Language of document : ECLI:EU:C:2000:325

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Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

FRANCIS JACOBS

vom 15. Juni 2000 (1)

Rechtssache C-404/98

Josef Plum

gegen

AOK Rheinland, Regionaldirektion Köln

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs)

1.
    In der vorliegenden Rechtssache möchte der Bundesgerichtshof wissen, ob ein Bauunternehmen, das seinen Sitz in einem Mitgliedstaat hat und dort ein Büro unterhält, seine sämtlichen Bauvorhaben jedoch in einem anderen Mitgliedstaat ausführt, unter Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71(2) („Entsenderegelung“) fällt. Die Antwort auf diese Frage ergibt sich - wie unten ausgeführt - ohne weiteres aus dem Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache Fitzwilliam, das ergangen ist, nachdem das Ersuchen in dieser Rechtssache vorgelegt wurde(3).

Gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen

2.
    Artikel 13 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 stellt die allgemeine Regel auf, daß Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit nur eines Mitgliedstaats unterliegen. Die anzuwendenden Rechtsvorschriften werden gemäß Titel II (Artikel 13 bis 17a) der Verordnung bestimmt.

3.
    Die allgemeine Regel der Verordnung Nr. 1408/71 über die Bestimmung der auf Wanderarbeitnehmer anzuwendendenRechtsvorschriften über die soziale Sicherheit ist in Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a enthalten. Dieser Absatz hat folgenden Wortlaut:

„Soweit nicht die Artikel 14 bis 17 etwas anderes bestimmen, gilt folgendes:

a)    Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat.

...“

4.
    Somit sind die anzuwendenden Rechtsvorschriften normalerweise die des Beschäftigungsstaats. Artikel 14 sieht jedoch eine „Sonderregelung für andere Personen als Seeleute, die eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausüben“, vor. Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a, um den es in der vorliegenden Rechtssache geht, stellt Vorschriften für entsandte Arbeitnehmer auf. Er bestimmt folgendes:

„Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats von einem Unternehmen, dem sie gewöhnlich angehört, im Lohn- oderGehaltsverhältnis beschäftigt wird und die von diesem Unternehmen zur Ausführung einer Arbeit für dessen Rechnung in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats entsandt wird, unterliegt weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit 12 Monate nicht überschreitet und sie nicht eine andere Person ablöst, für welche die Entsendungszeit abgelaufen ist.“

Sachverhalt

5.
    Herr Plum ist Inhaber zweier Bauunternehmen, der Plum Bauträger- und Bauunternehmung GmbH und der Plum Bauunternehmung GmbH. Diese Gesellschaften sind nach deutschem Recht gegründet und haben ihren Sitz in der deutschen Stadt Geilenkirchen. 1989 gründete Herr Plum eine dritte Gesellschaft, die Aannemersbedrijf(4) B3 Senator (im folgenden: Senator). Diese Gesellschaft war nach niederländischem Recht gegründet und hatte bis zur Einstellung ihres Geschäftsbetriebs Ende 1994 ihren Sitz in Heerlen in den Niederlanden.

6.
    Nach dem Vorlagebeschluß verfolgte die Gründung von Senator den Zweck, der immer stärkeren Konkurrenz auf dem deutschen Markt durch in den Niederlanden ansässige Bauunternehmen zu begegnen, wo die Lohnkosten und Sozialversicherungsbeiträge niedriger sind als in Deutschland. Senator erhielt ihre sämtlichen Aufträge von den beidendeutschen Unternehmen von Herrn Plum und führte alle ihre Bauvorhaben in Deutschland durch, wobei sie eigene Arbeitskräfte einsetzte, von denen einige in den Niederlanden und einige in Deutschland wohnten. Sämtliche von Senator ausgeführten Bauvorhaben dauerten weniger als zwölf Monate.

7.
    Das Büro von Senator in Heerlen war mit einer Person besetzt, einem Vorarbeiter der Gesellschaft, der auch den Geschäftsraum vermietete. Er nahm Telefonate und die Post entgegen, die er entweder selbst bearbeitete oder zur Bearbeitung an Herrn Plum in Deutschland weiterleitete. In diesem Büro fanden auch Einstellungsgespräche statt und wurden die Bücher des Unternehmens geführt.

8.
    Von 1989 bis Februar 1993 führte Senator Sozialversicherungsbeiträge an die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die Allgemeine Ortskrankenkasse Rheinland, Regionaldirektion Köln (im folgenden: AOK), ab. Nachdem jedoch die niederländischen Finanzbehörden von ihr im Februar 1993 die Zahlung von Sozialabgaben verlangt hatten, stellte sie ihre Zahlungen an die AOK ein.

9.
    Im Ausgangsverfahren beantragt die AOK die Verurteilung von Herrn Plum zur Zahlung ausstehender Sozialversicherungsbeiträge für die Zeit von März 1993 bis April 1994. Die gesamte Forderung beläuft sich auf 100 430,02 DM zuzüglich Zinsen. Diese Forderung beruht aufeiner Bürgschaft, die Herr Plum für alle Verbindlichkeiten von Senator gegenüber der AOK am 30. Juni 1989 übernommen hat.

10.
    Da die deutschen Untergerichte zugunsten der AOK entschieden, hat Herr Plum Revision beim Bundesgerichtshof eingelegt und geltend gemacht, Senator hafte nicht gegenüber der AOK, da deren Tätigkeit gemäß Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 den niederländischen und nicht den deutschen Vorschriften des Sozialversicherungsrechts unterlägen. Die AOK beanstandet diese Auslegung der Verordnung.

11.
    Angesichts dieses Vorbringens hat der Bundesgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.    Ist eine Person, die in einem Arbeitsverhältnis zu einem Unternehmen (hier: Gesellschaft in der Rechtsform einer B. V. niederländischen Rechts) steht, das seinen Sitz in einem Mitgliedstaat (hier: den Niederlanden) hat und dort ein Büro unterhält, jedoch in erster Linie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats tätig ist und in der Vergangenheit ausschließlich in diesem letztgenannten Mitgliedstaat tätig war (hier: Ausführung von Bauvorhaben in Deutschland), im Gebiet des ersten Mitgliedstaats beschäftigt (Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a derVerordnung Nr. 1408/71 in der Fassung vom 2. Juni 1983, ABl. L 230, S. 8 ff.)?

2.    Falls die Frage zu 1 zu bejahen ist: Liegt eine Entsendung im Sinne des Artikels 14 Absatz 1 Buchstabe a der unter 1 genannten Verordnung vor, wenn ein Bauunternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat seine Arbeitnehmer in erster Linie bei Bauvorhaben in einem anderen Mitgliedstaat einsetzt und in der Vergangenheit über mehrere Jahre ausschließlich dort eingesetzt hat, die voraussichtliche Dauer der Arbeit für jedes einzelne Bauvorhaben aber zwölf Monate nicht überschreitet?

12.
    Schriftliche Erklärungen haben die AOK, die belgische, die französische, die deutsche, die liechtensteinische, die niederländische und die portugiesische Regierung sowie die Kommission eingereicht.

Analyse

13.
    Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob ein Unternehmen, das seinen Sitz in einem Mitgliedstaat (den Niederlanden) hat und dort ein Büro unterhält, seine Geschäftstätigkeit jedoch in erster Linie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats (Deutschland) ausübt und dafür seine eigenen Arbeitskräfte einsetzt, der Entsenderegelung nach Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 unterliegt.

14.
    Bei der Antwort auf diese Frage kann man sich am Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache Fitzwilliam orientieren.(5) In dieser Rechtssache hatte der Gerichtshof darüber zu entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen Zeitarbeitsunternehmen, die Personal in mehr als einem Mitgliedstaat zur Verfügung stellen, unter Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a fallen. Der Gerichtshof hat festgestellt, daß Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a eine Ausnahme von dem in Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a verankerten Grundsatz darstelle, daß der Arbeitnehmer den Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaats unterliege(6). Damit ein Unternehmen unter diese Ausnahme fallen könne, müßten mindestens zwei Voraussetzungen erfüllt sein. Erstens müsse zwischen dem Unternehmen und dem entsandten Arbeitnehmer eine arbeitsrechtliche Bindung bestehen. Das bedeute, daß der Arbeitnehmer diesem Unternehmen unterstehen müsse(7). Zweitens müsse das Unternehmen seine Geschäftstätigkeit gewöhnlich in dem Staat ausüben, in dem es seinen Sitz habe(8). Das bedeute, daß das Unternehmen in diesem Staat gewöhnlich eine nennenswerte Geschäftstätigkeit ausüben müsse(9). Für Zeitarbeitsunternehmen hat der Gerichtshof eine Reihe von Kriterien aufgestellt, die bei der Entscheidung der Frage, ob ein Unternehmengewöhnlich eine nennenswerte Geschäftstätigkeit in einem Mitgliedstaat ausübt, zu berücksichtigen sind(10).

15.
    Es ist unstreitig, daß die Arbeitnehmer von Senator während ihrer Tätigkeit in Deutschland diesem Unternehmen unterstellt waren. Die erste Tatbestandsvoraussetzung des Artikels 14 Absatz 1 Buchstabe a ist somit erfüllt.

16.
    Jedoch ist nach meiner Ansicht die zweite Voraussetzung offensichtlich nicht erfüllt. Senator unterhielt in den Niederlanden ein Büro, in dem von einem einzigen Beschäftigten die Postvorgänge bearbeitet und Einstellungsgespräche geführt wurden. Wie alle diejenigen, die schriftliche Erklärungen eingereicht haben, vortragen, führt dies nicht zu einer nennenswerten Geschäftstätigkeit im Sitzstaat. Würde die Existenz eines Büros, durch das die Post weitergeleitet wird und in dem Einstellungsgespräche geführt werden, für die Zwecke des Artikels 14 Absatz 1 Buchstabe a ausreichen, so würde diese Bestimmung nämlich erheblichen Mißbrauch durch Unternehmen ermöglichen, die bestrebt wären, die mit größeren Lasten verbundenen Sozialversicherungsvorschriften bestimmter Mitgliedstaaten zu umgehen.

17.
    Demnach ist davon auszugehen, daß die Beschäftigten von Senator, die bei Bauvorhaben in Deutschland eingesetzt waren, gemäßArtikel 13 Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 den deutschen Rechtsvorschriften unterliegen.

18.
    Im Licht dieser Ausführungen brauche ich mich nicht dazu zu äußern, welche Kriterien unter anderen Umständen für die Feststellung maßgebend sein können, ob ein Unternehmen, das kein Zeitarbeitsunternehmen ist, gewöhnlich eine nennenswerte Geschäftstätigkeit in einem Mitgliedstaat ausübt. Ebensowenig muß die zweite Frage des Bundesgerichtshofs geprüft werden.

Ergebnis

19.
    Dementsprechend komme ich zu dem Ergebnis, daß der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht folgendermaßen antworten sollte:

Eine Person, die in einem Mitgliedstaat (Deutschland) als Beschäftigter eines Unternehmens arbeitet, das seinen Sitz in einem anderen Mitgliedstaat (den Niederlanden) hat und dort ein Büro unterhält, jedoch in erster Linie im Gebiet des ersten Mitgliedstaats tätig ist und im zweiten Mitgliedstaat keine nennenswerte Tätigkeit ausübt, unterliegt gemäß Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats.


1: Originalsprache: Englisch.


2: -     Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates (ABl. 1983, L 230, S. 6, Anhang I) kodifizierten Fassung.


3: -     Urteil vom 10. Februar 2000 in der Rechtssache C-202/97 (Fitzwilliam Executive Search Ltd, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht).


4: -     „Baufirma“.


5: -     Rechtssache C-202/97, zitiert in Fußnote 2.


6: -     Randnr. 30.


7: -     Randnr. 24.


8: -     Randnr. 33.


9: -     Randnr. 40.


10: -     Randnrn. 43 und 44.