zumisst(75) – eine Entscheidung, die von Staat zu Staat sehr unterschiedlich ausfällt – und somit über die Dauer des Zeitraums, für den der Staat es für angemessen hält, seinen Verfolgungsanspruch aufrechtzuerhalten.

94.      Ich erinnere daran, dass wir uns hier in einem supranationalen Zusammenhang bewegen, in dem es keine gemeinsame Definition der Tragweite des Grundsatzes gibt und auch keine unmittelbar einschlägige externe Institution vorhanden ist(76). In diesem Zusammenhang können und sollten meines Erachtens für den Grundsatz ne bis in idem (a) die „endgültige Einstellung eines Strafverfahrens“ wegen Verjährung der Strafverfolgung einerseits und (b) die Unmöglichkeit eines erneuten Strafverfahrens wegen derselben Tat nach dem „endgültigen Freispruch“ einer Person am Schluss eines vollständigen Verfahrens andererseits unterschiedliche Bedeutungen haben. Dies gilt selbst dann, wenn in einem rein innerstaatlichen Zusammenhang beide Verfahren zu demselben Ergebnis führen können (d. h. zum Ausschluss eines zukünftigen Strafverfahrens gegen dieselbe Person wegen derselben Tat).

95.      Für die Anwendung des in Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens verankerten Grundsatzes ne bis in idem ist meines Erachtens die Durchführung eines Verfahrens, in dem das Verhalten des Angeklagten vom Strafgericht rechtlich geprüft wird und somit beurteilt wird, zwingende Voraussetzung(77). Dies ist eindeutig der Fall, wenn über die Sache endgültig geurteilt wird. Ich möchte jedoch nicht so weit gehen, dass für die Anwendung des Grundsatzes ein förmliches Erkennen auf „schuldig“ oder „nicht schuldig“ erforderlich wäre. Dies würde meines Erachtens die Anwendung des Artikels 54 des Durchführungsübereinkommens an übertrieben strenge Voraussetzungen knüpfen und ihre praktische Bedeutung in nicht tragbarer Weise beschränken.

96.      Ich schlage deshalb vor, dass sich ein Angeklagter auch auf den Grundsatz ne bis in idem berufen kann, wenn er de facto „in Gefahr“ gebracht wurde, sein Verfahren aber schließlich wegen Verfolgungsverjährung eingestellt wurde(78). War das nationale Strafverfahren mit einer signifikanten Prüfung in der Sache verbunden, wurde der Angeklagte meines Erachtens tatsächlich einer Gefahrensituation ausgesetzt(79). Ihm muss daher der Grundsatz ne bis in idem zugute kommen, und jede spätere Verfolgung desselben Angeklagten in einem anderen Mitgliedstaat wegen derselben Tat ist nach Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens ausgeschlossen(80). Dies steht im Einklang mit der Ratio des Grundsatzes ne bis in idem. Geht daher eine Entscheidung, dass die Verfolgung verjährt ist, einer Prüfung in der Sache voraus, obwohl insoweit eine endgültige Einstellung des Strafverfahrens erfolgt ist, liegt eine Einstellung vor, die nicht in den Anwendungsbereich des Grundsatzes ne bis in idem fällt(81).

97.      Zweitens stellt meines Erachtens die materielle Auslegung ein angemesseneres Gleichgewicht zwischen den beiden angestrebten Zielen her, nämlich zwischen dem Ziel der Förderung des freien Personenverkehrs und dem Ziel, zu gewährleisten, dass das Recht auf freien Personenverkehr in einem Raum „der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ ausgeübt wird, der durch ein hohes Maß an Sicherheit gekennzeichnet ist und in dem die Kriminalität wirksam kontrolliert wird. Wie ausgeführt(82) räumen weder Artikel 2 EU noch Artikel 29 EU dem freien Personenverkehr Vorrang gegenüber der Verhütung und der Bekämpfung der Kriminalität und dem Erreichen eines hohen Maßes an Sicherheit ein. Der Gerichtshof allerdings räumte im Urteil Miraglia dem letztgenannten Ziel Vorrang gegenüber dem erstgenannten ein. Nach der gebotenen Abwägung dieser in gleicher Weise grundlegenden Ziele komme ich zu dem Ergebnis, dass einer Person, gegen die ein Strafverfahren in einem Mitgliedstaat ohne Prüfung in der Sache wegen Verjährung eingestellt wurde, die Anwendung von Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens nicht zugute kommt.

98.      Drittens ist meines Erachtens die materielle Auslegung nicht nur eine logische Umsetzung des Grundsatzes ne bis in idem in seinem Wesensgehalt, sondern sie wird auch gestützt durch die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofes.

99.      In den Rechtssachen, die Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens betrafen, verlangte der Gerichtshof im Urteil Miraglia für die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem ausdrücklich eine Beurteilung in der Sache. In den Rechtssachen Van Esbroeck sowie Gözütok und Brügge waren die Angeklagten jeweils entweder bereits einem förmlichen Verfahren ausgesetzt gewesen und hatten einen Teil der verhängten Strafe verbüßt oder hatten tatsächlich ihre Schuld vorgerichtlich eingestanden. Sowohl in der Rechtssache Van Esbroeck als auch in der Rechtssache Gözütok und Brügge waren die Angeklagten somit wegen der betreffenden Straftaten bestraft worden. In allen drei Fällen erfolgte daher faktisch eine materielle Auslegung.

100. Die Richtigkeit der materiell orientierten Auslegung wird ferner durch die Rechtsprechung des Gerichtshofes zum Grundsatz ne bis in idem im Wettbewerbsrecht bestätigt, insbesondere im Urteil Vinyl Maatschappij. Dort stellte der Gerichtshof ausdrücklich fest, dass ein „‚Freispruch‘ im strafrechtlichen Sinne“ nur vorliegt und der allgemeine Grundsatz ne bis in idem nur Anwendung finde, wenn eine materielle Beurteilung des zur Last gelegten Sachverhalts erfolgt sei(83).

101. Viertens muss die Auslegung des Grundsatzes ne bis in idem in allen Bereichen des Gemeinschaftsrechts gleich sein. Diese Schlussfolgerung ergibt sich aus dem in Titel I „Gemeinsame Bestimmungen“ eingefügten Artikel 6 EU, der für alle Säulen nach dem EU-Vertrag gilt. Artikel 6 Absatz 1 bestimmt, dass „[d]ie Union … auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit [beruht]; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam“. Artikel 6 Absatz 2 sieht ferner vor, dass „[d]ie Union … die Grundrechte [achtet], wie sie in der … Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben“. Der tragende Grundsatz ne bis in idem stellt damit höherrangiges Recht im Rechtssystem der Europäischen Union dar. Seine Auslegung muss folglich in allen Tätigkeitsbereichen, die dem EU-Vertrag unterliegen, also unter Einschluss sowohl des EG-Vertrags als auch des Schengen-Besitzstands, konsistent sein(84).

102. Wenn daher nach den Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags der tragende Grundsatz ne bis in idem eine Beurteilung in der Sache verlangt (was der Fall ist), muss dasselbe gelten, wenn der Grundsatz nach Artikel 54 des Duchführungsübereinkommens Anwendung findet.

103. Es könnte eingewandt werden, dass sich der Grundsatz ne bis in idem im Wettbewerbsrecht von dem in Artikel 54 des Durchführungsübereinkommen niedergelegten Grundsatz ne bis in idem unterscheiden kann und sollte. Ich werde dieses Argument später prüfen(85). Die Frage jedoch, ob dieser Grundsatz dort eine Beurteilung in der Sache voraussetzt, berührt seinen Kernbereich selbst. Dieser Kernbereich muss gleich bleiben, unabhängig von dem rechtlichen Zusammenhang, in dem der Grundsatz dann angewandt wird. Mir ist nicht klar, wie der Kernbereich eines tragenden Grundsatzes inhaltlich wesentlich verschieden sein könnte, je nachdem ob der Grundsatz ne bis in idem nach Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens oder allgemein als fundamentaler Grundsatz des Gemeinschaftsrechts Anwendung findet (z. B. im Wettbewerbsrecht).

104. Fünftens würde die materielle Auslegung zudem helfen, die unerwünschte Möglichkeit einer Wahl der Strafgerichtsbarkeit zu verhindern. Eine uneingeschränkte Anwendung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens könnte dazu führen, dass ein Einzelner bewusst die Verfolgung in einem Mitgliedstaat sucht, von dem er weiß, dass dort die Verfahren zwingend für verjährt erklärt werden, und sich dann auf den Grundsatz ne bis in idem beruft, um sich innerhalb der Europäischen Union frei zu bewegen(86).

 Mögliche Einwände gegen die materielle Betrachtungsweise

105. Es gibt drei Einwände, mit denen ich mich zu befassen habe: die Rolle des dem Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens zugrunde liegenden Grundsatzes des „gegenseitigen Vertrauens“, die vom Gerichtshof ausdrücklich erklärte Zurückweisung der vorherigen Harmonisierung als Voraussetzung für die Anwendung des Artikels 54 des Durchführungsübereinkommens sowie die praktischen Schwierigkeiten, die sich aus der Anwendung einer materiellen Auslegung ergeben können. Ich werde die Einwände der Reihe nach prüfen.

106. Erstens: Steht eine materielle Betrachtungsweise im Widerspruch zu dem Gewicht, das der Gerichtshof bisher der Bedeutung des gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedstaaten beimisst?

107. In den Urteilen Gözütok und Brügge sowie Van Esbroeck hat der Gerichtshof besonderen Wert auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens (87) gelegt, der Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens und der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in Strafsachen nach dem Vertrag von Amsterdam zugrunde liegt(88) (wie vom Europäischen Rat auf seiner Tagung in Tampere ausdrücklich anerkannt wurde)(89).

108. Meines Erachtens geht jedoch der Begriff des gegenseitigen Vertrauens nicht soweit, dass er eine vernünftige Grundlage für die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem auf alle nationale Entscheidungen bildet, in denen Strafverfahren wegen Verjährung eingestellt werden.

109. Meines Ansicht nach kann und muss vielmehr unterschieden werden zwischen einerseits dem Vertrauen in die Strafverfahren anderer Mitgliedstaaten im Allgemeinen (einschließlich das Recht auf ein faires Verfahren, der materiellen Abgrenzung der Straftaten sowie der Regeln über die Beibringung und Zulässigkeit von Beweismitteln) und andererseits dem Vertrauen in eine Entscheidung, dass eine Beurteilung der Straftat in der Sache wegen Eintritts der Verjährung gar nicht stattfinden kann. Das Erste ist ein besonderer Ausdruck von Respekt – in einer nicht harmonisierten Sphäre – für die Güte und Gültigkeit des Strafrechts anderer souveräner Staaten. Das Zweite ist gleichbedeutend mit der faktischen Harmonisierung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner(90).

110. Hier kann vielleicht eine Parallele zu der Rechtsprechung zum Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der für die Hauptfreiheiten nach dem EG-Vertrag gilt, gezogen werden. Obwohl der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von großer Bedeutung ist, bestehen Ausnahmen von ihm sowohl nach spezifischen Bestimmungen des EG-Vertrags als auch nach der Rechtsprechung zu den „zwingend zu erfüllenden Voraussetzungen“. Für eine vollständige Anwendung des Grundsatzes ist jedenfalls Voraussetzung, dass die Eignung oder die Eigenschaften der Personen, Waren oder Dienstleistungen, für die sich auf die Bestimmungen über die Freizügigkeit berufen werden soll, mit denen vergleichbar sind, die im Aufnahme- oder Einfuhrstaat verlangt werden(91).

111. Erst recht müssen entsprechende Ausnahmen und Vergleichbarkeitserfordernisse im Kontext des Schengen-Besitzstands möglich sein (der, obwohl jetzt im Zuge des Vertrags von Amsterdam zum EU-Recht gehörig, immer noch hinter den Zielen der vollständigen Integration und den Mechanismen des EG-Vertrags zurückbleibt). Sie müssen ferner angemessen sein im Rahmen der Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Strafrechts, ein heikles Gebiet nationaler Hoheitsgewalt insofern, als das Strafrecht die moralischen und sozialen Werte nationaler Gesellschaften kodifiziert(92).

112. Nehmen wir z. B. die Strafmündigkeit – eindeutig eine bewusste gesellschaftliche Entscheidung und eine, die sich von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat erheblich unterscheidet(93). Mangels eines Harmonisierungsübereinkommens zwischen den Mitgliedstaaten wäre meines Erachtens ein unklar umrissener „Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens“ keine geeignete Grundlage dafür, die Einstellung eines Strafverfahrens im „ersten“ Mitgliedstaat, die erfolgt, weil der Angeklagte noch nicht strafmündig war, als einen Umstand zu behandeln, der die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem in einem anderen Mitgliedstaat auslöst, in dem das Alter der Strafmündigkeit niedriger liegt. In der gegenwärtigen Phase der europäischen Integration in Strafsachen ist dieses Ergebnis nicht mit der Zuständigkeit zu vereinbaren, über die der einzelne Mitgliedstaat bisher noch verfügt(94).

113. Zweitens: Verlangt die materielle Auslegung als Voraussetzung für die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem ein gewisses Mindestmaß an Harmonisierung zwischen den Strafrechtssystemen der Mitgliedstaaten? Sollte dies der Fall sein, würde sie der Auffassung des Gerichtshofes sowohl im Urteil Gözütok und Brügge als auch im Urteil Van Esbroeck entgegenstehen.

114. Meines Erachtens sind die obigen Ausführungen zum Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens auch hier von Bedeutung. Ebensowenig wie der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung im Kontext der Bestimmungen über die Freizügigkeit des EG-Vertrags kann der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens die Verwirklichung der im Titel VI verfolgten Ziele (polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen) allein nicht wirksam sicherstellen. Um in einem Zusammenhang, der durch eine Vielfalt an nationalen Lösungsansätzen in Strafsachen gekennzeichnet ist, die Freizügigkeit in vollem Umfang sicherzustellen, wird wahrscheinlich zu gegebener Zeit ein gewisses Maß an Harmonisierung oder Angleichung erforderlich sein(95). Dies gilt eindeutig für die Verjährung. Solange dies noch nicht der Fall ist, bietet der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens meines Erachtens keine befriedigende Grundlage dafür, den Grundsatz ne bis in idem soweit auszudehnen, dass auch die Rechtskraft erfasst wird, die aus verfahrensrechtlichen Gründen ohne Beurteilung in der Sache aufgrund der Verjährung eingetreten ist. Sollte das Ergebnis hiervon sein, dass der Erhaltung eines hohen Maßes an Sicherheit in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, nicht aber absoluten Freizügigkeitsrechten der Vorrang eingeräumt wird, so ist dies nicht zu beanstanden.

115.  Drittens: Wirft (wie die Kommission meint) eine materielle Betrachtungsweise ernsthafte Schwierigkeiten auf? Die Kommission hat ausgeführt, es könnten hauptsächlich zwei Probleme entstehen. Erstens hätten die nationalen Gerichte darüber zu befinden, ob in dem „ersten“ Mitgliedstaat eine Beurteilung in der Sache stattgefunden habe. Zweitens befürchtet die Kommission, als Folge hiervon könne es zu Ungleichbehandlungen kommen. Personen, die in einem Mitgliedstaat freigesprochen würden, in dem die Entscheidung mit einer Beurteilung in der Sache einhergehe, könnten in den Genuss des Grundsatzes ne bis in idem kommen, während dies bei Personen nicht der Fall sei, die in einem Mitgliedstaat, in denen keine Beurteilung in der Sache erforderlich sei, aus denselben Gründen freigesprochen würden.

116. Ich kann der Kommission nicht folgen.

117. Was die behaupteten Schwierigkeiten angeht, so ist mir nicht klar, worin sich diese ihrer Natur nach von den Schwierigkeiten unterscheiden sollen, denen die nationalen Strafgerichte zwangsläufig begegnen, wenn sie mit den Strafgerichten anderer Mitgliedstaaten zusammenarbeiten. Abgesehen von der Pflicht zur Zusammenarbeit nach Artikel 57 des Durchführungsübereinkommens sind bereits hinreichende Mechanismen der Zusammenarbeit vorhanden, um sicherzustellen, dass irgendwelche Zweifel, die ein nationales Gericht hinsichtlich der Tragweite einer von ihm zu berücksichtigenden strafrechtlichen Entscheidung des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats haben mag, (relativ) reibungslos behoben werden. Es würde genügen, dass das Strafgericht im „zweiten“ Mitgliedstaat das nationale Gericht im „ersten“ Mitgliedstaat im Rahmen dieser Verfahren der Zusammenarbeit um Klärung bitten würde, ob eine Prüfung in der Sache stattgefunden hat.

118. Man kann vernünftigerweise davon ausgehen, dass der Anwalt des Angeklagten die Frage in dem zweiten Verfahren aufwerfen und (wie der Anwalt der in Spanien Angeklagten es im vorliegenden Fall getan hat) vortragen wird, dass der Freispruch im ersten Mitgliedstaat zwar teilweise wegen Verjährung erfolgt, jedoch mit einer Beurteilung in der Sache verbunden gewesen sei.

119. Was die dargelegte Ungleichbehandlung angeht, so besteht Diskriminierung darin, dass zwei vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich behandelt werden. Die Lage eines Angeklagten, der im Anschluss an eine Sachprüfung freigesprochen wird, ist mit der Lage eines Angeklagten, der ohne eine solche Prüfung freigesprochen wird, nicht vergleichbar. Ich bin daher nicht der Ansicht, dass die materielle Auslegung zu einer Ungleichbehandlung führen dürfte.

120. Nach allem schlage ich in Übereinstimmung mit der von Spanien, Italien, Polen, Frankreich und den Niederlanden vertretenen Auffassung vor, die erste Frage dahin zu beantworten, dass beim gegenwärtigen Stand der Entwicklung des Rechts der Europäischen Union Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens dahin gehend auszulegen ist, dass ein nationales Gericht an die Entscheidung eines Gerichts in einem anderen Mitgliedstaat, in dem dieses in einem Strafverfahren den Eintritt der Verjährung feststellt, nur dann gebunden ist, wenn (a) diese Entscheidung nach nationalem Recht rechtskräftig ist, (b) das Verfahren in dem anderen Mitgliedstaat mit einer Prüfung in der Sache verbunden war und (c) die materielle Tat(96) und der (oder die) Angeklagte(n) in den Verfahren vor beiden Gerichten identisch sind(97). Es ist Sache des nationalen Gerichts zu entscheiden, ob diese Voraussetzungen im Einzelfall vorliegen. Liegen sie vor, ist ein weiteres Verfahren gegen denselben (oder dieselben) Angeklagten wegen derselben materiellen Tat ausgeschlossen.

 Die zweite Frage

121. Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der in Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens niedergelegte Grundsatz ne bis in idem dahin gehend auszulegen ist, dass er der Verfolgung einer Person im Mitgliedstaat B dadurch entgegensteht, dass ein Strafverfahren wegen derselben Tat, aber gegen eine andere Person im Mitgliedstaat A eingestellt wurde, weil die Verfolgung der zur Last gelegten Straftat verjährt war.

122. Ich teile die Auffassung aller Beteiligten, die Erklärungen eingereicht haben – mit Ausnahme (was nicht überrascht) der Angeklagten im Ausgangsverfahren –, dass diese Frage ohne weiteres zu beantworten, und zwar zu verneinen ist.

123. Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens stellt ausdrücklich fest, dass, „wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, … durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden [darf]“. Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt sich, dass die Bestimmung nur der (oder den) bestimmten Person(en) zugute kommt, die rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt wurde(n). Offenbar erfasst diese Bestimmung somit nicht andere Personen, die an derselben Tat beteiligt gewesen sein können, gegen die aber noch nicht verhandelt worden ist. Der Gerichtshof hat diese wörtliche Auslegung des Artikels 54 im Urteil Gözütok und Brügge angewandt, wo er feststellte, dass „das in dieser Bestimmung aufgestellte Verbot der Doppelbestrafung ausschließlich verhindern soll, dass eine Person, die in einem Mitgliedstaat rechtskräftig abgeurteilt wurde, in einem anderen Mitgliedstaat wegen derselben Tat erneut strafrechtlich verfolgt wird“(98).

124. Diese Schlussfolgerung wird bestätigt durch das Urteil Zement. In diesem Urteil stellte der Gerichtshof im Hinblick auf die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft fest, dass die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem u. a. von der Voraussetzung der „Identität des Zuwiderhandelnden“ abhängig ist(99).

 Die dritte Frage

125. Die dritte Frage geht dahin, ob die Gerichte eines Mitgliedstaats, wenn die Strafgerichte eines anderen Mitgliedstaats im Zusammenhang mit einer Schmuggelstraftat feststellen, dass eine Ware nicht von außerhalb der Gemeinschaft stammt, und den Angeklagten freisprechen, den Umfang der Untersuchung ausweiten können, um zu zeigen, dass die ohne Zollentrichtungen vorgenommene Einfuhr der Ware aus einem nicht zur Gemeinschaft gehörenden Staat erfolgt ist.

126. Wie die Kommission und die in Spanien Angeklagten zu Recht ausgeführt haben, liegt dieser Frage eine Annahme zugrunde, die mit dem im Vorlagebeschluss dargelegten Sachverhalt nicht im Einklang steht(100). Da es Anhaltspunkte dafür gibt, dass eine Beantwortung der Frage für das vorlegende Gericht sachdienlich sein kann, werde ich die Frage dennoch prüfen.

127. Ich stimme mit den meisten Mitgliedstaaten, die Erklärungen eingereicht haben(101), darin überein, dass die Beantwortung dieser Frage im Wesentlichen davon abhängt, ob die Entscheidung, in der die ersten Sachverhaltsfeststellungen getroffen wurden, selbst die Voraussetzungen für die Anwendung des in Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens niedergelegten Grundsatzes ne bis in idem erfüllt. Ich habe diese Voraussetzungen bereits in der Untersuchung der ersten beiden Fragen geprüft und verweise daher auf die dort gezogenen Schlussfolgerungen.

128. Ich schlage daher vor, auf die dritte Frage zu antworten, dass beim gegenwärtigen Stand der Entwicklung des Rechts der Europäischen Union Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens dahin gehend auszulegen ist, dass die Strafgerichte in einem Mitgliedstaat an die Entscheidung, die ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats in einem Strafverfahren erlässt, nur dann gebunden sind, wenn (a) die Entscheidung nach nationalem Recht rechtskräftig ist, (b) das Verfahren in dem anderen Mitgliedstaat mit einer Prüfung in der Sache verbunden war und (c) die materielle Tat und der (oder die) Angeklagte(n) in dem Verfahren vor beiden Gerichten identisch sind.

129. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu entscheiden, ob diese Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind. Sind sie erfüllt, ist ein weiteres Strafverfahren gegen denselben (oder dieselben) Angeklagten wegen derselben materiellen Tat ausgeschlossen, und das nationale Gericht darf die Tatsachenfeststellungen der ersten Entscheidung nicht durch Ausweitung des Umfangs der Untersuchung in Frage stellen(102).

130. Liegen andererseits die von mir genannten Voraussetzungen nicht vor, können die Strafgerichte in anderen Mitgliedstaaten zusätzliche Ermittlungen einleiten, sofern dies nach dem nationalen Strafrecht zu ihrer Aufgabe gehört, um festzustellen, ob die Straftat der rechtswidrigen Einfuhr verwirklicht wurde.

 Die vierte Frage

131. Die vierte Frage beinhaltet ihrem Wortlaut nach, dass der portugiesische Supremo Tribunal bereits festgestellt hatte, dass die in Rede stehende Ware nicht rechtswidrig nach Portugal eingeführt worden war – eine Annahme, die im Widerspruch zu anderen Teilen des Vorabentscheidungsersuchens steht(103). Angesichts der Gesamtbedeutung des Vorabentscheidungsersuchens jedoch werde ich –wie die Kommission und alle Mitgliedstaaten, die Erklärungen eingereicht haben –, diese Fragen umformulieren, um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben.

132. Die vierte Frage besteht aus zwei Einzelfragen.

 Frage 4 a

133. Die erste Teilfrage, die den Begriff der im freien Verkehr befindlichen Erzeugnisse nach Artikel 24 EG betrifft, besteht wiederum aus zwei Teilen.

134. Der erste Teil befasst sich mit der Frage, ob die Feststellung eines Strafgerichts in einem Mitgliedstaat, dass eine rechtswidrige Einfuhr nicht feststeht, der betreffenden Ware den unwiderruflichen Status einer im freien Verkehr befindlichen Ware nach Artikel 24 EG verleiht und die Strafgerichte eines anderen Mitgliedstaats in einem Strafverfahren, das dieselbe Ware betrifft, bindet.

135. Der zweite Teil stellt wiederum darauf ab, ob die rechtskräftige Entscheidung eines Strafgerichts, die eine auf eine rechtswidrige Einfuhr gestützte Strafverfolgung für verjährt erklärt und deshalb auch ein weiteres Strafverfahren wegen rechtswidriger Einfuhr in diesem Mitgliedstaat ausschließt, die Strafgerichte und die zuständigen Behörden aller anderen Mitgliedstaaten bindet, die demnach anerkennen müssen, dass sich die betreffende Ware im freien Verkehr befindet.

136. Ich habe die zur Beantwortung dieser beiden Teilfragen erforderlichen Gesichtspunkte – wenn auch allgemein – bereits bei der Prüfung der ersten drei Fragen dargelegt.

137. Um eine sachdienliche Antwort geben zu können, muss meines Erachtens jedoch unterschieden werden zwischen dem verwaltungsrechtlichen Status der im freien Verkehr befindlichen Waren einerseits und der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, die aufgrund der rechtswidrigen Einfuhr von Waren mit Ursprung in Drittländern in die Gemeinschaft entstehen kann, andererseits. Ersterer wird von Gemeinschaftsvorschriften geregelt. Dagegen fällt Letztere unter das nationale Strafrecht.

138. Artikel 24 EG lautet: „Als im freien Verkehr eines Mitgliedstaats befindlich gelten diejenigen Waren aus dritten Ländern, für die in dem betreffenden Mitgliedstaat die Einfuhr-Förmlichkeiten erfüllt sowie die vorgeschriebenen Zölle und Abgaben gleicher Wirkung erhoben und nicht ganz oder teilweise rückvergütet worden sind.“

139. Weitere ausführliche Durchführungsvorschriften sind im Zollkodex der Gemeinschaften, der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates(104) festgelegt wurde (im Folgenden: Zollkodex), und in der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission(105) zur Durchführung des Zollkodex (im Folgenden: Durchführungsverordnung) enthalten.

140. Nach Artikel 24 EG und den einschlägigen Bestimmungen des Zollkodex sowie der Durchführungsverordnung(106) sind unter im freien Verkehr befindlichen Waren diejenigen Waren aus Drittländern zu verstehen, die entsprechend den in Artikel 24 EG aufgestellten Voraussetzungen ordnungsgemäß in irgendeinen Mitgliedstaat eingeführt worden sind(107). Sobald Waren, die aus Drittländern eingeführt werden, in den zollrechtlich freien Verkehr überführt worden sind, erhalten sie den Status von Gemeinschaftswaren(108). Die Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr umfasst die „Erfüllung der … für die Ware geltenden Einfuhrförmlichkeiten sowie die Erhebung der gesetzlich geschuldeten Abgaben“(109). Bis zum Beweis des Gegenteils wird vermutet, dass Waren, die innerhalb der Gemeinschaft befördert werden, den Status von im freien Verkehr befindlichen Waren haben(110).

141. Nach den Gemeinschaftsvorschriften sind die Zollbehörden innerhalb der von der Rechtsprechung des Gerichtshofes zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und zum freien Warenverkehr(111) gezogenen Grenzen weiterhin berechtigt, zur Gewährleistung der Einhaltung des Zollrechts die Echtheit der Unterlagen, die den Status der Waren bescheinigen, zu überprüfen und Nachforschungen durchzuführen(112). Sind Waren vorschriftswidrig eingeführt oder vorschriftswidrig in den freien Verkehr überführt worden, so bestimmen der Zollkodex und die Durchführungsverordnung, dass die betreffenden Waren eine Zollschuld begründen, für die die verantwortliche Person haftet(113).

142. Sobald daher die Einfuhrförmlichkeiten erfüllt und die geschuldeten Abgaben bezahlt sind, genießen die Waren aus Drittländern den Status von im freien Verkehr befindlichen Waren und haben alle damit zusammenhängende Rechte nach den Gemeinschaftsvorschriften. Nationale Behörden sind an diese Gemeinschaftsvorschriften gebunden. Die Behörden anderer Mitgliedstaaten haben bis zum Beweis des Gegenteils davon auszugehen, dass die Erklärung nationaler Zollbehörden, dass sich eine Ware im freien Verkehr befindet, gültig ist. Wird das Gegenteil bewiesen, muss die sich ergebende Zollschuld beglichen werden. An diesem Punkt endet die Zuständigkeit des gemeinschaftlichen Zollrechts.

143. Die Gemeinschaftsvorschriften befassen sich somit nur mit den verwaltungsrechtlichen Aspekten der rechtswidrigen Einfuhr. Sie sollen nicht die rechtliche Behandlung zollrechtlicher Zuwiderhandlungen nach nationalem Recht harmonisieren. Die Mitgliedstaaten haben die Befugnis behalten, zollrechtliche Zuwiderhandlungen gegen den Zollkodex mit Strafe zu belegen(114), vorbehaltlich der vom Gerichtshof insbesondere im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit festgelegten Voraussetzungen. Die Frage, ob die vorschriftswidrige Einfuhr (neben der Steuerschuld nach dem Verwaltungsrecht) eine zollrechtliche Zuwiderhandlung begründet, die der strafrechtlichen Verantwortlichkeit unterliegt, ist daher nach Maßgabe des geltenden nationalen Strafrechts zu entscheiden.

144. Zweifellos werden die Tatbestandsmerkmale einer solchen Zuwiderhandlung, die sich darauf beziehen, ob nach dem Sachverhalt eine rechtswidrige Einfuhr in die Gemeinschaft stattgefunden hat, durch die einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften bestimmt. Insoweit spielen die Gemeinschaftsvorschriften bei der Entscheidung, ob nach dem nationalen Strafrecht eine zollrechtliche Zuwiderhandlung begangen wurde, in der Tat eine Rolle. Ob eine solche Sachverhaltsfeststellung in einem bestimmten Strafverfahren erfolgte, wird davon abhängen, wie und wann die Frage der Verjährung in diesem Verfahren aufgeworfen wurde.

145. Damit ergibt sich, dass, wie ich bereits in meiner Antwort auf die dritte Frage ausgeführt habe, beim gegenwärtigen Stand der Entwicklung des Rechts der Europäischen Union, sofern alle für die Anwendung des in Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens niedergelegten Grundsatzes ne bis in idem erforderlichen Voraussetzungen vorliegen, ein weiteres Strafverfahren gegen denselben (oder dieselben) Angeklagten wegen derselben materiellen Tat ausgeschlossen ist und ein nationales Gericht die Tatsachenfeststellungen der ersten Entscheidung nicht in Frage stellen darf(115).

146. Ist dies jedoch nicht der Fall, sind die Strafgerichte in anderen Mitgliedstaaten nicht an frühere Feststellungen der Strafgerichte in einem anderen Mitgliedstaat gebunden.

147. Die Beurteilung, ob bestimmte Waren den Status von „Gemeinschaftswaren“ genießen oder ob ihre Einfuhr in die Gemeinschaft eine zollrechtliche Zuwiderhandlung darstellt, die einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit unterliegt, ist Sache des nationalen Gerichts, das bei der Entscheidung über die Frage, ob die Waren „im freien Verkehr“ befindlich sind, die einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts (d. h. Artikel 28 EG, den Zollkodex und die Durchführungsverordnung) sowie, im Hinblick auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit, die einschlägigen nationalen Vorschriften betreffend die zollrechtlichen Zuwiderhandlungen anwenden muss.

 Frage 4 b

148. Die zweite Teilfrage geht im Wesentlichen dahin, ob für die Anwendung des Artikels 54 des Durchführungsübereinkommens die Einfuhr und die nachfolgende Vermarktung von Waren als eine einzige Tat oder als zwei selbständige Taten anzusehen sind.

149. Der Begriff „dieselbe Tat“ im Sinne des Artikels 54 des Durchführungsübereinkommens wurde vom Gerichtshof im Urteil Van Esbroeck ausgelegt. Er entschied, dass das „einzige maßgebende Kriterium“ für diese Bestimmung das Vorliegen einer „Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände“(116) sei. Der Gerichtshof vertrat die Auffassung, dass eine materielle Tat als „dieselbe Tat“ in Frage komme, wenn sie einen „Komplex von Tatsachen darstellt, die in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbunden sind“(117).

150. Der Sachverhalt in der Rechtssache Van Esbroeck (Ausfuhr von Betäubungsmitteln aus einem Vertragsstaat und Einfuhr derselben Betäubungsmittel in einen anderen Vertragsstaat) wurde vom Gerichtshof grundsätzlich als „dieselbe Tat“ im Sinne des Artikels 54 des Durchführungsübereinkommens angesehen.(118). Da sich jedoch die Frage als eine Frage nach dem Sachverhalt im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens stellte, war sie vom vorlegenden Gericht zu entscheiden.

151. Konstituieren die Einfuhr und die Vermarktung von Waren eine „Identität der materiellen Tat“, verstanden als ein „Komplex von Tatsachen …, die in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbunden sind“?

152. Meines Erachtens ist dies nicht zwangsläufig der Fall. Die Handlung, mit der Waren rechtswidrig eingeführt werden, verstanden als Verbringung der Waren in das Zollgebiet der EU, ohne Zoll zu bezahlen oder den Einfuhrverpflichtungen nachzukommen, umfasst nicht zwangsläufig oder automatisch auch die Handlung, mit der diese Waren in dem genannten Gebiet an Dritte veräußert werden. Ohne weiteres vorstellbar ist z. B. die rechtswidrige Einfuhr von Waren für den eigenen Verbrauch, bei der überhaupt keine Vermarktung stattfindet. Ebenso ist die rechtswidrige Einfuhr durch eine Person und die nachfolgende Vermarktung durch eine andere Person in einem anderen Mitgliedstaat denkbar. In einem solchen Fall gäbe es zwei verschiedene Tatsachenkomplexe, an denen zwei verschiedene Personen an zwei verschiedenen Orten und zu zwei verschiedenen Zeitpunkten beteiligt wären.

153. Meines Erachtens sind daher die rechtswidrige Einfuhr und die Vermarktung derselben Waren nicht stets ein „Komplex von Tatsachen …, die in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbunden sind“. Im Ergebnis sind sie nicht zwangsläufig „dieselbe Tat“ im Sinne des Artikels 54 des Durchführungsübereinkommens in der Auslegung durch den Gerichtshof im Urteil Van Esbroeck. Mit den Worten des vorlegenden Gerichts, die Vermarktung rechtswidrig eingeführter Waren stellt nicht zwangsläufig eine mit der Einfuhr untrennbar zusammenhängende Handlung dar.

154. Selbstverständlich können die Umstände so liegen, dass die rechtswidrige Einfuhr und die nachfolgende Vermarktung der Schmuggelwaren tatsächlich in einer Weise unlösbar miteinander verbunden sind(119), dass sie als dieselbe Tat im Sinne des Urteils Van Esbroeck angesehen werden können. Darüber wird das nationale Gericht zu entscheiden haben.

155. Ich möchte an dieser Stelle auf einen Unterschied zwischen den Ansätzen im Urteil Van Esbroeck und im Urteil Zement hinweisen. Im Urteil Zement machte der Gerichtshof im Rahmen der Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem als eines tragenden Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts auf das Wettbewerbsrecht dessen Anwendung von der „dreifachen Voraussetzung“ der „Identität des Sachverhalts, des Zuwiderhandelnden und des geschützten Rechtsguts“(120) abhängig. Im Urteil Van Esbroeck dagegen stellte der Gerichtshof ausdrücklich fest, dass das Bestehen einer „Identität des geschützten Rechtsguts“ keine Voraussetzung nach Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens sei. Eine bloße Identität der materiellen Tat sei ausreichend.

156. Geht man, wie ich es tue(121), davon aus, dass sich der Grundsatz ne bis in idem unter dem Gesichtspunkt der Logik nicht wesentlich danach unterscheiden darf, ob er nach Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens oder als ein tragender Grundsatz des Gemeinschaftsrechts zur Anwendung kommt, ist es erforderlich, die beiden Rechtssachen miteinander in Einklang zu bringen.

157. Meines Erachtens liegt der Unterschied darin, dass der Gerichtshof im Urteil Zement den Grundsatz ne bis in idem auf die Befugnisse der Gemeinschaftsorgane, Unternehmen mit Sanktionen nach den gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln zu belegen, angewandt hat – also in einem streng supranationalen Rahmen und bezüglich einer einzelnen Rechtsordnung, die von einem einheitlichen Kreis von Regelungen bestimmt wird. Unter diesen Umständen ist das geschützte Rechtsgut definitionsgemäß bereits durch die gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln bestimmt, und ist für die gesamte Gemeinschaft ein und dasselbe. Der Gerichtshof hat daher in diesem „einheitlichen“ Rahmen mit guten Gründen verlangt, dass die „Identität des geschützten Rechtsguts“ eine der Voraussetzungen für die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem ist.

158. Der Ausdruck, den der Grundsatz ne bis in idem in Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens gefunden hat, soll dagegen ausdrücklich nicht im Rahmen eines einzelnen einheitlichen Rechtssystems Anwendung finden. Er soll vielmehr bestimmte Aspekte der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in Strafsachen im Rahmen des Schengener Übereinkommens regeln. In diesem Zusammenhang könnte erwartet werden, dass die verschiedenen innerstaatlichen Rechtsordnungen ganz unterschiedliche Rechtsgüter durch Einsatz ihres jeweiligen Strafrechts schützen. Wie sowohl der Generalanwalt(122) als auch der Gerichtshof(123) in der Rechtssache Van Esbroeck ausgeführt haben, würde dem in Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens niedergelegten Grundsatz im Hinblick auf die Verwirklichung seines Zieles, den freien Personenverkehr zu fördern, jede Substanz und Wirksamkeit genommen, wenn für die Anwendung des Grundsatzes eine „Identität des geschützten Rechtsguts“ verlangt würde.

159. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass der Unterschied zwischen den Ansätzen im Urteil Zement und im Urteil Van Esbroeck bei der Bestimmung der Tragweite des Artikels 54 des Durchführungsübereinkommens von erheblicher Bedeutung sein kann. Wann immer daher einer Person in einem nationalen Strafverfahren mehrere Straftaten zur Last gelegt werden, die sich aus demselben tatsächlichen Zusammenhang ergeben, genügt nach der weiten, im Urteil Van Esbroeck vertretenen Auffassung ein rechtskräftiger Freispruch in Bezug auf einen Anklagepunkt für die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem nach Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens(124).

 Ergebnis

160. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Fragen des Audiencia Provincial de Málaga wie folgt zu beantworten:

1.      Beim gegenwärtigen Stand der Entwicklung des Rechts der Europäischen Union ist Artikel 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen dahin gehend auszulegen, dass ein nationales Gericht an die Entscheidung eines Gerichts in einem anderen Mitgliedstaat, in dem dieses in einem Strafverfahren den Eintritt der Verjährung feststellt, nur dann gebunden ist, wenn (a) diese Entscheidung nach nationalem Recht rechtskräftig ist, (b) das Verfahren in dem anderen Mitgliedstaat mit einer Prüfung in der Sache verbunden war und (c) die materielle Tat und der (oder die) Angeklagte(n) in dem Verfahren vor beiden Gerichten identisch sind. Es ist Sache des nationalen Gerichts zu entscheiden, ob diese Voraussetzungen im Einzelfall vorliegen. Liegen sie vor, ist ein weiteres Verfahren gegen denselben (oder dieselben) Angeklagten wegen derselben materiellen Tat ausgeschlossen.

2.      Da Artikel 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen nur Anwendung findet, wenn derselbe Angeklagte betroffen ist, steht er der Verfolgung einer Person in einem Mitgliedstaat nicht dadurch entgegen, dass ein Strafverfahren wegen derselben Tat, aber gegen eine andere Person in einem anderen Mitgliedstaat eingestellt wurde, weil die Verfolgung der zur Last gelegten Straftat verjährt war.

3.      Beim gegenwärtigen Stand der Entwicklung des Rechts der Europäischen Union ist Artikel 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen dahin gehend auszulegen, dass die Strafgerichte in einem Mitgliedstaat an die Entscheidung, die ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats in einem Strafverfahren erlässt, nur dann gebunden sind, wenn (a) die Entscheidung nach nationalem Recht rechtskräftig ist, (b) das Verfahren in dem anderen Mitgliedstaat mit einer Prüfung in der Sache verbunden war und (c) die materielle Tat und der (oder die) Angeklagte(n) in dem Verfahren vor beiden Gerichten identisch sind. Es ist Sache des nationalen Gerichts zu entscheiden, ob diese Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind. Sind sie erfüllt, ist ein weiteres Strafverfahren gegen denselben (oder dieselben) Angeklagten wegen derselben materiellen Tat ausgeschlossen, und das nationale Gericht darf die Tatsachenfeststellungen der ersten Entscheidung nicht durch Ausweitung des Umfangs der Untersuchung in Frage stellen.

4. a) Die Antwort auf Frage 3 gilt unabhängig davon, ob das Strafgericht in dem ersten Mitgliedstaat entschieden hat, dass der zur Last gelegte Sachverhalt nicht nachgewiesen wurde, oder ob es festgestellt hat, dass die Verfolgung der betreffenden Straftat(en) nach den nationalen Strafvorschriften verjährt ist.

4. b) Die rechtswidrige Einfuhr und die nachfolgende Vermarktung derselben Waren sind nicht „dieselbe Tat“ im Sinne des Artikels 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen, es sei denn, sie sind in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbunden. Es ist Sache des nationalen Gerichts zu entscheiden, ob diese Voraussetzungen im Einzelfall vorliegen.


1 – Originalsprache: Englisch.


2 – ABl. 2000, L 239, S. 19.


3 – Das Protokoll ist durch den Vertrag von Amsterdam dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft als Anhang beigefügt worden.


4 – ABl. 2000, L 239, S. 13.


5 – Zweiter Absatz der Präambel des Durchführungsübereinkommens.


6 – Erster Absatz der Präambel des Schengener Übereinkommens.


7 – Beschluss vom 20. Mai 1999 (ABl. L 176, S. 17).


8 – Der Wortlaut dieser Vorschriften steht unter dem Einfluss des Übereinkommens zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Anwendung des Verbotes der Doppelbestrafung, das am 25. Mai 1987 unterzeichnet wurde, jedoch mangels ausreichender Ratifizierung nicht in Kraft getreten ist. Weitere in Kraft getretene Maßnahmen der Gemeinschaft, die sich auf den Grundsatz ne bis in idem beziehen, sind Artikel 6 in Verbindung mit der zehnten Begründungserwägung der Verordnung Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 312, S. 1), Artikel 7 des Übereinkommens über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995, C 316, S. 49), Artikel 10 des Übereinkommens über die Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte der Europäischen Gemeinschaften oder der Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt sind (ABl. 1997, C 195, S. 1), sowie die Artikel 3 Absatz 2, 4 Absatz 3 und 4 Absatz 5 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl (ABl. 2002, L 190, S. 1). In Artikel II‑110 des Entwurfs einer Europäischen Verfassung hat der Grundsatz ne bis in idem als ein Grundrecht der Europäischen Union Verfassungsrang erhalten. Diese Bestimmung mit der Überschrift „Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden“ lautet wie folgt: „Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden“.


9 – Auf der Ebene der Vereinten Nationen stellt Artikel 14 Absatz 7 des Internationalen Pakts von 1966 über bürgerliche und politische Rechte fest: „Niemand darf wegen einer strafbaren Handlung, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des jeweiligen Landes rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden.“ Im europäischen Zusammenhang befassten sich die Artikel 53 bis 55 des Europäischen Übereinkommens von 1970 über die internationale Geltung von Strafurteilen und die Artikel 35 bis 37 des Europäischen Übereinkommens von 1972 über die Übertragung der Strafverfolgung, die sämtlich im Rahmen des Europarates verabschiedet wurden, wortgleich mit der Frage der internationalen Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem. Beide Übereinkommen wurden jedoch nur von sehr wenigen Staaten ratifiziert. Wegen einer umfassenden Darstellung der im Rahmen des Europarates verabschiedeten internationalen Regelungen zum Grundsatz ne bis in idem vgl. J. Vervaele, „The transnational ne bis in idem principle in the EU: Mutual Recognition and equivalent protection of human rights“, 2005, Utrecht Law Review, Bd. I, Heft 2 (Dezember), S. 100, 103 ff.


10 – Urteil vom 15. Oktober 2002 in den Rechtssachen C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P (Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, Slg. 2002, I‑8375). Vgl. unten, Nr. 57.


11 – Vgl. unten, Nrn. 29 bis 33.


12 – Vgl. oben, Nr. 21.


13 – Vgl. oben, Nrn. 17 bis 19.


14 – Beide Urteile sind ordnungsgemäß als Teil der Akten des vorlegenden Gerichts bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingereicht worden.


15 – Ich weise an dieser Stelle darauf hin, dass meine Ausführungen auf der Prämisse beruhen, dass Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens nur bei Entscheidungen Anwendung findet, die in nationalen Strafverfahren ergehen, und sich nicht auf Entscheidungen erstreckt, die in Zivilverfahren ergehen.


16 – Vgl. u. a. Urteil vom 5. Februar 2004 in der Rechtssache C‑380/01 (Gustav Schneider, Slg. 2004, I‑1389, Randnr. 21) und die dort zitierte Rechtsprechung.


17 – Urteil vom 11. Februar 2003 in den Rechtssachen C‑187/01 und C‑385/01 (Slg. 2003, I‑1345).


18 – Urteil vom 10. März 2005 in der Rechtssache C‑469/03 (Slg. 2005, I‑2009).


19 – Urteil vom 9. März 2006 in der Rechtssache C‑436/04 (Slg. 2006, I‑2333). Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer trug ferner am 8. Juni 2006 seine Schlussanträge in der Rechtssache C‑150/05 (Van Straaten) vor, in denen er einen weiteren Aspekt des in Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens verankerten Grundsatzes untersuchte.


20 – Erstmals angewandt wurde der Grundsatz im Urteil vom 15. März 1967 in den Rechtssachen 18/65 und 35/65 (Gutmann, Slg. 1967, 80) im Zusammenhang mit Disziplinarverfahren gegen Bedienstete der Europäischen Gemeinschaft.


21 – Vgl. u. a. Urteil vom 29. April 2004 in den Rechtssachen T‑236/01, T‑239/01, T‑244/01 bis T‑246/01, T‑251/01 und T‑252/01 (Tokai Carbon u. a./Kommission, Slg. 2004, II‑1181, Randnrn. 130 ff.), das eine Zusammenfassung der Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Anwendung des Grundsatzes auf diesem Gebiet des Gemeinschaftsrechts enthält.


22 – Zitiert oben in Fußnote 10.


23 – Urteil vom 7. Januar 2004 in den Rechtssachen C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P (Aalborg Portland u. a./Kommission, Zement, Slg. 2004, I‑123).


24 – Randnr. 30.


25 – Randnr. 29 (Hervorhebung von mir).


26 – Randnr. 31.


27 – Randnr. 32.


28 – Randnr. 33.


29 – Randnr. 35.


30 – Randnrn. 36 und 37.


31 – Randnr. 38.


32 – Randnr. 39.


33 – Vgl. oben, Nr. 41.


34 – Randnr. 30.


35 – Randnr. 31.


36 – Randnr. 33 (Hervorhebung von mir).


37 – Randnr. 34 (Hervorhebung von mir).


38 – Ebenda (Hervorhebung von mir).


39 – In dem Durchführungsübereinkommen wird der Begriff „Vertragspartei“, nicht aber der Begriff „Mitgliedstaat“ verwendet. Der Gerichtshof hat den Begriff „Mitgliedstaat“ verwendet, wenn das ihm vorliegende Verfahren Mitgliedstaaten betraf (wie in der Rechtssache Gözütok und Brügge und in der Rechtssache Miraglia) und den Begriff „Vertragsstaat“, wenn die Rechtssache eine Partei des Schengener Übereinkommens und des Durchführungsübereinkommens betraf, die kein Mitgliedstaat der EU ist (wie in der Rechtssache Van Esbroeck, die Norwegen betraf). Ich werde der Praxis des Gerichtshofes folgen.


40 – Im Urteil Zement (zitiert oben in Fußnote 23) hat der Gerichtshof entschieden, dass die „Identität des geschützten Rechtsguts“ eine der drei Voraussetzungen für die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem im gemeinschaftlichen Wettbwerbsrecht ist. Vgl. unten, Nrn. 58 und 155 bis 158.


41 – Randnr. 36. Es ist vielleicht misslich, dass weder der Gerichtshof noch der Generalanwalt bei der Prüfung der Rechtssache Van Esbroeck auf das Urteil Zement eingegangen ist.


42 – Randnr. 27.


43 – Randnr. 29.


44 – Randnr. 30.


45 – Randnr. 34.


46 – Randnr. 35.


47 – Zitiert oben in Fußnote 10, Randnr. 59. Vgl. auch Van Esbroeck (zitiert oben in Fußnote 19, Randnr. 40).


48 – Randnr. 62 (Hervorhebung von mir). Selbstverständlich kann und sollte unterschieden werden zwischen (a) dem Begriff des Freispruchs, der dem Strafrecht entnommen ist und im Wettbewerbsrecht verwendet wird, und (b) dem Begriff des Freispruchs im Strafrecht selbst. Der Gerichtshof hat diese Unterscheidung nicht ausdrücklich getroffen. Das vorliegende Verfahren betrifft auch die Verfolgungsverjährung, nicht aber die prozessuale Nichtigerklärung einer bereits ergangenen Entscheidung.


49 – Urteil Zement (zitiert oben in Fußnote 23, Randnr. 338). Die „dreifache Voraussetzung“ wurde seither in ständiger Rechtsprechung vom Gericht erster Instanz in den Wettbewerbsfällen angewandt, in denen der Grundsatz ne bis in idem geltend gemacht wurde. Vgl. z. B. Urteil Tokai Carbon (zitiert oben in Fußnote 21, Randnrn. 130 ff.) oder jüngst Urteil vom 25. Oktober 2005 in der Rechtssache T‑38/02 (Danone/Kommission, Slg. 2005, II‑0000, Randnrn. 134 ff.).


50 – Urteil Van Esbroeck (zitiert oben in Fußnote 19).


51 – Vgl. unten die Beantwortung der zweiten Frage (Randnrn. 121 bis 124).


52 – Urteil Zement (zitiert oben in Fußnote 23).


53 – So beträgt z. B. in Frankreich die Verjährung zehn Jahre für schwere Straftaten, fünf Jahre für weniger schwere Straftaten („délits“) und nur ein Jahr für geringfügige Vergehen („contraventions“). In Spanien verjähren Straftaten (ein generell verwendeter Begriff) je nach Schwere der angedrohten Strafe oder Strafmaßnahme nach 20, 15, zehn, fünf oder drei Jahren.


54 – Es gibt bestimmte Ausnahmen. So galt z. B. bis zu ihrer Aufhebung durch den Sexual Offences Act 2003 eine Verjährungsfrist von zwölf Monaten für den widerrechtlichen Geschlechtsverkehr (unlawful sexual intercourse) mit Mädchen unter 16 Jahren (wegen einer Erörterung dieser Frist vgl. Urteil des House of Lords Regina [2004] UKHL 42). Die fehlende Verjährung schließt selbstverständlich nicht aus, dass Grundsätze wie das Verbot des Verfahrensmissbrauchs zur Anwendung kommen können, die die Befugnis der Strafverfolgungsbehörden zur Einleitung von Strafverfahren unter bestimmten Umständen beschränken und damit auf einem anderen Weg zu demselben praktischen Ergebnis führen.


55 – Wegen einer kritischen Erörterung des Grundsatzes und seiner Ratio vgl. allgemein A. Merle und A. Vitu, Traité de Droit Criminel, Tome II, Procédure Pénale, 4. Auflage, 1979, Randnrn. 46 ff. und die dortigen bibliographischen Angaben.


56 – So findet sich ein Hinweis auf den genannten Grundsatz schon bei Demosthenes, der erklärte, dass „[d]ie Gesetze … nicht [gestatten], dass zweimal gegen denselben über dasselbe ein Prozess stattfinde“ (Rede „Gegen Leptines“ [355 v. Chr.], Demosthenes I, englisch von J. H. Vince, Harvard University Press, 1962), und im römischen Recht, wo er im Corpus Iuris Civilis Iustiniani erscheint (Dig. 48, 2, 7, 2 und Cj. 9, 2, 9 pr; 529-534 n. Chr.). Es spricht einiges dafür, dass die erste überlieferte Aufstellung eines entsprechenden Grundsatzes im Common law aus einem Disput im 12. Jahrhundert zwischen Erzbischof Thomas à Becket und Henry II hervorging. Becket argumentierte, dass Geistliche, die von einem Kirchengericht verurteilt worden seien, keiner weiteren Bestrafung durch die Gerichte des Königs ausgesetzt seien, da eine solche weitere weltliche Bestrafung gegen das im Kirchenrecht verankerte Verbot der Doppelbestrafung (das selbst wiederum auf der Bemerkung des Heiligen Jeronimus beruhte: „Denn Gott richtet nicht zweimal dieselbe Tat“, 391 n. Chr.) verstoßen würde. Die Richter des Königs begannen, möglichweise unter dem Einfluss der allgemeinen Verehrung Beckets (und seiner späteren Heiligsprechung) nach seiner Ermorderung durch die Ritter des Königs in der Kathedrale von Canterbury sowie der letzten öffentlichen Buße von Heinrich II vor Beckets Grab, diese Maxime als Rechtsgrundsatz anzuwenden. Zu der Geschichte dieses Grundsatzes vgl. allgemein J. A. Sigler, „A History of Double Jeopardy“, 1963, 7 Am J of Legal History, 283. Zur Geschichte des Grundsatzes im englischen Recht vgl. auch M. Friedland, Double Jeopardy, 1969, OUP, S. 5 bis 15, und P. McDermott, Res Judicata and Double Jeopardy, Butterworths, 1999, S. 199 bis 201.


57 – ‑ Wie Spanien in seinen Erklärungen ausgeführt hat, dient der Grundsatz auch dazu, Polizei und Staatsanwälte zu zwingen, die Sachen so effizient wie möglich vorzubereiten und durchzuführen. Vgl. in dieser Hinsicht W. P. J. Wils, „The principle of ne bis in idem in EC antitrust enforcement: a legal and economic analysis“, 2003, World Competition 26(2), 131, insb. 138. Der Grundsatz der Abgeschlossenheit von Strafverfahren liegt dem Grundsatz ne bis in idem ebenfalls zugrunde. Der Wert der Abgeschlossenheit ist jedoch eng mit der Ratio dieses Grundsatzes verbunden, nämlich mit dem Schutz des Einzelnen vor der ius puniendi des Staates. Vgl. hierzu weiterhin Law Commissions Report Double Jeopardy and Prosecution Appeals, März 2001, erhältlich unter www.lawcom.gov.uk, 37 f.


58 – Wegen einer Erörterung der Ratio des Grundsatzes ne bis in idem in der Tradition sowohl des Common law als auch des kontinentalen Rechts vgl. Friedland (zitiert oben in Fußnote 56, S. 3 bis 5) und McDermott (zitiert oben in Fußnote 56, Kap. 21 f.). Eine eingehende Erörterung aus jüngster Zeit findet sich in Law Commission’s Report, März 2001 (zitiert oben in Fußnote 57).


59 – Der Begriff wird z. B. im Fünften Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten benutzt, in dem es heißt, dass niemand „wegen derselben Straftat zweimal durch ein Verfahren in Gefahr des Leibes oder des Lebens gebracht werden“ darf.


60 – Im Urteil Green/United States (1957) 355 U.S. 184, S. 187-8, zitiert von Friedland (oben, Fußnote 56, S. 4).


61 – Vgl. oben, Nr. 13 und die dazugehörige Fußnote.


62 – Ähnliche Ausnahmen gelten in den Rechtssystemen der meisten Mitgliedstaaten.


63 – Artikel 1 des Beschlusses 2000/365/EG des Rates vom 29. Mai 2000 zum Antrag des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, einzelne Bestimmungen des Schengen-Besitzstands auf sie anzuwenden (ABl. L 131, S. 43), und Beschluss 2004/926/EG des Rates vom 22. Dezember 2004 über das Inkraftsetzen von Teilen des Schengen-Besitzstands durch das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland (ABl. L 395, S. 70).


64 – Artikel 1 des Beschlusses 2002/192/EG des Rates vom 28. Februar 2002 zum Antrag Irlands auf Anwendung einzelner Bestimmungen des Schengen-Besitzstands auf Irland (ABl. L 64, S. 20). Die einschlägigen Bestimmungen müssen jedoch noch durch einen zweiten Beschluss des Rates in Kraft gesetzt werden.


65 – Sobald die Schweiz und die Mitgliedstaaten, die 2004 der EU beigetreten sind, den Schengen-Besitzstand vollständig umsetzen, werden die Abweichungen bei der Auslegung des Strafrechts deutlich zunehmen. Vgl. ferner unten, Nrn. 108 bis 114.


66 – Vgl. Unten, Nrn. 92 bis 96. In seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Van Straaten (zitiert oben in Fußnote 19) hat der Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer ebenfalls vorgeschlagen, dass der Grundsatz ne bis in idem Anwendung findet, sofern der Freispruch eine Prüfung in der Sache eingeschlossen hat (Nrn. 65 und 67). In dem Dokument der Kommission Green Paper On Conflicts of Jurisdiction and the Principle of ne bis in idem in Criminal Proceedings (COM[2005] 696 final) wird auf den Seiten 54 bis 56 genau diese Frage gestellt.


67 – Selbst die Rechtsprechung des Gerichtshofes für Menschenrechte ist bezüglich der genauen Tragweite des in Artikel 4 Absatz 1 des Protokolls Nr. 7 verankerten Grundsatzes widersprüchlich, insbesondere bezüglich der Frage, ob der Grundsatz lediglich eine Identität des Sachverhalts oder auch eine Identität des geschützten Rechtsguts erfordert. Vgl. hierzu das Sondervotum des Richters Repki in der Sache Oliveira/Schweiz, Nr. 25711/94, Urteil vom 30. Juli 1998, Reports of Judgements and Decisions, 1998‑V. Zu den Schwierigkeiten bei der Anwendung des Grundsatzes in einem internationalen Zusammenhang vgl. allgemein Vervaele (zitiert oben in Fußnote 9) und C. Van den Wyngaert und G. Stessens, „The international non bis in idem principle: resolving the unanswered questions“, 1999, International and Comparative Law Quarterly, Bd. 48, S. 779. Das von der Kommission erstellte Green Paper (zitiert oben in Fußnote 66) befasst sich eingehend mit den Schwierigkeiten, die sich aus der Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem im Rahmen der EU ergeben.


68 – So ist das Übereinkommen über die Anwendung des Verbotes der Doppelbestrafung von 1987 mangels ausreichender Ratifizierung niemals in Kraft getreten. In jüngerer Zeit, im Jahr 1999, forderte der Europäische Rat auf seiner Tagung in Tampere den Rat und die Kommission auf, bis Dezember 2000 ein Programm über Maßnahmen zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen aufzustellen. Dieses Programm enthielt Vorschläge für 24 Maßnahmen, die unklar umrissen und nach Prioritäten geordnet waren. Eine konkrete Umsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen hat bezüglich des Grundsatzes ne bis in idem nicht stattgefunden. Im Jahr 2003 unterbreitete die griechische Präsidentschaft unmittelbar nach der Entscheidung des Gerichtshofes in der Rechtssache Gözütok und Brügge eine Initiative im Hinblick auf die Annahme eines Rahmenbeschlusses des Rates über die Anwendung des „ne-bis-in-idem“-Prinzips (ABl. 2003, C 100, S. 24). Mit dem Rahmenbeschluss sollte erreicht werden, dass die Mitgliedstaaten über gemeinsame Rechtsnormen in Bezug auf den Grundsatz ne bis in idem verfügen, um sowohl deren einheitliche Auslegung als auch ihre einheitliche Anwendung in der Praxis sicherzustellen. Bisher haben sich die Mitgliedstaaten nicht auf den Rahmenbeschluss verständigt.


69 – Diese Formulierung verwendete der ehemalige Richter Mancini in „The free movement of workers in the case-law of the ECJ“, Constitutional Adjudication in EC and National Law, D. Curtin und D. O'Keefe (Hrsg..), 1992, Butterworths, S. 67. Von Anfang an hat der Gerichtshof für Schlüsselbegriffe des EG-Vertrags gemeinschaftsrechtliche Definitionen aufgestellt. Vgl. z. B. die Rechtsprechung zum Begriff des Arbeitnehmers oder der Tätigkeit im Lohn- und Gehaltsverhältnis (beginnend mit Urteil vom 19. März 1964 in der Rechtssache 75/63, Unger, Slg. 1964, 381, 397, bzw. Urteil vom 23. März 1982 in der Rechtssache 53/81, Levin, Slg. 1982, 1035, Randnr. 11). Nach nunmehr ständiger Rechtsprechung „verlangen die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts und der Gleichheitssatz, dass Begriffe einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Gemeinschaft autonom und einheitlich ausgelegt werden, wobei diese Auslegung unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und des mit der Regelung verfolgten Zweckes zu ermitteln ist“ (vgl. u. a. Urteil vom 27. Februar 2003 in der Rechtssache C‑373/00, Adolf Truley, Slg. 2003, I‑1931, Randnr. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).


70 – Urteil vom 5. Februar 1963 in der Rechtssache 26/62 (Van Gend en Loos, Slg. 1963, 3, 25).


71 – Diese völkerrechtlichen Übereinkommen, die die Anwendung des Grundsatzes in einem internationalen Zusammenhang regeln, sind bei der Ratifizierung bemerkenswert erfolglos geblieben. Vgl. oben, Fußnote 9.


72 – Wie ausdrücklich im Urteil Miraglia anerkannt wird, vgl. oben, Nr. 49.


73 – In den traditionellen Bestimmungen des Vertrags hat er tatsächlich keinen absoluten Rang. Artikel 39 Absatz 3 EG (Arbeitnehmer), Artikel 46 EG (Niederlassung) und Artikel 55 EG (Dienstleistungen) erlauben sämtlich aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit Ausnahmen vom Grundsatz des freien Personenverkehrs. Diese Ausnahmen wurden durch die Rechtsprechung des Gerichtshofes zu den „zwingend zu erfüllenden Voraussetzungen“ weiter ausgedehnt. Vgl. ferner unten, Nrn. 110 bis 112.


74 – Vgl. unten, Fußnote 78.


75 – So unterliegt z. B. Völkermord in mehreren Mitgliedstaaten, die sonst für Straftaten Verjährungsfristen vorsehen, keiner Verjährung,


76 – Bedauerlicherweise ist der Anwendungsbereich von Artikel 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK ausdrücklich auf einen innerstaatlichen Kontext beschränkt (nämlich den des jeweiligen Unterzeichnerstaats des Protokolls), vgl. Erläuternder Bericht zu Protokoll Nr. 7 (Nr. 27). Deshalb ist letztlich weder der eigentliche Wortlaut des Protokolls noch dessen Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Richtschnur für die zutreffende Auslegung des Artikels 54 des Durchführungsübereinkommens hilfreich. Dasselbe gilt für Artikel 14 Absatz 7 des Internationalen Pakts von 1966 über bürgerliche und politische Rechte, der ebenfalls im innerstaatlichen Kontext des einzelnen Unterzeichnerstaats Anwendung finden soll.


77 – Der vorliegende Fall betrifft Entscheidungen eines Gerichts, und die vorliegende Erörterung stellt darauf ab. In der Rechtssache Gözütok und Brügge hatte die Gesellschaft ebenfalls die Möglichkeit gehabt – und genutzt –, den Angeklagten zur Verantwortung zu ziehen (dort durch vorgerichtliche administrative Vereinbarungen, die beiden Angeklagten angeboten und von ihnen angenommen worden waren und die ein Schuldeingeständnis sowie das Einverständnis mit geringeren Strafen als im Fall der Durchführung eines vollständigen Verfahrens beinhalteten). Dieser Teil der zugrunde liegenden Analyse hängt nicht davon ab, ob formal ein Gericht beteiligt ist.


78 – Eine kurze vergleichende Untersuchung zeigt, dass zwar über die Frage der Verjährung das zuständige Gericht gewöhnlich von Amts wegen zu Beginn des Verfahrens entscheidet (sofern die Anklagebehörde dies nicht bereits vor Anklageerhebung erkannt hat), doch kann diese Frage auch in jeder anderen Phase des Strafverfahrens von jedem Beteiligten aufgeworfen werden, selbst nach der Anhörung und der Beweisaufnahme. Meines Erachtens findet im letztgenannten Fall eine Sachprüfung statt, auch wenn ein förmliches Urteil in der Sache nicht ergeht. Ein Angeklagter, der ein Strafverfahren bis zu diesem Punkt durchgestanden hat, ist vom Staat eindeutig „einer Gefahr“ ausgesetzt worden. Der Grundsatz ne bis in idem findet daher Anwendung.


79 – Mir ist bewusst, dass die Bedeutung diese Feststellung in der Praxis von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich sein kann und dass das nationale Gericht im „zweiten“ Mitgliedstaat möglicherweise zusätzliche Ermittlungen durchführen muss. Wie ich unten in den Nrn. 117 und 118 ausführen werde, können diese praktischen Schwierigkeiten jedoch durch Heranziehen der bestehenden Mechanismen der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Strafgerichten verringert werden. Der Punkt, an dem der Angeklagte „in Gefahr“ gebracht wird, kann auch vom nationalen Strafrecht selbst definiert werden. Dies ist z. B. der Fall in den Vereinigten Staaten, wo die Gefahr in einem Strafverfahren beginnt, wenn die Jury gewählt und vereidigt ist. Diese Vorschrift gilt als eine zentrale Vorschrift des im Fünften Zusatzartikel niedergelegten Verbots der Doppelbestrafung. Vgl. Crist/ Bretz (1978) 437 U.S. 28. Wegen einer Erörterung dieser Frage im Rahmen des Systems des Common law, vgl. Friedland, zitiert oben in 56, Kap. 2 f.


80 – Meine Analyse im vorliegenden Fall ist bewusst beschränkt auf die Frage der Verjährung. Ohne mich hier näher mit der These zu beschäftigen, die Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer in Nr. 65 seiner Schlussanträge in der Rechtssache Van Straaten (zitiert oben in Fußnote 19) kurz darlegt, teile ich nicht seine Auffassung, dass alle von ihm angeführten Beispiele notwendigerweise eine Prüfung in der Sache mit sich bringen und damit den Angeklagten das Recht geben, sich auf den Grundsatz ne bis in idem zu berufen.


81 – Dies ist auch die Bedeutung, die meines Erachtens für den Begriff „rechtskräftig … freigesprochen“ in Artikel II‑110 des Entwurfs einer Europäischen Verfassung sachgerecht ist. Vgl. oben, Fußnote 8.


82 – Vgl. oben, Nr. 83.


83 – Vgl. oben, Nr. 57.


84 – Diese Erwägungen werden gestützt durch die Rechtsprechung des Gerichtshofes, in der er Artikel 6 EU anwandte. Vgl. z. B. Urteile vom 23. September 2003 in der Rechtssache C‑109/01 (Akrich, Slg. 2003, I‑9607, Randnr. 58) und vom 20. Mai 2003 in den Rechtssachen C‑465/00, C‑138/01 und C‑139/01 (Österreichischer Rundfunk, 2003, I‑4989, Randnrn. 68 f.). Im Urteil Van Esbroeck (zitiert oben in Fußnote 19) scheint der Gerichtshof dieser Auffassung implizit gefolgt zu sein, da er bei seiner Feststellung, dass der in Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens niedergelegte Grundsatz als ein fundamentaler Grundsatz des Gemeinschaftsrechts anerkannt worden ist, auf das Urteil Vinyl Maatschappij Bezug nahm (Randnr. 40).


85 – Vgl. oben, Nrn. 155 bis 158.


86 – Dies ist keineswegs nur eine theoretische Frage. Es scheint z. B., dass wegen des nachsichtigen Umgangs mit Straftaten, die im Zusammenhang mit dem Handel gestohlener Kunstwerke begangen werden, sowohl Belgien als auch die Niederlande lange Zeit ein bevorzugter Standort für Kunsthändler waren.


87 – Dieser Begriff ist offensichtlich nah mit dem Begriff „gegenseitige Anerkennung“ verwandt, der zu den traditionellen vier Freiheiten nach dem EG-Vertrag gehört. Der Gerichtshof spricht in seinen Urteilen von „gegenseitigem Vertrauen“, nicht aber von „gegenseitiger Anerkennung“, ein Begriff, der vom Europäischen Rat, vom Rat und von der Kommissionn benutzt wird (vgl. unten, Fußnote 89). Ich gehe jedoch davon aus, dass dies verschiedene Bezeichnungen für denselben Grundsatz sind.


88 – Vgl. Nrn. 44 und 54.


89 – Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen wurde auf Vorschlag des Vereinigten Königreichs vom Europäischen Rat auf seiner Tagung in Tampere unterstützt. In den Schlussfolgerungen des Rates heißt es: „Der Europäische Rat unterstützt … den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der seiner Ansicht nach zum Eckstein der justitiellen Zusammenarbeit sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen innerhalb der Union werden sollte. Der Grundsatz sollte sowohl für Urteile als auch für andere Entscheidungen von Justizbehörden gelten“ (Nr. 33 der Schlussfolgerungen). Nach der Einleitung des danach vom Rat und der Kommission aufgestellten Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen (ABl. 2001, C 12, S. 10) „setzt [die Umsetzung dieses Grundsatzes] gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafgerichtsbarkeit voraus. Dieses Vertrauen beruht insbesondere auf dem gemeinsamen Sockel von Überzeugungen, der durch ihr Eintreten für die Grundsätze der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie des Rechtsstaates gebildet wird“.


90 – In diesem Fall würde außerdem der Gerichtshof als Gesetzgeber auftreten, wodurch deutlich wird, dass eine solche Betrachtungsweise abzulehnen ist.


91 – Vgl. in dieser Hinsicht die Untersuchung von S. Peers, „Mutual Recognition and Criminal Law in the EU: Has the Council got it Wrong? “, 2004, Common Market Law Review 5.


92 – „Le crime et la peine sont donc des phénomènes sociaux, soumis aux lois de la sociologie, et ainsi conditionnés par tous les changements apportés à l’organisation sociale, par exemple, par les variations du milieu économique et, plus encore, par l’état des croyances morales et du degré de culture de chaque époque et de chaque peuple“ (Émile Garçon, 1851-1922, Le droit pénal, origines, évolution, état actuel, Payot, 1922, S. 3). Der Gerichtshof hat es bisher vermieden, die moralischen Entscheidungen der Mitgliedstaaten, wie sie Ausdruck in ihren nationalen Rechtsvorschriften finden, nach dem Gemeinschaftsrecht in Frage zu stellen. Das Urteil Grogan (Urteil vom 4. Oktober 1991 in der Rechtssache C‑159/90, Slg. 1991, I‑4685) ist ein klassisches Beispiel hierfür, wenn auch nicht das einzige. Vgl. allgemein S. O’Leary und J. M. Fernández-Martín, „Judicially created exceptions to the free provision of services“, Services and Free movement in EU Law, M. Andenas und R. Wulf-Henning (Hrsg.), 2002, OUP, 163. Es ist interessant festzustellen, dass im Rahmen des erklärtermaßen föderalen Systems der Vereinigten Staaten gegen das im Fünften Zusatzartikel niedergelegte Verbot der Doppelbestrafung nicht durch spätere einzel- und/oder bundesstaatliche Strafverfolgungen wegen desselben zugrunde liegenden Verhaltens verstoßen wird. Die Bundesstaaten gelten in Bezug aufeinander und in Bezug auf die Bundesregierung als souveräne Einzelstaaten im Sinne des Verbots der Doppelbestrafung (Heath/Alabama, 1985, 474 U.S. 82).


93 – In der Europäischen Union liegt das Alter der Strafmündigkeit je nach Mitgliedstaat bei sieben, acht, 13, 14, 16 oder 18 Jahren.


94 – Insoweit folge ich nicht der beiläufig in den Schlussanträgen Van Straaten (zitiert oben in Fußnote 19, Nr. 65) geäußerten Auffassung von Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer.


95 – In diesem Sinne vgl. H. Schermers, „Non bis in idem“, „Du Droit International au Droit de l’Intégration, Liber Amicorum Pierre Pescatore“, F. Capotorti u. a. (Hrsg.), Nomos, 601, 611. Vgl. auch van den Wyngaert und Stessens (zitiert oben in Fußnote 67, S. 792).


96 – Vgl. die Antwort auf Frage 4 b (unten, Nrn. 148 bis 154).


97 – Vgl. die Antwort auf die zweite Frage (unten, Nrn. 121 bis 124).


98 – In Randnr. 47 (Hervorhebung von mir).


99 – Urteil Zement (zitiert oben in Fußnote 23, Randnr. 338).


100 – Vgl. oben, Nrn. 29 bis 33. Sie steht jedoch völlig im Einklang mit den Urteilen des Strafgerichts in Setúbal und des portugiesischen Supremo Tribunal, vgl. oben, Nr. 33.


101 – Alle Mitgliedstaaten (mit Ausnahme von Frankreich, das in seinen mündlichen Erklärungen keine Ausführungen zur dritten Frage gemacht hat) haben die dritte Frage in Abhängigkeit von den Antworten auf die ersten beiden Fragen beantwortet.


102 – Ich weise darauf hin, dass die vorgeschlagene Antwort nicht dahin zu verstehen ist, dass sie zwangsläufig die Wiederaufnahme des Verfahrens nach Artikel 4 Absatz 2 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK ausschließt (z. B. falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen). Da dieser Punkt in dem vorliegnden Vorabentscheidungsersuchen nicht angesprochen wurde, werde ich ihm hier nicht weiter nachgehen.


103 – Vgl. oben, Nrn. 29 bis 33.


104 – Verordnung vom 12. Oktober 1992 (ABl. L 302, S. 1).


105 – Verordnung vom 2. Juli 1993 (ABl. L 253, S. 1). Eine konsolidierte Fassung dieser Verordnung ist erhältlich unter http://europa.eu.int/eur-lex/en/consleg/pdf/1993/en_1993R2454_do_001.pdf.


106 – Artikel 4 Absätze 6 und 7 des Zollkodex und Artikel 313 der Durchführungsverordnung.


107 – Urteile vom 15. Dezember 1976 in der Rechtssache 41/76 (Donckerwolcke, Slg. 1976, 1921) und vom 22. März 1990 in der Rechtssache C‑83/89 (Houben, Slg. 1990, I‑1161).


108 – Artikel 4 Absätze 6 und 7 sowie Artikel 79 des Zollkodex.


109 – Artikel 79 des Zollkodex.


110 – Artikel 313 Absatz 1 der Durchführungsverordnung.


111 – Zu den Voraussetzungen, die gemäß den Artikeln 28 EG und 30 EG für die Einfuhrkontrollen nach 1993 gelten, vgl. P. Oliver unter Mitarbeit von M. Jarvis, Free Movement of Goods in the European Community, 4. Aufl., 2003, Sweet & Maxwell, Randnrn. 6.10, 7.04 und 12.12 bis 12.20.


112 – Artikel 250 des Zollkodex.


113 – Vgl. Titel VII „Zollschuld“ Kapitel 2 „Entstehen der Zollschuld“ des Zollkodex.


114 – Vgl. insbesondere Urteil vom 26. Oktober 1982 in der Rechtssache 240/81 (Einberger, Slg. 1982, 3699), vgl. auch Urteil vom 20. September 1988 in der Rechtssache 252/87 (Kiwall, Slg. 1988, 4753, Randnr. 11).


115 – Natürlich gilt dieselbe Einschränkung wie oben in Fußnote 102 bezüglich Artikel 4 Absatz 2 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK auch hier.


116 – Randnr. 36.


117 – Randnr. 38.


118 – Ebenda. Waren, die über die Grenze befördert werden, werden durch ein und dieselbe Handlung sowohl aus dem Hoheitsgebiet einer Behörde ausgeführt als auch in das Hoheitsgebiet einer anderen eingeführt. Wollte man davon ausgehen, dass dieses Vorgehen aus zwei verschiedenen Handlungen besteht, würde dies, wie Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer in der Rechtssache Van Esbroeck zutreffend ausführt, gegen die Ziele und Grundsätze verstoßen, die dem Ideal eines Binnenmarktes nach dem EG-Vertrag zugunde liegen. Vgl. Schlussanträge von Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer in der Rechtssache Van Esbroeck (zitiert oben in Fußnote 19, Nr. 52).


119 – Z. B., wenn der Importeur der Vermarktung bereits zugestimmt hat oder die Vermarktung kurz nach der rechtswidrigen Einfuhr der Waren vornimmt.


120 – Urteil Zement (zitiert oben in Fußnote 23, Randnr. 338). Vgl. auch Urteil vom 18. November 1987 in der Rechtssache 137/85 (Maizena, Slg. 1987, 4587), in dem der Gerichtshof die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem ablehnte, da die beiden Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts (die von den Klägerinnen des Ausgangsverfahrens die Stellung von zwei Kautionen für diesselbe Ausfuhrlizenz verlangten) einen unterschiedlichen Zweck verfolgten. Der Gerichtshof wandte somit implizit das Kriterium der Identität des geschützten Rechtsguts als eine Voraussetzung des Grundsatzes ne bis in idem an. Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Juli 2002 in der Rechtssache C‑304/02 (Kommission/Frankreich, Slg. 2005, I‑6263, Randnr. 84); vgl. auch die oben in Fußnote 49 angeführte Rechtsprechung.


121 – Vgl. oben, Nrn. 101 bis 103.


122 – Schlussanträge von Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer in der Rechtssache Van Esbroeck (zitiert oben in Fußnote 19, Nrn. 45 bis 48). Wie oben ausgeführt (vgl. oben, Fußnote 67), ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte hinsichtlich der Frage, ob die Identität des geschützten Rechtsguts eine Voraussetzung für die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem ist oder ob die Identität der materiellen Tat ausreicht, nicht einheitlich.


123 – Vgl. Randnr. 56.


124 – Angenommen z. B., einem Angeklagten werden drei Straftaten zur Last gelegt, denen derselbe Sachverhalt zugunde liegt. Das zuständige Strafgericht stellt durch Beschluss ohne Prüfung in der Sache fest, dass die Verfolgung von zwei Straftaten verjährt ist. Nach Durchführung des Verhandlung spricht es den Angeklagten wegen des dritten Anklagepunkts durch rechtskräftiges Urteil frei, weil die Beweislage für die Verurteilung nicht ausreicht. Nach dem Urteil Van Esbroeck ist nur die Identität der materiellen Tat und des Angeklagten, nicht aber die „Identität des geschützten Rechtsguts“ erforderlich. Der Angeklagte kann sich später auf den Grundsatz ne bis in idem nach Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens berufen, sogar bezüglich des ersten und zweiten Anklagepunkts.