Language of document : ECLI:EU:C:2000:635

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN MISCHO

vom 16. November 2000 (1)

Rechtssache C-444/98

R. J. de Laat

gegen

Bestuur van het Landelijk instituut sociale verzekeringen

(Vorabentscheidungsersuchen der Arrondissementsrechtbank Roermond (Niederlande))

„Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer - Arbeitslosigkeit - Grenzgänger - Kurzarbeit - Begriff“

1.
    Die vorliegende Vorabentscheidungsvorlage betrifft eine negative Kollision von nationalen Rechtssystemen, die dadurch entstanden ist, dass der belgische und der niederländische Träger der sozialen Sicherheit die Begriff „Kurzarbeit“ und „Vollarbeitslosigkeit“ in Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffern i und ii der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juli 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und bis zur hier maßgeblichen Zeit aktualisierten Fassung(2) (im Folgenden: Verordnung) unterschiedlich auslegen.

I - Rechtlicher Rahmen

2.
    Die für die Beantwortung der Vorabentscheidungsfragen erheblichen gemeinschaftsrechtlichen Regelungen finden sich in den Artikeln 13 und 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffern i und ii der Verordnung.

3.
    Artikel 13 bestimmt:

„(1)    Vorbehaltlich des Artikels 14c unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften diese sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

(2)    Soweit nicht die Artikel 14 bis 17 etwas anderes bestimmen, gilt folgendes:

a)    Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat;

b)    ...“

4.
    Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffern i und ii sieht vor:

„Für die Gewährung der Leistungen an einen arbeitslosen Arbeitnehmer, der während seiner letzten Beschäftigung im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des zuständigen Staates wohnte, gilt folgendes:

a)    i)    Grenzgänger erhalten bei Kurzarbeit oder sonstigem vorübergehendem Arbeitsausfall in dem Unternehmen, das sie beschäftigt, Leistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigenStaates, als ob sie im Gebiet dieses Staates wohnten; diese Leistungen gewährt der zuständige Träger;

    ii)    Grenzgänger erhalten bei Vollarbeitslosigkeit Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sie wohnen, als ob während der letzten Beschäftigung die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats für sie gegolten hätten; diese Leistungen gewährt der Träger des Wohnorts zu seinen Lasten.“

II - Sachverhalt

5.
    Aus dem Vorlagebeschluss und aus den innerstaatlichen Akten ergibt sich, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens, R. J. de Laat (im Folgenden: Kläger), niederländischer Staatsangehöriger ist und mit seiner Familie in den Niederlanden wohnt. Er war bei der Firma Amstelstad Belgium als Betriebsleiter vom 1. Dezember 1994 bis zum 30. November 1996 einschließlich beschäftigt; an diesem Tag endete sein Arbeitsverhältnis. Der Kläger wurde von der Firma Amstelstad Belgium aufgrund eines Teilzeitarbeitsvertrags mit dreizehn Wochenstunden mit Wirkung vom Montag, dem 2. Dezember 1996, als Fensterputzer wieder eingestellt.

6.
    Nach den Erklärungen des Bestuur van het Landelijk instituut sociale verzekeringen (im Folgenden: LISV) hatte die Firma Amstelstad Belgium zu der hier maßgeblichen Zeit finanzielle Schwierigkeiten; sie habe sich aber von dem Kläger nicht trennen wollen und dieser habe im Übrigen seine Vollzeitbeschäftigung bei der Firma Amstelstad Belgium ab Februar 1997 wieder aufgenommen.

7.
    Das vorlegende Gericht führt aus, am 30. November 1996 habe der Kläger bei der LISV einen Antrag auf Gewährung einer Leistung bei Arbeitslosigkeit nach der niederländischen Werkloosheidswet (im Folgenden: WW) aufgrund der Kurzarbeit gestellt, in der er sich seit dem 2. Dezember 1996 befunden habe.

8.
    Das LISV lehnte diesen Antrag gemäß Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer i der Verordnung ab und verwies den Kläger mit der Begründung an den zuständigen belgischen Träger, dass es ihn als Kurzarbeiter ansehe. Es habe nämlich weiterhin eine Verbindung mit dem Beschäftigungsland in Form des Teilzeitarbeitsvertrags bestanden, den der Kläger mit der Firma Amstelstad Belgium geschlossen habe, und der Kläger habe daher keine Leistung bei Arbeitslosigkeit in den Niederlanden, dem Wohnland, beanspruchen können, sondern er sei unter die Rechtsvorschriften des Beschäftigungslandes gefallen, im vorliegenden Fall die belgischen Rechtsvorschriften.

9.
    Der Kläger hatte außerdem einen Antrag auf Gewährung einer „Einkommensgarantie“-Leistung beim zuständigen belgischen Träger gestellt, wobeier geltend machte, seit dem 2. Dezember 1996 sei er gezwungen, bei seinem Arbeitgeber eine Teilzeitbeschäftigung auszuüben.

10.
    Der zuständige belgische Träger lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, dass der Kläger nach belgischem Recht und nach Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii der Verordnung als vollarbeitsloser Grenzgänger anzusehen sei und damit den Rechtsvorschriften des Wohnlandes, d. h. im vorliegenden Fall den Rechtsvorschriften der Niederlande, unterliege.

11.
    Der Kläger hat die Entscheidung des zuständigen belgischen Trägers nicht angefochten und sich darauf beschränkt, gegen die Entscheidung des LISV Klage zu erheben. Die Arrondissementsrechtbank Roermond (Niederlande) (im Folgenden: vorlegendes Gericht) hat von den abweichenden Entscheidungen der zuständigen Träger in Belgien und in den Niederlanden Kenntnis genommen; da es Zweifel in Bezug auf die Auslegung der Begriffe Kurzarbeit und Vollarbeitslosigkeit im Sinne von Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffern i und ii der Verordnung hat, hat es folgende Fragen vorgelegt.

III - Die Vorabentscheidungsfragen

1.    Ist es für die Beantwortung der Frage, ob ein Grenzgänger Kurzarbeiter und deshalb aufgrund von Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71 auf eine Leistung des zuständigen Mitgliedstaats angewiesen ist oder ob er vollarbeitslos und deshalb aufgrund von Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71 auf eine Leistung des Mitgliedstaats angewiesen ist, in dem er wohnt, erheblich, ob der betroffene Arbeitnehmer nach dem innerstaatlichen Recht des zuständigen Mitgliedstaats oder des Mitgliedstaats, in dem er wohnt, als Kurzarbeiter bzw. als vollarbeitslos anzusehen sein muss, oder sind die Begriffe Kurzarbeit bzw. Vollarbeitslosigkeit auf eine einheitliche - gemeinschaftliche - Weise auszulegen?

2.    Sofern die Qualifizierung nach innerstaatlichem Recht von Bedeutung ist, welche Qualifizierung muss dann den Vorrang erhalten, wenn die Beurteilung nach dem Recht des zuständigen Mitgliedstaats und die Beurteilung nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitnehmer wohnt, zu verschiedenen Ergebnissen führen?

3.    Wenn die Qualifizierung nach nationalem Recht ohne Bedeutung ist und die Begriffe Kurzarbeit bzw. Vollarbeitslosigkeit auf einheitliche - gemeinschaftliche - Weise auszulegen sind, welches Kriterium ist dann dabei anzuwenden?

4.    Kommt dabei ausschlaggebende Bedeutung dem Umstand zu, ob eine Verbindung mit dem Beschäftigungsstaat bestehen bleibt oder nicht, undfalls ja, welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, wenn es sich um eine solche Beziehung handeln soll? Handelt es sich darum, wenn

    a)    für den Arbeitnehmer eine konkrete Aussicht auf Wiederaufnahme der Tätigkeit bei dem früheren Arbeitgeber besteht oder wenn

    b)    der Arbeitnehmer weiter in demselben Staat arbeitet, sei es auch in geringem Umfang?

5.    Oder ist bei der Auslegung des unter 3. genannten Kriteriums ein eher formaler Maßstab anzuwenden, z. B. der Umstand zu berücksichtigen, dass ein Arbeitsverhältnis im arbeitsrechtlichen Sinne weiter besteht oder nicht?

6.    Ist in Anbetracht der Antworten auf die vorstehend gestellten Fragen ein Grenzgänger, der im Anschluss an seine Entlassung aus einem Vollzeitarbeitsverhältnis bei demselben Arbeitgeber auf der Grundlage eines Teilzeitarbeitsverhältnisses arbeitet, als kurzarbeitender Grenzgänger im Sinne von Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer i der Verordnung oder als ein vollarbeitsloser Grenzgänger im Sinne von Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii der Verordnung anzusehen?

IV - Die beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen

12.
    Was die Auslegung der Begriffe „Kurzarbeit“ und „Vollarbeitslosigkeit“ im Sinne der Verordnung angeht, schlägt das LISV vor, auf die Rechtsprechung des höchsten niederländischen Gerichts, des Centrale Raad van Beroep, Bezug zu nehmen, wonach Vollarbeitslosigkeit vorliege, wenn bei Eintritt der Arbeitslosigkeit nicht mehr angenommen werden könne, dass zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber eine Beziehung bestehe, die eine konkrete Aussicht auf Wiederaufnahme der Tätigkeit eröffne. Wenn dagegen eine solche Beziehung zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber bestehe, handele es sich um Kurzarbeit oder um vorübergehenden Arbeitsausfall und der Arbeitnehmer müsse sich bei Kurzarbeit wegen der Leistung bei Arbeitslosigkeit an den zuständigen Mitgliedstaat wenden.

13.
    Die belgische Regierung trägt vor, in Belgien begründeten die Stunden der Nichtbeschäftigung bei einer Teilzeitbeschäftigung keinen Anspruch auf eine Leistung bei Arbeitslosigkeit. Es gebe lediglich als Anreiz einen beschränkten Anspruch auf etwas, was herkömmlich als Einkommensgarantieleistung bezeichnet werde. Es handele sich um einen Pauschalbetrag, der Vollarbeitslosen gezahlt werde, die eine Teilzeitbeschäftigung annähmen und die daher ihre Leistung bei Arbeitslosigkeit verlören. Andernfalls würden diese Teilzeitarbeitnehmer einen geringeres Einkommen erhalten, als sie es zuvor in Form einer Leistung bei Arbeitslosigkeit erhalten hätten.

14.
    Da diese Einkommensgarantieleistung als eine Leistung im Rahmen der Vollarbeitslosigkeit angesehen werde, werde sie auch den in den Niederlanden teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern gewährt, die in Belgien wohnten und die zuvor in Belgien eine Leistung bei Arbeitslosigkeit für alle Tage der Woche erhalten hätten. Fälle von Kurzarbeit seien dagegen diejenigen Fälle, in denen der Arbeitsvertrag, sei es ein Vollzeit- oder ein Teilzeitarbeitsvertrag, vorübergehend ausgesetzt werde. Nach belgischen Recht würden u. a. folgende Umstände anerkannt: Aussetzung wegen höherer Gewalt, wegen technischer Störungen, wegen ungünstiger Witterungsbedingungen oder wegen Arbeitsmangels aus wirtschaftlichen Gründen. Die in diesem Fall gewährte Leistung sei ein Ausgleich für die Stunden, die aufgrund unvorhergesehener Umstände nicht geleistet worden seien, und sei proportional zu der Zahl der Stunden, während deren die Erfüllung des Arbeitsvertrags ausgesetzt gewesen sei. Die Begriffe „Kurzarbeit“ und „vorübergehender Arbeitsausfall“ in Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer i der Verordnung erfassten zum großen Teil die gleichen Fallgestaltungen wie im belgischen Recht.

15.
    Die portugiesische Regierung nimmt Bezug auf verschiedene Urteile des Gerichtshofes und vertritt die Auffassung, dass ein Grenzgänger, der nach dem Ende eines Vollzeitarbeitsvertrags mit einem bestimmten Arbeitgeber bei demselben Arbeitgeber eine Teilzeitbeschäftigung ausübe, als kurzarbeitender Grenzgänger im Sinne des Artikels 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer i der Verordnung anzusehen sei.

16.
    Die Kommission weist zunächst darauf hin, dass Personen, die in den Anwendungsbereich der Verordnung fielen, nach Artikel 13 Absatz 1 der Verordnung den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterlägen und dass die Verordnung nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes so ausgelegt werden müsse, dass nicht nur eine positive Kollision sondern auch eine negative Kollision der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten vermieden werde.

17.
    Der zweite zu berücksichtigende Grundsatz, der in Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung niedergelegt sei, bestehe darin, dass diese auf den Grundsatz der lex loci laboris gestützt sei, d. h., dass der Betroffene dem System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats unterliege, in dem er arbeite.

18.
    Was Artikel 71 der Verordnung angehe, der eine Ausnahme in diesem Grundsatz enthalte, sei der Gemeinschaftsgesetzgeber von dem Gedanken ausgegangen, dass ein Grenzgänger, wenn er arbeitslos geworden sei und sich daher im Wohnland befinde, vom zuständigen Träger des Wohnlandes am besten Unterstützung erhalten und am leichtesten die ihm zustehenden Leistungen erlangen könne.

19.
    Wenn dagegen die Verbindungen mit dem Beschäftigungsland nicht vollständig unterbrochen seien, weil der Betroffene dort immer noch eine Beschäftigung habe, sei es auch eine Teilzeitbeschäftigung, entfalle die Begründungfür die Ausnahme vom Grundsatz der lex locis laboris und dieser Grundsatz erlange wieder Geltung.

20.
    Ein Grenzgänger sei „Kurzarbeiter“, wenn er eine Beschäftigung (keine Vollzeitbeschäftigung) im Gebiet des Beschäftigungslandes behalte, so dass für ihn das System der sozialen Sicherheit des Beschäftigungslandes aufgrund von Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung weiter gelte. Dagegen sei ein „vollarbeitsloser“ Grenzgänger eine Person, die in Bezug auf Arbeit und soziale Sicherheit alle Verbindungen mit dem Beschäftigungsland verloren habe.

V - Beurteilung

21.
    Vorab sei darauf hingewiesen, dass die Verordnung kein gemeinsames System der sozialen Sicherheit schafft, sondern lediglich die nationalen Systeme koordinieren soll(3). Sie stellt Anknüpfungskriterien auf, mit denen vermieden werden soll, dass ein Wanderarbeitnehmer unter kein System der sozialen Sicherheit fällt oder dass er gleichzeitig unter die Systeme von zwei Mitgliedstaaten fällt.

22.
    Mit der Frage, ob ein Arbeitnehmer, der sich in der Lage des Klägers befindet, als Vollarbeitsloser unter das niederländische System der sozialen Sicherheit oder als Kurzarbeiter unter das belgische System der sozialen Sicherheit fällt oder, wie es die belgische Regierung der Sache nach vorträgt, gleichzeitig unter diesen beiden Systeme, stellt uns das vorlegende Gericht vor ein derartiges Problem.

Zur ersten und zur zweiten Frage

23.
    Die erste Frage des vorlegenden Gerichts geht im Wesentlichen dahin, ob die Begriffe Kurzarbeit und Vollarbeitslosigkeit einen einheitlichen - gemeinschaftlichen - Inhalt erhalten müssen. Alle Mitgliedstaaten, die Erklärungen vorgelegt haben, stimmen in der Auffassung überein, dass diese Frage zu bejahen sei.

24.
    Dieser Reaktion ist offensichtlich zuzustimmen.

25.
    Aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes geht nämlich hervor, dass die „aufgrund des Artikels 51 des Vertrages erlassene Verordnung Nr. 1408/71 ... im Wesentlichen zum Ziel [hat], die Anwendung der in den einzelnen Mitgliedstaaten für Arbeitnehmer, die innerhalb der Gemeinschaft zu- undabwandern, geltenden Systeme der sozialen Sicherheit nach einheitlichen und gemeinschaftlichen Kriterien(4) sicherzustellen“(5).

26.
    Was die Frage angeht, welche Rechtsvorschriften auf einen konkreten Fall anzuwenden sind, hat der Gerichtshof erklärt, dass es sich aus den Vorschriften des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71 ergibt, „dass sich die Anwendung nationaler Rechtsvorschriften nach den Kriterien bestimmt, die sich aus den Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts ergeben“. Zwar ist es nämlich „Sache jedes Mitgliedstaats ..., durch den Erlass von Rechtsvorschriften die Voraussetzungen festzulegen, unter denen eine Person einem System der sozialen Sicherheit oder einem bestimmten Zweig eines solchen Systems beitreten kann oder muss; es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nicht auch bestimmen können, inwieweit ihre eigenen Rechtsvorschriften oder die eines anderen Mitgliedstaats anwendbar sind“(6).

27.
    In Anbetracht der von mir vorgeschlagenen Antwort auf die erste Frage braucht die zweite Frage nicht beantwortet zu werden.

Zur dritten, zur vierten, zur fünften und zur sechsten Frage

28.
    Die dritte, die vierte und die fünfte Frage des innerstaatlichen Gerichts gehen dahin, auf welche Kriterien zurückzugreifen ist, um im Gemeinschaftsrecht zu bestimmen, ob ein Arbeitnehmer Kurzarbeiter oder vollarbeitslos ist.

29.
    Die sechste Frage des vorlegenden Gerichts geht dann dahin, ob jemand, der sich in der Lage des Klägers befindet, als kurzarbeitender Grenzgänger im Sinne des Artikels 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer i der Verordnung oder als vollarbeitsloser Grenzgänger im Sinne des Artikels 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii der Verordnung anzusehen ist.

30.
    Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass ein solcher Arbeitnehmer nach Gemeinschaftsrecht nicht als vollarbeitslos angesehen werden kann.

31.
    Schon nach gesundem Menschenverstand ist ein vollarbeitsloser Arbeitnehmer ein Arbeitnehmer, der nach dem Ende seines Arbeitsverhältnisses keine Tätigkeit mehr ausübt und gleichzeitig auf der Suche nach einer neuen Beschäftigung ist.

32.
    Dies ist im Übrigen auch die Definition, deren Einfügung in die Verordnung die Kommission in einem am 12. Januar 1996 vorgelegten und noch nicht vom Rat verabschiedeten Vorschlag(7) vorgeschlagen hat.

33.
    Nach diesem Vorschlag „bezeichnet der Ausdruck .Vollarbeitslosigkeit' den Zustand eines Arbeitnehmers, dessen Arbeitsverhältnis beendet ist“.

34.
    Durch diese Definition würden nicht nur die Arbeitnehmer, deren Arbeitsvertrag ausgelaufen ist oder die entlassen worden sind, erfasst, sondern auch diejenigen, die aus ihrem Beschäftigungsverhältnis ausgeschieden sind(8). Dies erscheint mir annehmbar, da durch die Verordnung auf jeden Fall nicht die materiellen Ansprüche festgelegt werden sollen, die ein vollarbeitsloser Arbeitnehmer geltend machen kann. Diese Ansprüche bestimmen sich nach den nationalen Rechtsvorschriften. Es kann sich daher ergeben, dass ein Arbeitnehmer, der freiwillig ausgeschieden ist, in einem Mitgliedstaat keine Leistung bei Arbeitslosigkeit erhält, während das Gegenteil in einem anderen Mitgliedstaat zutreffen könnte.

35.
    Man kann daher festhalten, dass der Begriff „Vollarbeitslosigkeit“ im Sinne der Verordnung den Zustand eines Arbeitnehmers bezeichnet, dessen Arbeitsverhältnis beendet ist und der auf der Suche nach einer neuen Beschäftigung ist(9).

36.
    Da der Kläger in dem Zeitraum, um den es hier geht, in Belgien eine Berufstätigkeit ausgeübt hat, kann er nicht als vollarbeitsloser Arbeitnehmer angesehen werden.

37.
    Dagegen lässt sich über die Frage streiten, ob der Kläger Kurzarbeiter oder Teilzeitarbeitnehmer ist. Es besteht kein Zweifel daran, dass nach Gemeinschaftsrecht als Kurzarbeiter derjenige anzusehen ist, der in einem Arbeitsvertrag steht und gegen seinen Willen dazu veranlasst wird, eine geringere Stundenzahl zu leisten als nach diesem Vertrag vorgesehen.

38.
    Ist in diese Definition auch ein Fall wie der vorliegende einzubeziehen, in dem diese Verringerung der Arbeitszeit immer noch in demselben Unternehmen durch einen neuen Vertrag bewirkt wird?

39.
    Auf den ersten Blick könnte man versucht sein, diese Frage in all den Fällen zu bejahen, in denen der Arbeitnehmer zunächst entlassen worden war und auf den alten (Vollzeit-)Vertrag unmittelbar der neue (Teilzeit-)Vertrag folgte.

40.
    Bei dieser Betrachtungsweise stößt man jedoch auf eine Schwierigkeit, nämlich objektiv zu bestimmen, ob man es nicht mit einem Arbeitnehmer zu tun hat, der sich frei dafür entschieden hat, auf eine verkürzte Arbeitszeit überzugehen. Der neue Vertrag wird nämlich sehr häufig in beiden Fällen die gleiche Fassung haben.

41.
    Es lässt sich nämlich nicht gänzlich ausschließen, dass ein Arbeitnehmer anders als der Kläger tatsächlich in Zukunft nur noch eine verringerte Arbeitszeit leisten möchte, dass er sich zu diesem Zweck eine andere Tätigkeit im Unternehmen zuweisen lässt, dass er aber dennoch versucht sein könnte, sich an die zuständigen Stellen zu wenden, um seinen Einkommensverlust durch den Bezug von Leistungen wegen Kurzarbeit auszugleichen.

42.
    Wenn man als Kurzarbeiter einen Arbeitnehmer ansehen müsste, der mit seinem Arbeitgeber einen neuen Arbeitsvertrag geschlossen hat, der eine verkürzte Arbeitszeit vorsieht, wäre darüber hinaus nicht zu erkennen, worin diese Fallgestaltung sich von derjenigen eines Arbeitnehmers unterscheiden sollte, der einen Vertrag mit einem neuen Arbeitgeber abschließen würde. Dieser Arbeitnehmer wäre daher logischerweise ebenfalls als Kurzarbeiter anzusehen.

43.
    Jemanden als Kurzarbeiter anzusehen, der mit einem neuen Arbeitgeber einen Arbeitsvertrag schließt, der eine Teilzeitbeschäftigung vorsieht, sofern der Betroffene immer noch wieder eine Vollzeitbeschäftigung aufnehmen will, würde aber zu Unsicherheiten führen. Dies würde nämlich darauf hinauslaufen, die Absichten des Arbeitnehmers zu berücksichtigen, was die Verordnung gerade vermeiden soll.

44.
    Die Auslegung des Begriffs Kurzarbeiter muss sich meines Erachtens vor allem auf Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer i der Verordnung stützen, der Folgendes vorsieht: „Grenzgänger erhalten bei Kurzarbeit oder sonstigem vorübergehendem Arbeitsausfall in dem Unternehmen, das sie beschäftigt, Leistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates ...“

45.
    Die Worte „das sie beschäftigt“ implizieren eine Kontinuität im Arbeitsverhältnis, d. h. dass der Übergang von einer Vollzeitregelung auf eine Teilzeitregelung innerhalb desselben Unternehmens erfolgt, ohne dass der Vertrag endet oder dass ihm ein Nachtrag hinzugefügt wird, wonach die Arbeitszeit verringert werden soll.

46.
    Angemerkt sei, dass dies in keiner Weise dem Inhalt der Ansprüche vorgreift, die jemand, der sich in der Lage des Klägers befindet, in dem Staatgeltend machen könnte, dessen Rechtsvorschriften nach der Verordnung auf ihn anwendbar sind.

47.
    Wenn die nach den gemeinschaftsrechtlichen Kriterien bestimmten anwendbaren Rechtsvorschriften den Arbeitnehmern, die sich in einem Teilzeitarbeitsverhältnis befinden, Ansprüche auf bestimmte Leistungen eröffnen, weil bei diesen Arbeitnehmern nach diesen Rechtsvorschriften die Voraussetzungen für Leistungen bei Arbeitslosigkeit erfüllt sind, versteht es sich daher von selbst, dass die Gewährung dieser Leistungen einem Arbeitnehmer nicht unter dem Vorwand verweigert werden kann, dass er in einem anderen Mitgliedstaat wohne.

48.
    Eine solche Weigerung würde nämlich einen unmittelbaren Verstoß gegen das in Artikel 48 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG) niedergelegte Diskriminierungsverbot darstellen.

49.
    Letztlich bin ich daher der Auffassung, dass als Kurzarbeiter im Sinne des Artikels 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer i der Verordnung ein Arbeitnehmer anzusehen ist, der in einem Arbeitsvertrag steht und gegen seinen Willen(10) dazu veranlasst wird, nur eine niedrigere Stundenzahl als nach diesem Vertrag vorgesehen zu leisten.

50.
    Das vorlegende Gericht ersucht uns jedoch nicht darum, den Begriff Kurzarbeit im Verhältnis zum Begriff Teilzeitarbeit auszulegen. Im Übrigen macht es unter dem Gesichtspunkt der nach der Verordnung anwendbaren Rechtsvorschriften keinerlei Unterschied, ob ein Arbeitnehmer in die eine oder in die andere Kategorie fällt. Sowohl in Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer i (kurzarbeitender Grenzgänger) als auch in Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a (Person, die im Lohn- oder Gehaltsverhältnis - auch auf Teilzeitbasis - beschäftigt ist) wird nämlich dasselbe Kriterium, nämlich das Kriterium der Lokalisierung der Tätigkeit, angewandt.

51.
    Das vorlegende Gericht möchte im Wesentlichen wissen, ob ein Arbeitnehmer, der sich in der Lage des Klägers befindet, als Vollarbeitsloser im Sinne der Verordnung angesehen werden kann, was zur Folge hätte, dass nach Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats in dessen Gebiet er wohnt, auf ihn anwendbar wären.

52.
    Es ist aber unstreitig, dass der Kläger in dem streitigen Zeitraum eine abhängige Beschäftigung ausgeübt hat, aufgrund deren er gemäß Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterlag, in dem diese Beschäftigung ausgeübt wurde, im vorliegenden Fall den Rechtsvorschriften des Königreichs Belgien.

53.
    Darüber hinaus ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes, dass „Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen ist, dass eine Person, die in den Geltungsbereich dieser Verordnung fällt und die im Gebiet eines Mitgliedstaats einer Teilzeitbeschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis nachgeht, den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats sowohl während der Tage unterliegt, an denen sie dieser Beschäftigung nachgeht, als auch während der Tage, an denen sie ihr nicht nachgeht“(11).

54.
    Ich schlage Ihnen daher vor, die dritte, die vierte, die fünfte und die sechste Frage wie folgt zu beantworten:

„Ein Grenzgänger, der eine Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausübt, kann nicht als Vollarbeitsloser im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 angesehen werden. Er fällt unter die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem er beschäftigt ist, auch wenn er im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt.“

Ergebnis

55.
    Nach alledem schlage ich vor, die Fragen der Arrondissementsrechtbank Roermond wie folgt zu beantworten:

1.    Die Begriffe „Vollarbeitslosigkeit“ und „Kurzarbeit“ in Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juli 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer, Selbständige und deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, sind gemeinschaftlich auszulegen.

2.    Ein Grenzgänger, der abhängig beschäftigt ist, kann nicht als Vollarbeitsloser im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 angesehen werden. Er fällt unter die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem er beschäftigt ist, auch wenn er im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt.


1: Originalsprache: Französisch.


2: -     ABl. L 149, S. 1; Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 (ABl. L 230, S. 8).


3: -     Siehe u. a. Urteil vom 5. Juli 1988 in der Rechtssache 21/87 (Borowitz, Slg. 1988, 3715, Randnr. 23).


4: -     Hervorhebung durch den Verfasser.


5: -     Urteil vom 10. Januar 1980 in der Rechtssache 69/79 (Jordens-Vosters, Slg. 1980, 75, Randnr. 11).


6: -     Urteil vom 23. September 1982 in der Rechtssache 276/81 (Kuijpers, Slg. 1982, 3027, Randnr. 14).


7: -     Vorschlag für eine Verordnung (EG) des Rates zur Änderung der Verordnung Nr. 1408/71 und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 zugunsten Arbeitsloser (ABl. 1996, C 68, S. 11).


8: -     Aus einer der Unterlagen in der innerstaatlichen Akte geht jedoch hervor, dass der Kläger aus wirtschaftlichen Gründen entlassen worden wäre. Er war einen Tag (einen Sonntag) lang ohne Arbeitsvertrag.


9: -     Wobei die Arbeitssuche durch eine Registrierung bei dem zuständigen Träger nachgewiesen ist.


10: -     So wie dieser Wille objektiv durch den bestehenden, nicht geänderten Vertrag dokumentiert wird.


11: -     Urteil vom 3. Mai 1990 in der Rechtssache C-2/89 (Kits van Heijningen, Slg. 1990, I-1755, Randnr. 15).