Language of document : ECLI:EU:C:2001:549

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN MISCHO

vom 18. Oktober 2001(1)

Rechtssache C-277/99

Doris Kaske

gegen

Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien

(Vorabentscheidungsersuchen des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs)

„Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer - Arbeitslosenversicherung - Ersetzung der Abkommen der Mitgliedstaaten über soziale Sicherheit - Fortbestand der Vergünstigungen, die zuvor nach dem nationalen Recht in Verbindung mit Abkommen gewährleistet waren - Freizügigkeit der Arbeitnehmer“

Einleitung

1.
    Der österreichische Verwaltungsgerichtshof hat uns Fragen zur Vorabentscheidung darüber vorgelegt, ob ein bilaterales Abkommen zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Leistungen bei Arbeitslosigkeit, die Angehörigen dieser beiden Staaten erbracht werden, anstelle der einschlägigen Vorschriften der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 1248/92 des Rates vom 30. April 1992(2) angewandt werden kann, und über die Auslegung der Artikel 39 EG und 42 EG.

I - Rechtlicher Rahmen

A - Verordnung Nr. 1408/71

2.
    Die Verordnung Nr. 1408/71 trat in Bezug auf die Republik Österreich mit dem Beitritt dieses Landes zum Europäischen Wirtschaftsraum am 1. Januar 1994 in Kraft. Sie enthält folgende Bestimmungen:

Artikel 6

Soweit die Artikel 7, 8 und 46 Absatz 4 nichts anderes bestimmen, tritt diese Verordnung im Rahmen ihres persönlichen und sachlichen Geltungsbereichs an die Stelle folgender Abkommen über soziale Sicherheit:

a)    Abkommen, die ausschließlich zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten in Kraft sind;

...

Artikel 67

Zusammenrechnung der Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten

(1)    Der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, nach dessen Rechtsvorschriften der Erwerb, die Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs von der Zurücklegung von Versicherungszeiten abhängig ist, berücksichtigt, soweit erforderlich, die Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten, die als Arbeitnehmer nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegt wurden, als handelte es sich um Versicherungszeiten, die nach den eigenen Rechtsvorschriften zurückgelegt worden sind; für Beschäftigungszeiten giltdies jedoch unter der Voraussetzung, dass sie als Versicherungszeiten gegolten hätten, wenn sie nach den eigenen Rechtsvorschriften zurückgelegt worden wären.

(2)    Der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, nach dessen Rechtsvorschriften der Erwerb, die Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs von der Zurücklegung von Beschäftigungszeiten abhängig ist, berücksichtigt, soweit erforderlich, die Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten, die als Arbeitnehmer nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegt wurden, als handelte es sich um Beschäftigungszeiten, die nach den eigenen Rechtsvorschriften zurückgelegt worden sind.

(3)    Absätze 1 und 2 gelten außer in den in Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a) Ziffer ii) und Buchstabe b) Ziffer ii) genannten Fällen nur unter der Voraussetzung, dass die betreffende Person unmittelbar zuvor

- im Fall des Absatzes 1 Versicherungszeiten,

- im Fall des Absatzes 2 Beschäftigungszeiten

nach den Rechtsvorschriften zurückgelegt hat, nach denen die Leistungen beantragt werden.

(4)    Ist die Dauer der Leistungsgewährung von der Dauer von Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten abhängig, so findet Absatz 1 oder Absatz 2 entsprechend Anwendung.

...

Artikel 71

(1)    Für die Gewährung der Leistungen an einen arbeitslosen Arbeitnehmer, der während seiner letzten Beschäftigung im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des zuständigen Staates wohnte, gilt Folgendes:

...

b)     ...

    ii)    Arbeitnehmer, die nicht Grenzgänger sind und die sich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen, in dessen Gebiet sie wohnen, oder in das Gebiet dieses Staates zurückkehren, erhalten bei Vollarbeitslosigkeit Leistungen nach den Rechtsvorschriften dieses Staates, als ob sie dort zuletzt beschäftigt gewesen wären; diese Leistungen gewährt der Träger des Wohnorts zu seinen Lasten. Der Arbeitslose erhält jedoch Leistungen nachMaßgabe des Artikels 69, wenn ihm bereits Leistungen zu Lasten des zuständigen Trägers des Mitgliedstaats zuerkannt worden waren, dessen Rechtsvorschriften zuletzt für ihn gegolten haben. Die Gewährung von Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Staates, in dem er wohnt, wird für den Zeitraum ausgesetzt, für den der Arbeitslose gemäß Artikel 69 Leistungen nach den Rechtsvorschriften beanspruchen kann, die zuletzt für ihn gegolten haben.“

B - Nationales Recht - Arbeitslosenversicherungsgesetz 1977

3.
    Zur Anwendung des Artikels 67 Absätze 1 und 2 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt § 14 des österreichischen Arbeitslosenversicherungsgesetzes (nachfolgend: AlVG):

Anwartschaft

(1)    Bei der erstmaligen Inanspruchnahme des Arbeitslosengeldes ist die Anwartschaft erfüllt, wenn der Arbeitslose in den letzten 24 Monaten vor Geltendmachung des Anspruches (Rahmenfrist) insgesamt 52 Wochen im Inland arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt war ...

...

(5)    Ausländische Beschäftigungs- oder Versicherungszeiten sind auf die Anwartschaft anzurechnen, soweit dies durch zwischenstaatliche Abkommen oder internationale Verträge geregelt ist. Bei dieser Berücksichtigung ausländischer Beschäftigungs- und Versicherungszeiten ist die Zurücklegung einer Mindestbeschäftigungszeit im Inland vor der Geltendmachung des Arbeitslosengeldes nicht erforderlich, wenn der Arbeitslose

1.    vor seiner letzten Beschäftigung im Ausland insgesamt 15 Jahre seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich gehabt hat oder

2.    zwecks Familienzusammenführung nach Österreich übersiedelt ist und sein hier lebender Ehegatte insgesamt mindestens 15 Jahre seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich hat und

in beiden Fällen innerhalb von drei Monaten nach dem Ende der Beschäftigung oder der Versicherungspflicht im Ausland sich in Österreich arbeitslos meldet.

(6)    Die in den Abs. 4 und 5 angeführten Zeiten dürfen bei der Ermittlung der Anwartschaft nur einmal berücksichtigt werden.“

C - Abkommen zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Arbeitslosenversicherung

4.
    Zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland wurde ein Abkommen über Arbeitslosenversicherung geschlossen, das am 1. Oktober 1979 in Kraft trat und das seither gilt. Das Abkommen enthält folgende Regelung:

Artikel 7

Berücksichtigung von Zeiten einer beitragspflichtigen Beschäftigung, die nach den Rechtsvorschriften des anderen Vertragsstaates zurückgelegt worden sind

(1)    Zeiten einer beitragspflichtigen Beschäftigung, die nach den Rechtsvorschriften des anderen Vertragsstaates zurückgelegt worden sind, werden bei der Beurteilung, ob die Anwartschaftszeit erfüllt ist, und bei der Festsetzung der Bezugsdauer (Anspruchsdauer) berücksichtigt, sofern der Antragsteller die Staatsangehörigkeit des Vertragsstaates besitzt, in dem der Anspruch geltend gemacht wird, und sich im Gebiet dieses Vertragsstaates gewöhnlich aufhält. Das Gleiche gilt, wenn der Antragsteller zwecks Familienzusammenführung in den Vertragsstaat, in dem der Anspruch geltend gemacht wird, übersiedelt ist und sein bereits dort lebender Ehegatte die Staatsangehörigkeit dieses Vertragsstaates besitzt.

(2)    Bei anderen Arbeitslosen werden Zeiten einer beitragspflichtigen Beschäftigung, die nach den Rechtsvorschriften des anderen Vertragsstaates zurückgelegt worden sind, nur dann berücksichtigt, wenn der Arbeitslose nach seiner letzten Einreise in das Gebiet des Vertragsstaates, in dem er den Anspruch geltend macht, dort mindestens vier Wochen ohne Verletzung der Vorschriften über die Beschäftigung von Ausländern als Arbeitnehmer beschäftigt gewesen ist.“

II - Sachverhalt und Vorlagefragen

5.
    Frau Kaske ist in Deutschland geboren und besitzt seit 1968 die österreichische Staatsbürgerschaft. Sie war von 1972 bis zum 31. Dezember 1982 in Österreich als Arbeitnehmerin pensions-, kranken-, unfall- und arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt. 1983 übersiedelte sie nach Deutschland, wo sie bis April 1995 als Arbeitnehmerin u. a. arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt war, vom 1. Mai 1995 bis 14. Februar 1996 Arbeitslosengeld bezog und vom 15. Februar bis 31. Mai 1996 neuerlich arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt war. Danach kehrte sie nach Österreich zurück und beantragte am 12. Juni 1996 bei der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Arbeitslosengeld.

6.
    Mit Bescheid vom 8. August 1996 wies der Arbeitsmarktservice ihren Antrag ab. Die Behörde begründete ihre Entscheidung damit, dass Frau Kaske unmittelbar vor der Geltendmachung ihres Anspruchs keine österreichischen Versicherungszeiten zurückgelegt habe, wie dies in Artikel 67 Absatz 3 derVerordnung Nr. 1408/71 vorgesehen sei. Folglich könne eine Zusammenrechnung ihrer ausländischen Versicherungs- bzw. Beschäftigungszeiten auf der Grundlage dieser Verordnung nicht erfolgen. Aufgrund dessen sei die Anwartschaft für den Bezug von Arbeitslosengeld nicht erfüllt.

7.
    Die von Frau Kaske gegen den Bescheid erhobene Berufung wies die belangte Behörde mit Bescheid vom 28. November 1996 als unbegründet ab. Dieser Bescheid ist Gegenstand des Ausgangsverfahrens vor dem vorlegenden Gericht. In der Begründung ihres Bescheides vertrat die Behörde die Auffassung, dass Frau Kaske nicht in den Anwendungsbereich des zur Anwendung von Artikel 67 der Verordnung Nr. 1408/71 erlassenen § 14 Absatz 1 AlVG falle, da sie in Österreich in den letzten 24 Monaten vor Geltendmachung des Anspruchs keine arbeitslosenversicherungspflichtige Beschäftigung habe nachweisen können, sowie, dass § 14 Absatz 5 AlVG nicht anwendbar sei, da die Beschwerdeführerin vor der Zurücklegung von Versicherungszeiten in Deutschland weder 15 Jahre hindurch ihren Wohnsitz in Österreich gehabt habe noch zwecks Familienzusammenführung nach Österreich übersiedelt sei. Daher könnten die ausländischen Beschäftigungszeiten nicht auf die Anwartschaft angerechnet werden.

8.
    In Anbetracht dessen, dass Frau Kaske dann Anspruch auf Arbeitslosengeld hätte, wenn ihre deutschen Beschäftigungszeiten für die Anwartschaft heranzuziehen wären, und dies wiederum der Fall wäre, wenn die erwähnten Bestimmungen des österreichisch-deutschen Abkommens auf sie anzuwenden wären, hat der Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof folgende vier Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.    Ist die sogenannte „Rönfeldt-Rechtsprechung“ des Europäischen Gerichtshofes auch auf einen Fall anzuwenden, in dem eine Wanderarbeitnehmerin von der „Freizügigkeit“ (genauer: in deren Vorwegnahme) zwar noch vor Inkrafttreten der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71, aber auch vor dem Wirksamwerden des EG-Vertrags in ihrem Heimatstaat, also zu einem Zeitpunkt Gebrauch gemacht hat, zu dem sie sich im Beschäftigungsstaat noch nicht auf Artikel 39 ff. EG (vormals Artikel 48 ff. EG-Vertrag) berufen konnte?

2.     Für den Fall der Bejahung der ersten Frage:

    Bedeutet die Anwendung der Rönfeldt-Rechtsprechung auf den Versicherungsfall der Arbeitslosigkeit, dass sich eine Wanderarbeitnehmerin auf eine gegenüber der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 günstigere Rechtslage, welche sich aus einem bilateralen Abkommen zwischen zwei Mitgliedstaaten der Europäischen Union (hier aus dem österreichisch-deutschen Abkommen über Arbeitslosenversicherung) ergibt, jeweils für die weitere Dauer der Inanspruchnahme der Freizügigkeit im Sinne der Artikel 39 ff. EG (vormals Artikel 48 ff. EG-Vertrag), insbesondere daher auchnoch bei Ansprüchen, die nach der Rückkehr vom Beschäftigungsstaat im Heimatstaat geltend gemacht werden, berufen kann?

3.     Für den Fall der Bejahung der zweiten Frage: Müssen solche Ansprüche nur insoweit nach dem - günstigeren - Abkommen beurteilt werden, als sie sich auf Versicherungszeiten der Arbeitslosenversicherungspflicht gründen, die bis zum Inkrafttreten der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (hier also: bis zum 1. Januar 1994) im Beschäftigungsstaat erworben wurden?

4.     Für den Fall der Verneinung einer der beiden ersten Fragen bzw. der Bejahung der dritten Frage:

    Ist es unter dem Gesichtspunkt des Diskriminierungsverbotes des Artikels 39 EG (vormals Artikel 48 EG-Vertrag) in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zulässig, wenn ein Mitgliedstaat für die Berücksichtigung von Versicherungszeiten, die in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegt wurden, in seiner Rechtsordnung zwar eine gegenüber der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 günstigere Regelung vorsieht (hier: Verzicht auf das Erfordernis einer unmittelbar vorangehenden Versicherung im Sinne des Artikels 67 Absatz 3 der Verordnung [EWG] Nr. 1408/71), deren Anwendung jedoch - abgesehen vom Fall der Familienzusammenführung - von einem 15-jährigen Wohnsitz im Inland vor dem Erwerb der Versicherungszeiten in dem anderen Mitgliedstaat abhängig macht?

Rechtliche Würdigung

9.
    Zunächst ist Folgendes zu bemerken.

10.
    Die Fragen des vorlegenden Gerichts betreffen im Wesentlichen die Anwendungsvoraussetzungen der Rönfeldt-Rechtsprechung(3). In dieser Rechtssache hatte der Gerichtshof entschieden, dass der Grundsatz, wonach die Verordnung Nr. 1408/71 an die Stelle der Abkommen über die soziale Sicherheit zwischen Mitgliedstaaten trete, zwar zwingend sei, aber nicht zur Folge haben könne, dass Arbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, infolge der Unanwendbarkeit dieser Abkommen Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlören. In diesem Fall würde nämlich der Zweck der Artikel 48 Absatz 2 und 51 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG und 42 EG) verfehlt.

11.
    Sowohl die Kommission als auch die österreichische Regierung tragen Erwägungen vor, die geeignet sind, die Erforderlichkeit der Vorlagefragen in Frage zu stellen.

12.
    So macht die Kommission geltend, dass im Ausgangsverfahren Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71 anwendbar sein könnte. Auch wenn das vorlegende Gericht diese Anspruchsgrundlage der Beschwerdeführerin in den Vorlagefragen nicht angesprochen habe, könnte sie zur Lösung des Rechtsstreits beitragen.

13.
    Aus der Rechtssache Bergemann(4) ergebe sich, dass die Zuständigkeit des Wohnsitzstaates für Arbeitslosenunterstützung dann begründet werde, wenn der Wohnsitzwechsel kurz vor Eintritt der Beschäftigungslosigkeit und aus familiären Gründen vorgenommen worden sei. Diese beiden Voraussetzungen scheinen nach Ansicht der Kommission in der vorliegenden Rechtssache erfüllt zu sein, da die Beschwerdeführerin in ihren Wohnsitzstaat Österreich zurückgekehrt sei, um ihrem Ehemann zu folgen, und sich der österreichischen Arbeitsverwaltung bereits zwölf Tage nach dem Verlust ihrer letzten Beschäftigung zur Verfügung gestellt habe.

14.
    Von den anderen Verfahrensbeteiligten wirft nur die Beschwerdeführerin diese Frage auf; sie beschränkt sich insoweit auf das Vorbringen, dass ihr Fall nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 71 falle, ohne zu erläutern, weshalb dies so sei.

15.
    Es ist nicht zu bestreiten, dass Frau Kaske dann, wenn der vorliegende Sachverhalt dem der Rechtssache Bergemann entspräche, nach der Lösung, die der Gerichtshof in dieser Rechtssache gefunden hat, in den Anwendungsbereich des Artikels 71 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer ii fallen könnte.

16.
    Aus dem Vorlagebeschluss ergibt sich jedoch, dass die Beschwerdeführerin anders, als dies in der Rechtssache Bergemann der Fall war, erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses von Deutschland nach Österreich übergesiedelt ist.

17.
    Ich vermag daher nicht zu erkennen, wie sie als Arbeitsloser, „der während seiner letzten Beschäftigung im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des zuständigen Staates wohnte“, angesehen werden und somit in den Anwendungsbereich des Artikels 71 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer ii fallen könnte.

18.
    Die Kommission führt jedoch aus, dass Artikel 71 indirekt anzuwenden sei. In der Rechtssache Miethe(5) habe der Gerichtshof entschieden, dass es der nationalen Rechtsprechung obliege, festzustellen, ob ein in den Anwendungsbereich des Artikels 71 Absatz 1 Buchstabe b fallender Arbeitnehmer, der im Beschäftigungsstaat bessere Chancen der Wiedereingliederung in das Berufsleben bewahrt habe, in der Folge das Land auswählen könne, in dem er Arbeitslosenunterstützung beziehe.

19.
    Außerdem habe der Gerichtshof im Urteil Bergemann ein Wahlrecht zwischen den zuständigen Stellen im Wohnsitzstaat oder im Beschäftigungsstaat angenommen. Dies sei u. a. damit begründet worden, dass unter solchen Umständen die betroffene Person eher im Wohnsitzstaat als im Beschäftigungsstaat von den günstigen Bedingungen für die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz profitieren könne.

20.
    Daher könne es auch im vorliegenden Fall dem nationalen Gericht obliegen, zu entscheiden, ob die Beschwerdeführerin im jetzigen Wohnsitzstaat günstigere Bedingungen für die berufliche Wiedereingliederung vorfinde.

21.
    Dazu ist jedoch festzustellen, dass die von der Kommission zitierten Urteile Arbeitnehmer betrafen, die - anders als im vorliegenden Fall - während ihrer letzten Beschäftigung tatsächlich in einem anderen Mitgliedstaat als dem Beschäftigungsstaat gewohnt hatten und somit von der sich aus der Rechtsprechung zu Artikel 71 ergebenden Wahlmöglichkeit Gebrauch machen konnten.

22.
    Man kann sich jedoch nicht auf diese Rechtsprechung stützen, um sich über den Wortlaut dieser Vorschrift hinwegzusetzen, insbesondere über das Erfordernis, dass der Arbeitslose während seiner letzten Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Staat gewohnt hat.

23.
    Aus der Argumentation der Kommission ergibt sich folglich nicht, dass sich durch die Heranziehung des Artikels 71 die Prüfung der vom österreichischen Verwaltungsgerichtshof vorgelegten Fragen erübrigen könnte.

24.
    Die österreichische Regierung trägt zwei Argumente vor, aus denen sich ergeben soll, dass die Beantwortung der Fragen des Verwaltungsgerichtshofs nach der Anwendbarkeit der Rönfeldt-Rechtsprechung keine Auswirkung auf das Ausgangsverfahren habe.

25.
    Die österreichische Regierung bestreitet erstens die Ausführungen des vorlegenden Gerichts, wonach Frau Kaske einen Anspruch auf Arbeitslosengeld in Österreich hätte, wenn ihre deutschen Beschäftigungszeiten für die Anwartschaften heranzuziehen wären.

26.
    Die Beschwerdeführerin habe, nachdem sie von 1983 bis April 1995 in Deutschland beschäftigt gewesen sei, dort vom 1. Mai 1995 bis zum 14. Februar 1996 Arbeitslosengeld bezogen, so dass diese Beschäftigungszeit für den Anspruch auf Arbeitslosengeld konsumiert worden sei.

27.
    Für den Anspruch auf ein neues Arbeitslosengeld in Österreich wäre daher nur noch die Beschäftigungszeit ab dem 15. Februar 1996 heranzuziehen. Die Beschäftigungszeit habe am 31. Mai 1996 geendet. Diese Dauer von rund fünfzehn Wochen liege weit unter den in Österreich erforderlichen 52 Wochen.

28.
    Nach ständiger Rechtsprechung ist es jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, sowohl über die Erforderlichkeit als auch über die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu befinden.

29.
    Daher kann der Gerichtshof an der Beantwortung dieser Fragen nicht dadurch gehindert sein, dass der Mitgliedstaat, dem der Beschwerdegegner des Ausgangsverfahrens angehört, die einschlägigen nationalen Vorschriften anders auffasst als das vorlegende Gericht mit der impliziten, aber zwangsläufigen Folge, dass seiner Ansicht nach keine Veranlassung bestand, diese Fragen zu stellen.

30.
    Die österreichische Regierung trägt allerdings zweitens vor, dass die Rönfeldt-Rechtsprechung Frau Kaske schon deswegen nicht mehr zugute kommen könne, weil die Verordnung Nr. 1408/71 bereits auf sie angewandt worden sei.

31.
    Der Bezug von Arbeitslosengeld in Deutschland sei bereits während der Geltung des Gemeinschaftsrechts nach Maßgabe der Verordnung Nr. 1408/71 erfolgt. Daher sei die Anwendung der Rönfeldt-Rechtsprechung ausgeschlossen.

32.
    Andernfalls könnten nämlich alle Wanderarbeitnehmer, die sich in der gleichen Lage wie die Beschwerdeführerin befänden, jederzeit verlangen, dass je nachdem, was für sie zum günstigeren Ergebnis führe, entweder die Regelung der Verordnung Nr. 1408/71 oder die Regelung des Abkommens angewandt werde. Ein solcher Vergleich der Vergünstigungen, der während der gesamten beruflichen Laufbahn eines Arbeitnehmers bei jedem Eintritt von Arbeitslosigkeit durchzuführen wäre, würde den zuständigen Mitgliedstaaten überdies erhebliche Verwaltungsprobleme aufbürden, obwohl sich in der Verordnung keinerlei Grundlage dafür finde.

33.
    Die österreichische Regierung beruft sich für ihre Auffassung auf das Urteil Gómez Rodríguez(6). Diese Rechtssache war aber mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar. Der Gerichtshof hat darin nämlich die Anwendung seiner Rönfeldt-Rechtsprechung ausgeschlossen, weil gemäß Artikel 118 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72(7) ein Vergleich der sich aus dem Abkommen ergebenden Vergünstigungen mit den aus der Verordnung erwachsenden mit dem Ergebnis vorgenommen worden war, dass die Regelung der Verordnung für die Kläger günstiger war.

34.
    Diese Vorschrift, die übrigens nur anwendbar ist, wenn der Versicherungsfall - anders als im vorliegenden Fall - vor dem Inkrafttreten der Verordnung eingetreten ist, trägt aber die Überschrift „Übergangsvorschriften für Renten fürdie Arbeitnehmer“. Daraus folgt zwangsläufig, dass sie auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit nicht anzuwenden ist.

35.
    Außerdem verstehe ich nicht, weshalb Frau Kaske aufgrund der bloßen Tatsache, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt durch die Anwendung der Verordnung begünstigt wurde, ohne weiteres Ansprüche verlieren sollte, die sich für sie aus dem Abkommen ergeben. Die Rönfeldt-Rechtsprechung soll nämlich diese Ansprüche gerade schützen, wenn der Arbeitnehmer sein Recht auf Freizügigkeit vor dem Inkrafttreten der Verordnung ausgeübt hat und daher berechtigterweise erwarten konnte, dass seine rechtliche Stellung gewahrt bleibt und sich nicht aufgrund dieses Inkrafttretens verschlechtert.

36.
    Das entscheidende Kriterium für die Anwendbarkeit der Rönfeldt-Rechtsprechung ist somit das Bestehen von Ansprüchen des Arbeitnehmers, die ihm nach dem Abkommen noch zustünden, aber bei Anwendung der Verordnung genommen würden. Daher ist erst dann, wenn alle Ansprüche, die sich für den Arbeitnehmer aus dem Abkommen ergeben, erschöpft sind, endgültig jede Möglichkeit ausgeschlossen, dass dieses Abkommen an die Stelle der Verordnung tritt.

37.
    Aus den Akten ergibt sich aber nicht, dass dies der Fall ist.

38.
    Schließlich weise ich darauf hin, dass die Regierungen, die im vorliegenden Verfahren Erklärungen abgegeben haben, im Hinblick auf die erste Vorlagefrage die Frage der Anwendung der Rönfeldt-Rechtsprechung auf die Arbeitslosenunterstützung prüfen.

39.
    Diese Frage erfasst ihrem Wortlaut nach aber nur die Anwendung dieser Rechtsprechung in zeitlicher und nicht in sachlicher Hinsicht. Daher werde ich wie die Kommission die Frage der Anwendbarkeit der Rönfeldt-Rechtsprechung auf den Fall der Arbeitslosigkeit im Rahmen der zweiten Vorlagefrage prüfen.

Zur ersten Vorlagefrage

40.
    Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Anwendung der vor dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1408/71 geschlossenen bilateralen Abkommen seit dem Urteil Thévenon(8) so verstanden werden könne, dass sie auf einen aus den Artikeln 39 EG ff. abgeleiteten Vertrauensschutz hinauslaufe. Ein Arbeitnehmer, der sich im Vertrauen auf die nach einem bilateralen Abkommen gegebene Rechtslage in Ausübung seiner nach den Artikeln 39 EG ff. zustehenden Rechte vor dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1408/71 in einen Mitgliedstaat dieses Abkommens begeben habe, solle in diesem Vertrauen durch das Inkrafttreten der Verordnunginsoweit nicht enttäuscht werden, als diese Verordnung nunmehr strengere Leistungsvoraussetzungen statuieren oder im Ergebnis zu geringeren Leistungen führen würde als das Abkommen.

41.
    Daher stelle sich die Frage, ob diese Rechtsprechung auch auf den Fall angewandt werden könne, dass sich jemand vor dem Inkrafttreten des Vertrages und damit auch der Artikel 39 EG ff. aus seinem Heimatstaat in einen anderen Mitgliedstaat begeben habe.

42.
    Der Verwaltungsgerichtshof bemerkt jedoch, dass dies im Urteil Grajera Rodríguez(9) so gewesen sei und den Gerichtshof nicht gehindert habe, seine Rönfeldt-Rechtsprechung anzuwenden.

43.
    Ich weise in diesem Zusammenhang darauf hin, dass dieses Urteil einer ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes entspricht, da der Gerichtshof die Rönfeldt-Rechtsprechung auch in anderen Rechtssachen angewandt hat, in denen der Arbeitnehmer seinen Heimatstaat, bevor der Vertrag dort in Kraft getreten war, verlassen hatte, um sich in einen Mitgliedstaat zu begeben(10).

44.
    Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes lässt sich somit nicht ableiten, dass sie das Inkrafttreten des Vertrages im Heimatstaat des betreffenden Arbeitnehmers voraussetzte.

45.
    Ich teile die Auffassung der Kommission, wonach sich dies daraus erklärt, dass sich diese Rechtsprechung nicht in erster Linie auf die Rechtsgrundlage der Ausübung eines „Freizügigkeitsrechts“ stützt, sondern vor allem auf die sich aus dem Vertrauensschutz ergebende Notwendigkeit, zu verhindern, dass dem Arbeitnehmer Rechte und Vergünstigungen aufgrund des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 1408/71 genommen werden.

46.
    Diese Auffassung wird durch das kürzlich ergangene Urteil Thelen(11) bekräftigt, in dem der Gerichtshof darauf hingewiesen hat, dass die Verdrängung des Abkommens durch die Verordnung nicht bewirken darf, dass dem Arbeitnehmer die Rechte und Vergünstigungen genommen werden, die ihm nach dem Abkommen zustehen. In Randnummer 22 desselben Urteils hat er weiter ausgeführt, dass der Arbeitnehmer darauf vertrauen konnte, dass sein auf dem Abkommen beruhender Anspruch fortbestand.

47.
    Ich schlage daher wie die Kommission vor, die erste Frage wie folgt zu beantworten:

Die Rechtsprechung des Gerichtshofes über das Fortwirken von Abkommen über soziale Sicherheit, an deren Stelle die Verordnung Nr. 1408/71 getreten ist, ist auch auf einen Fall anzuwenden, in dem eine Wanderarbeitnehmerin von der „Freizügigkeit“ (genauer: in deren Vorwegnahme) zwar noch vor Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1408/71, aber auch vor dem Wirksamwerden des EG-Vertrags in ihrem Heimatstaat, also zu einem Zeitpunkt Gebrauch gemacht hat, zu dem sie sich im Beschäftigungsstaat noch nicht auf die Artikel 39 EG ff. berufen konnte.

48.
    Da die folgenden Fragen für den Fall der Bejahung der ersten Frage gestellt sind, sind sie zu prüfen.

Zur zweiten und zur dritten Vorlagefrage

49.
    Sowohl die zweite als auch die dritte Frage betreffen dasselbe Problem, nämlich welche Folgen im vorliegenden Fall aus der Anwendbarkeit der Rönfeldt-Rechtsprechung auf die Leistungen bei Arbeitslosigkeit zu ziehen sind. Daher überrascht es kaum, dass diese Fragen von den Verfahrensbeteiligten, die insoweit Stellung genommen haben, zusammen untersucht worden sind, was ich ebenfalls tun werde.

50.
    Dafür ist vorab die Frage der sachlichen Anwendbarkeit auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit zu prüfen.

51.
    In diesem Zusammenhang machen die österreichische und die spanische Regierung geltend, die Rönfeldt-Rechtsprechung könne wegen der Natur der fraglichen Leistungen nicht auf den vorliegenden Fall übertragen werden.

52.
    Die österreichische Regierung weist darauf hin, dass diese Rechtsprechung vor dem Hintergrund von Rentenansprüchen entwickelt worden sei, wobei wesentliche Unterschiede zu Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung bestünden. Während bei der Rentenversicherung Rentenzeiten, die einmal zurückgelegt seien, bis zum Rentenanfall gewahrt blieben, seien bei der Arbeitslosenversicherung nur die Zeiten heranzuziehen, die unmittelbar vor Eintritt des Versicherungsfalls lägen.

53.
    Insbesondere würden bei Inanspruchnahme von Leistungen bei Arbeitslosigkeit durch den Betroffenen die bisherige Erwerbstätigkeit und alle sonstigen heranziehbaren Zeiten durch den Leistungsbezug konsumiert, und ein neuer Anspruch auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit könne nur durch neue hinreichende Beschäftigungszeiten erworben werden.

54.
    Außerdem bestehe der Anspruch auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit immer nur im letzten Beschäftigungsland, auch bei Arbeitssuche in einem anderen Staat.

55.
    Schließlich gelte das österreichisch-deutsche Abkommen nur für Zeiten vor dem Inkrafttreten der Verordnung bis zum Eintritt der ersten Arbeitslosigkeit.

56.
    Die spanische Regierung weist darauf hin, dass im Unterschied zu Leistungen bei Alter und Invalidität, bei denen es für den Anspruch nicht darauf ankomme, in welchem Land der anspruchsbegründende Tatbestand eingetreten sei, die im vorliegenden Fall anwendbare Verordnung für eine Arbeitslosenunterstützung verlange, dass die letzte Versicherungs- oder Beschäftigungszeit in dem Land zurückgelegt worden sei, in dem die Leistung beantragt werde.

57.
    Diesen Unterschied erklärt sie mit der Natur der Leistungen bei Arbeitslosigkeit. Der Anspruch auf diese Leistungen sei kein abschließender oder vollständiger Anspruch, wie dies bei Alters- oder Invaliditätsleistungen der Fall sei. Vielmehr handele es sich bei ihm um eine Anwartschaft, die sich unvermittelt und übergangslos in einen Anspruch wandeln könne, wenn der Arbeitsplatz verloren gehe und die erforderlichen Voraussetzungen für die Leistung vorlägen. Daher sei die Rönfeldt-Rechtsprechung nicht übertragbar auf Leistungsanwartschaften, die naturgemäß nie vollständig seien, wie dies auch bei den Leistungen bei Arbeitslosigkeit der Fall sei.

58.
    Der Gerichtshof hat jedoch im Urteil Thelen entschieden, dass die Verdrängung des Abkommens durch die Verordnung nicht bewirken darf, dass dem Arbeitnehmer die Rechte und Vergünstigungen genommen werden, die ihm nach dem Abkommen zustehen, auch wenn es um ein System der Arbeitslosenversicherung geht, die Besonderheit bei den Anwartschaftszeiten aufweist, und nicht wie in seinen früheren Urteilen um eine Alters- oder Invaliditätsrente(12).

59.
    Ich teile daher die Ansicht der Kommission, der portugiesischen Regierung und der Beschwerdeführerin, die geltend gemacht haben, dass der Übertragung der Rönfeldt-Rechtsprechung auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit nichts entgegenstehe.

60.
    Bezüglich der Folgen, die sich aus dieser Übertragung für den vorliegenden Fall ergeben, stehen sich zwei Meinungen gegenüber.

61.
    Wie wir gesehen haben, ist die österreichische Regierung der Ansicht, dass das bilaterale Abkommen nur für die Zeit vor dem Inkrafttreten der Verordnung bis zum Eintritt der ersten Arbeitslosigkeit gelte.

62.
    Dagegen vertreten sowohl die Kommission als auch die portugiesische Regierung und die Beschwerdeführerin die Auffassung, dass eine solche Beschränkung mit der Rechtsprechung des Gerichtshofes unvereinbar sei.

63.
    Ich bin auch dieser Auffassung.

64.
    Der Sinn der Rechtsprechung des Gerichtshofes liegt nämlich, wie bereits bemerkt, darin, zu verhindern, dass dem Arbeitnehmer, der vor dem Inkrafttreten der Verordnung von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, aufgrund dieses Inkrafttretens Vergünstigungen genommen werden, auf die er vertrauen konnte, weil sie sich aus dem zur Zeit seines Wanderns geltenden Abkommen ergaben.

65.
    Insoweit ist an das Urteil Rönfeldt zu erinnern, in dem der Gerichtshof ausgeführt hat, dass es gegen den Vertrag verstoßen würde, „wenn die Arbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlören, die ihnen jedenfalls die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats sichern“(13), einschließlich der Vergünstigungen, die sich aus in das nationale Recht eingeführten bilateralen Abkommen ergeben.

66.
    Ginge man aber davon aus, dass auf der Grundlage des günstigeren Abkommens nur die Zeit zu berücksichtigen sei, in der das Recht auf Freizügigkeit vor dem Inkrafttreten der Verordnung ausgeübt wurde, so liefe dies unbestreitbar genau auf die vom Gerichtshof abgelehnte Folge hinaus, nämlich auf den Verlust von Vergünstigungen, die sich aus dem Abkommen ergeben, und zwar für die Zeit, in der das Recht nach dem Inkrafttreten der Verordnung ausgeübt wurde.

67.
    Anders wäre dies nur in dem davon sehr verschiedenen Fall einer erneuten Ausübung des Freizügigkeitsrechts nach Erschöpfung der sich aus dem Abkommen ergebenden Rechte. In einem solchen Fall würde sich die Situation des betroffenen Arbeitnehmers nur nach der Verordnung Nr. 1408/71 richten.

68.
    Die gleiche Überlegung gilt für die dritte Vorlagefrage.

69.
    Ginge man nämlich davon aus, dass die Ansprüche des Arbeitnehmers nur insoweit nach dem günstigeren bilateralen Abkommen beurteilt werden müssten, als sie sich auf Versicherungszeiten der Arbeitslosenversicherungspflicht gründeten, die bis zum Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1408/71 im Beschäftigungsstaat zurückgelegt wurden, so liefe dies ebenfalls darauf hinaus, dass der Arbeitnehmer Vergünstigungen, die sich aus dem Abkommen ergeben, verlieren würde; diese Lösung ist daher nach der Rönfeldt-Rechtsprechung ausgeschlossen.

70.
    Nach alledem wird vorgeschlagen, auf die zweite und die dritte Vorlagefrage wie folgt zu antworten:

Die sich aus einem Abkommen zwischen zwei Mitgliedstaaten ergebende Regelung, die gegenüber der Verordnung Nr. 1408/71 günstiger ist, gilt jeweils für die weitere Dauer der Inanspruchnahme der Freizügigkeit im Sinne der Artikel 39 EG ff., insbesondere daher auch noch bei Ansprüchen, die nach der Rückkehr vom Beschäftigungsstaat im Heimatstaat geltend gemacht werden. Ansprüche, die sich auf Versicherungszeiten gründen, die nach dem Inkrafttreten der Verordnung zurückgelegt wurden, sind ebenfalls nach dem günstigeren bilateralen Abkommen zu beurteilen.

Zur vierten Vorlagefrage

71.
    Das vorlegende Gericht stellt diese Frage nur für den Fall der Verneinung einer der ersten beiden Fragen bzw. der Bejahung der dritten Frage.

72.
    In Anbetracht der vorgeschlagenen Antworten auf diese Fragen braucht die vierte Frage daher nicht beantwortet zu werden.

73.
    Die nachfolgenden Bemerkungen erfolgen daher nur hilfsweise.

74.
    Nach der fraglichen Regelung kann ein Arbeitnehmer, der, nachdem er von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, wieder in Österreich wohnt, Leistungen bei Arbeitslosigkeit erhalten, auch wenn er nicht, wie Artikel 67 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1408/71 dies verlangt, in dem Staat gearbeitet hat, in dem er diese Leistungen beantragt.

75.
    Die Regelung ermöglicht daher diesem Arbeitnehmer eine günstigere Behandlung als nach der Verordnung, wobei diese Vergünstigung aber von zwei Bedingungen abhängig ist: fünfzehnjähriger Wohnsitz in Österreich vor der letzten Beschäftigung im Ausland oder Familienzusammenführung.

76.
    Nach Ansicht der österreichischen Regierung steht diese Vorschrift mit dem Gemeinschaftsrecht in Einklang, da sie nicht die Freizügigkeit behindere und nicht nur für österreichische Staatsbürger gelte. Außerdem ermögliche sie eine bessere Wiedereingliederung dieser Arbeitslosen in den österreichischen Arbeitsmarkt.

77.
    Es ist unbestreitbar, dass ein Mitgliedstaat durch nichts daran gehindert ist, eine gegenüber der Verordnung Nr. 1408/71 günstigere Regelung zu erlassen.

78.
    Die fragliche Vergünstigung steht allerdings unter dem Erfordernis eines fünfzehnjährigen Wohnsitzes oder einer Familienzusammenführung.

79.
    Wie aber sowohl die Kommission als auch das vorlegende Gericht bemerken, ist das Wohnsitzerfordernis für österreichische Staatsangehörige leichter zu erfüllen als für Angehörige der anderen Mitgliedstaaten und stellt daher eine mittelbare Diskriminierung dar. Es ist kein sachlicher Grund vorgetragen worden, um dieses Erfordernis zu rechtfertigen.

80.
    Da die vorstehenden Bemerkungen nur hilfsweise erfolgt sind, wird vorgeschlagen, auf die vierte Vorlagefrage wie folgt zu antworten:

Die Frage braucht nicht beantwortet zu werden.

Ergebnis

81.
    Aus all diesen Gründen wird vorgeschlagen, auf die Fragen des Verwaltungsgerichtshofs wie folgt zu antworten:

Erste Frage:

Die Rechtsprechung des Gerichtshofes über das Fortwirken von Abkommen über soziale Sicherheit, an deren Stelle die Verordnung Nr. 1408/71 getreten ist, ist auch auf einen Fall anzuwenden, in dem eine Wanderarbeitnehmerin von der „Freizügigkeit“ (genauer: in deren Vorwegnahme) zwar noch vor Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1408/71, aber auch vor dem Wirksamwerden des EG-Vertrags in ihrem Heimatstaat, also zu einem Zeitpunkt Gebrauch gemacht hat, zu dem sie sich im Beschäftigungsstaat noch nicht auf die Artikel 39 EG ff. berufen konnte.

Zweite und dritte Frage:

Die sich aus einem Abkommen zwischen zwei Mitgliedstaaten ergebende Regelung, die gegenüber der Verordnung Nr. 1408/71 günstiger ist, gilt jeweils für die weitere Dauer der Inanspruchnahme der Freizügigkeit im Sinne der Artikel 39 EG ff., insbesondere daher auch noch bei Ansprüchen, die nach der Rückkehr vom Beschäftigungsstaat im Heimatstaat geltend gemacht werden. Ansprüche, die sich auf Versicherungszeiten gründen, die nach dem Inkrafttreten der Verordnung zurückgelegt wurden, sind ebenfalls nach dem günstigeren bilateralen Abkommen zu beurteilen.

Vierte Frage:

Die vierte Frage braucht nicht beantwortet zu werden.


1: -     Originalsprache: Französisch.


2: -     ABl. L 136, S. 7.


3: -     Urteil vom 7. Februar 1991 in der Rechtssache C-227/89 (Slg. 1991, I-323).


4: -     Urteil vom 22. September 1988 in der Rechtssache 236/87 (Slg. 1988, 5125).


5: -     Urteil vom 12. Juni 1986 in der Rechtssache 1/85 (Slg. 1986, 1837).


6: -     Urteil vom 7. Mai 1998 in der Rechtssache C-113/96 (Slg. 1998, I-2461).


7: -     Verordnung des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 (ABl. L 74, S. 1).


8: -     Urteil vom 9. November 1995 in der Rechtssache C-475/93 (Slg. 1995, I-3813).


9: -     Urteil vom 17. Dezember 1998 in der Rechtssache C-153/97 (Slg. 1998, I-8645).


10: -     Vgl. Urteile vom 9. Oktober 1997 in den Rechtssachen C-31/96 bis C-33/96 (Naranjo Arjona u. a., Slg. 1997, I-5501), Gómez Rodríguez und Grajera Rodríguez.


11: -     Urteil vom 9. November 2000 in der Rechtssache C-75/99 (Slg. 2000, I-9399).


12: -     Urteil Thelen (Randnrn. 18 bis 20).


13: -     Randnr. 26.