Language of document : ECLI:EU:C:1999:426

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

FRANCIS G. JACOBS

vom 16. September 1999 (1)

Rechtssache C-238/98

Hugo Fernando Hocsman

gegen

Ministre d l'Emploi et de la Solidarité

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal administratif Châlons-en-Champagne [Frankreich])

1.
    In dieser Rechtssache geht es um die Frage, in welchem Umfang ein Mitgliedstaat im Rahmen der Genehmigung der Ausübung des Arztberufs die Berufserfahrung und die Befähigungsnachweise eines Gemeinschaftsangehörigen zu berücksichtigen hat, dessen Befähigungsnachweis über eine ärztliche Grundausbildung in einem Land außerhalb der Gemeinschaft erworben, aber in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt wurde, insbesondere wenn der Betreffende in diesem anderen Mitgliedstaat später einen fachärztlichen Befähigungsnachweis erworben hat.

Sachverhalt und Ausgangsverfahren

2.
    Der Sachverhalt stellt sich nach dem Vorlagebeschluss und den verschiedenen beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen wie folgt dar.

3.
    Dr. Hocsman besaß ursprünglich die argentinische Staatsangehörigkeit. 1986 erwarb er die spanische und 1998, nach Einleitung des Verfahrens vor dem vorlegenden Gericht, die französische Staatsangehörigkeit.

4.
    Er ist Inhaber eines 1977 von der Universität Buenos Aires (Argentinien) ausgestellten medizinischen Diploms. 1980 erkannten das spanische Ministerium für Hochschule und Forschung die Gleichwertigkeit dieses Diploms mit der spanischen ärztlichen Grundausbildung, die mit dem „Licenciado en Medicina y Cirurgía“ abgeschlossen wird, für akademische und berufliche Zwecke an; Dr. Hocsman durfte den Arztberuf in Spanien zu den gleichen Bedingungen ausüben wie ein Inhaber des spanischen Befähigungsnachweises. Seit 1981 war er ein eingetragenes Mitglied des Collegi Oficial de Metges de Barcelona (Ärztekammer Barcelona).

5.
    1982 erhielt Dr. Hocsman vom spanischen Ministerium für Bildung und Wissenschaft den Befähigungsnachweis eines Facharztes für Urologie für akademische Zwecke und von der Universität Barcelona ein Facharztdiplom für Urologie. 1986 erklärte dieses Ministerium das Hochschuldiplom auch für berufliche Zwecke für gültig, nachdem Dr. Hocsman die spanische Staatsangehörigkeit erworben hatte. Ausweislich verschiedener Bescheinigungen hatte er vor dem Erwerb dieser Befähigungsnachweise ärztliche Praktika absolviert und danach verschiedene Stellen zunächst als Facharztvertreter, sodann als Assistenzarzt in Spanien und seit 1990 in Frankreich innegehabt, und zwar jeweils als Facharzt für Urologie.

6.
    Die Beschäftigung von Dr. Hocsman als Krankenhausarzt in Frankreich erfolgte offenbar auf der Grundlage einer Serie befristeter Verträge nach Maßgabe von Vorschriften, wonach öffentliche Einrichtungen unter der Aufsicht eines Arztes Personen mit außerhalb der Gemeinschaft oder des Europäischen Wirtschaftsraums erworbenen ärztlichen Befähigungsnachweisen beschäftigen konnten. Diese Vorschriften wurden 1995 aufgehoben mit der Folge, dass der Vertrag von Dr. Hocsman nach Ablauf nicht mehr erneuert werden konnte. Infolgedessen war Dr.Hocsman seit Ende 1997 arbeitslos, wie wir in der mündlichen Verhandlung erfahren haben.

7.
    1996 beantragte Dr. Hocsman die Aufnahme in das Verzeichnis des Ordre des médecins, der französischen ärztlichen Standesorganisation, um seinen Facharztberuf als Selbständiger ausüben zu können. Diese Standesorganisation teilte ihm mit, dass sein argentinisches Diplom nicht „gemäß der Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 25. Juli 1978, insbesondere Artikel 7“, anerkannt werden könne. Darin liegt offenbar eine Bezugnahme auf Artikel 7 der Richtlinie 78/686/EWG des Rates (betreffend Zahnärzte)(2), wie sie vom Gerichtshof im Urteil Tawil-Albertini(3) ausgelegt worden ist.

8.
    Am 11. April 1997 beantragte Dr. Hocsman offenbar aufgrund eines Ratschlags, der ihm in dem Schreiben erteilt wurde, mit dem seine Aufnahme in das Verzeichnis des Ordre des médecins abgelehnt wurde, beim Gesundheitsminister eine individuelle Zulassung als Urologe in Frankreich.

9.
    Die Antwort auf diesen Antrag ist wohl in einem Schreiben des Ministeriums für Beschäftigung und Solidarität vom 27. Juni 1997 enthalten, worin bestätigt wurde, dass

„Herr Hocsman nicht die Voraussetzungen für die Ausübung des Arztberufs in Frankreich erfüllt ...

Im Urteil Tawil-Albertini ... hat der Gerichtshof ... Artikel 7 der Richtlinie 78/686/EWG des Rates ausgelegt ... Der Gerichtshof war der Ansicht, dass die Mitgliedstaaten nach Artikel 7 keine Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise anzuerkennen haben, die nicht für eine Zahnarztausbildung in einem der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ausgestellt wurden.

Diese Auslegung kann auf die Gemeinschaftsbestimmungen über die Ausübung des Arztberufs übertragen werden; demzufolge berechtigt das Dr. Hocsman in Argentinien verliehene Diplom, das von den spanischen Behörden als dem spanischen Diplom gleichwertig anerkannt wurde, nicht zur Ausübung des Arztberufs in Frankreich.

...“

10.
    Dr. Hocsman erhob gegen die Entscheidung vom 27. Juni 1997 Klage beim Tribunal administratif Châlons-en-Champagne, das am 23. Juni 1998 entschieden hat, dass ein Mitgliedstaat weder nach dem EG-Vertrag noch nach der Richtlinie einen Befähigungsnachweis über eine medizinische Ausbildung anzuerkennen habe, die nicht in einem Mitgliedstaat absolviert worden sei, so dass die Entscheidung des Ministeriums für Beschäftigung und Solidarität nicht rechtsfehlerhaft sei. Gemäß Artikel 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 43 EG), wie er vom Gerichtshof ausgelegt worden sei, habe jedoch, wenn die Zulassung zu einem Beruf beantragt werde, dessen Aufnahme vom Besitz eines Diploms oder einer beruflichen Qualifikation abhänge, der Mitgliedstaat die Befähigungsnachweise, die der Betreffende erworben habe, um den gleichen Beruf in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben, in der Weise zu berücksichtigen, dass er die durch diese Befähigungsnachweise bescheinigten Fachkenntnisse mit den nach dem nationalen Recht vorgeschriebenen Kenntnissen und Fähigkeiten vergleiche. Das Tribunal administratif hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Muss die von einem Mitgliedstaat ausgesprochene Anerkennung der Gleichwertigkeit einen anderen Mitgliedstaat veranlassen, aufgrund von Artikel 52 EG-Vertrag zu prüfen, ob die durch die Anerkennung dieser Gleichwertigkeit bescheinigten Erfahrungen und Qualifikationen denjenigen entsprechen, die für nationale Diplome und Befähigungsnachweise verlangt werden, und zwar insbesondere dann, wenn der Betroffene, dessen Befähigungsnachweis als gleichwertig anerkannt worden ist, ein Diplom besitzt, das eine in einem Mitgliedstaat absolvierte Fachausbildung bescheinigt und in den Geltungsbereich einer Richtlinie über die gegenseitige Anerkennung der Diplome fällt?

11.
    Dr. Hocsman, die finnische, die französische, die italienische und die spanische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. In der mündlichen Verhandlung haben Dr. Hocsman, die französische, die niederländische und die spanische Regierung sowie die Kommission mündliche Ausführungen gemacht.

12.
    In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission ausgeführt, dass sich eine nennenswerte Anzahl von Ärzten in ähnlichen Schwierigkeiten befinde wie Dr. Hocsman und dass von ihnen zahlreiche Beschwerden vorlägen; der französischen Regierung zufolge wurden in den letzten Jahren in Frankreich ungefähr 300 bis 400 ausländische ärztliche Diplome pro Jahr anerkannt, während es etwa 1 200 Ärzte mit ausländischen Befähigungsnachweisen, die in Frankreich ihren Beruf ausübten, gebe. Damit ist klar, dass, auch wenn der Gerichtshof mit seiner Entscheidung nur die in dieser konkreten Rechtssache gestellte Frage beantworten kann, diese Antwort weitergehende Auswirkungen haben wird.

Das einschlägige Gemeinschaftsrecht

13.
    Nach Artikel 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 43 EG) werden die „Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ... aufgehoben“ („sind ... verboten“ in der geänderten Fassung).

14.
    Gemäß Artikel 57 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 47 EG) kann der Rat Richtlinien für die gegenseitige Anerkennung von Befähigungsnachweisen und zur Koordinierung der nationalen Vorschriften über die Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten im Allgemeinen erlassen. Weiter heißt es in diesem Artikel:

„(3)    Die schrittweise Aufhebung der Beschränkungen für die ärztlichen ... Berufe setzt die Koordinierung der Bedingungen für die Ausübung dieser Berufe in den einzelnen Mitgliedstaaten voraus.“

15.
    Auf dem Gebiet der gegenseitigen Anerkennung ärztlicher Diplome und der Koordinierung der Vorschriften über die Ausübung des Arztberufs waren seit 1975 verschiedene Richtlinien des Rates in Kraft(4). Gegenwärtig ist dies die Richtlinie 93/16(5) (im Folgenden: Richtlinie).

16.
    Nach Artikel 2 der Richtlinie erkennt „[j]eder Mitgliedstaat ... die in Artikel 3 aufgeführten Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise, die die anderen Mitgliedstaaten den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten nach Artikel 23 ausstellen, an und verleiht ihnen in seinem Hoheitsgebiet die gleiche Wirkung in Bezug auf die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeiten des Arztes wie den von ihm ausgestellten Diplomen, Prüfungszeugnissen und sonstigen Befähigungsnachweisen“.

17.
    In Artikel 3 ist auch der spanische „Titulo de Licenciado en Medicina y Cirurgía“ aufgeführt. Artikel 23 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeiten des Arztes vom Besitz eines ärztlichen Befähigungsnachweises im Sinne von Artikel 3 abhängig zu machen haben, und legtbestimmte Mindestkriterien für die Ausbildung fest, die dieser Befähigungsnachweis bescheinigt; insbesondere muss die Ausbildung mindestens sechs Jahre oder 5 500 Stunden theoretischen und praktischen Unterrichts umfassen.

18.
    Entsprechende Bestimmungen für die Befähigungsnachweise des Facharztes enthalten die Artikel 4, 5 und 24 der Richtlinie. Gemäß Artikel 4 haben die Mitgliedstaaten die in Artikel 5 aufgeführten Befähigungsnachweise des Facharztes, die die anderen Mitgliedstaaten den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten u. a. nach Artikel 24 ausstellen, anzuerkennen und ihnen Wirkung zu verleihen.

19.
    In Artikel 5 ist für Spanien der „Título de Especialista“ (Facharztzeugnis), ausgestellt vom Ministerium für Erziehung und Wissenschaft, aufgeführt, und Urologie ist als fachärztliches Gebiet genannt, auf das die Artikel 4 und 5 Anwendung finden. Artikel 24 legt die Mindestbedingungen fest, die solche Befähigungsnachweise erfüllen müssen; Voraussetzung für sie ist ein mindestens sechsjähriges Studium, und sie dürfen nur Personen ausgestellt werden, die eine der Bescheinigungen über eine ärztliche Grundausbildung im Sinne von Artikel 3 besitzen, die nach Absolvierung einer ärztlichen Ausbildungszeit im Sinne von Artikel 23 ausgestellt wird.

20.
    Nach der Richtlinie muss daher ein Mitgliedstaat eine in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellte Bescheinigung über eine ärztliche Grundausbildung anerkennen, sofern sie bestimmten Mindestanforderungen genügt. Das Gleiche gilt für Befähigungsnachweise des Facharztes, die bestimmten Mindestanforderungen genügen, sofern auch die in der Richtlinie vorgesehene ärztliche Grundausbildung abgeschlossen wurde.

21.
    Drei weitere Bestimmungen der Richtlinie sind zu erwähnen. Nach Artikel 9 Absatz 2 sind Befähigungsnachweise des Facharztes, die in Spanien oder Portugal nach Abschluss einer vor dem 1. Januar 1986 begonnenen Ausbildung erworben wurden, auch dann anzuerkennen, wenn sie nicht allen genannten Mindestanforderungen an die Ausbildung genügen, sofern ein ausreichender Zeitraum nachgewiesen wird, in dem der Facharztberuf anschließend ausgeübt wurde. (1992 bescheinigte das spanische Ministerium für Erziehung und Wissenschaft Dr. Hocsman, dass sein Facharztdiplom, obwohl es nach einer nur zweijährigen Ausbildung erworben worden sei, unter diese Regelung in der damals anwendbaren Richtlinie(6) falle und dass er anschließend sechs Jahre lang als Facharzt tätig gewesen sei, womit er die Voraussetzungen des Artikels 9 Absatz 2 dieser Richtlinie dafür erfülle, dass sein fachärztlicher Befähigungsnachweis in anderen Ländern der Gemeinschaft anerkannt werde.)

22.
    Artikel 23 Absatz 5 lautet: „Diese Richtlinie hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, den Inhabern von Diplomen, Prüfungszeugnissen oder sonstigenBefähigungsnachweisen, die nicht in einem Mitgliedstaat erworben wurden, die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeiten des Arztes in ihrem Hoheitsgebiet nach ihren innerstaatlichen Vorschriften zu gestatten.“(7)

23.
    In diesem Zusammenhang sei bemerkt, dass ein aktueller Vorschlag der Kommission zur Änderung der Richtlinie(8) folgende Bestimmung enthält: „Die Mitgliedstaaten berücksichtigen die Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise ... des Arztes, die der Betreffende außerhalb der Europäischen Union erworben hat, sofern diese Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise bereits in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt worden sind, wie auch die in einem anderen Mitgliedstaat absolvierten Ausbildungsgänge und/oder die dort erworbene Berufserfahrung.“

24.
    Schließlich bestimmt Artikel 20 Absatz 3: „Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass die Begünstigten gegebenenfalls, in ihrem Interesse und im Interesse ihrer Patienten, die Sprachkenntnisse erwerben, die sie für die Ausübung ihrer Berufstätigkeit im Aufnahmeland brauchen.“

25.
    Somit müssen die Mitgliedstaaten zusätzlich zu der Verpflichtung, ärztliche Befähigungsnachweise anzuerkennen, die bestimmten Mindestanforderungen genügen, unter ganz bestimmten Umständen Zeiten der Berufsausübung in der Weise anerkennen, dass mit ihnen die Nichterfüllung dieser Anforderungen in bestimmter Hinsicht, insbesondere in Bezug auf die Dauer der Ausbildung, ausgeglichen werden kann, und sie müssen dafür sorgen, dass die praktizierenden Ärzte über angemessene Sprachkenntnisse verfügen. Während die gegenseitige Anerkennung der entsprechenden Befähigungsnachweise, die in der Gemeinschaft erworben wurden, zwingend vorgeschrieben ist, ist dies für die Anerkennung der außerhalb der Gemeinschaft ausgestellten Befähigungsnachweise nicht der Fall.

Die Rechtslage nach der Richtlinie

26.
    Obwohl das Tribunal administratif nicht ausdrücklich eine Frage zur Richtlinie selbst gestellt hat, ist es hilfreich, zunächst zu prüfen, inwieweit dieRichtlinie einschlägig ist. Alle Mitgliedstaaten, die Erklärungen abgegeben haben, sowie die Kommission vertreten die Ansicht, dass nach der Richtlinie kein Mitgliedstaat verpflichtet sei, einen außerhalb der Gemeinschaft erworbenen Befähigungsnachweis über eine ärztliche Grundausbildung anzuerkennen, auch wenn dieser Befähigungsnachweis in einem anderen Mitgliedstaat als gleichwertig anerkannt worden sei.

27.
    Die Artikel 2 und 23 Absatz 1 der Richtlinie nehmen auf Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstige Befähigungsnachweise im Sinne von Artikel 3 Bezug, deren Besitz eine Voraussetzung für die Anerkennung in einem anderen Mitgliedstaat ist. Meiner Meinung nach kann daher eine Person, die keinen solchen Befähigungsnachweis über eine ärztliche Grundausbildung besitzt, nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinienbestimmungen über die gegenseitige Anerkennung fallen. Auch wenn es nicht Sache des Gerichtshofes ist, den Sachverhalt festzustellen, ist offenbar unstreitig, dass Dr. Hocsman keinen in Artikel 3 aufgeführten Befähigungsnachweis, sondern vielmehr einen außerhalb der Gemeinschaft ausgestellten Befähigungsnachweis über eine ärztliche Grundausbildung besitzt, die von einem Mitgliedstaat, Spanien, als einem in Artikel 3 genannten Befähigungsnachweis gleichwertig anerkannt wurde.

28.
    Für diese Ansicht spricht auch Artikel 23 Absatz 5, aus dem sich klar ergibt, dass es einem Mitgliedstaat freisteht, einen nicht in der Gemeinschaft ausgestellten Befähigungsnachweis anzuerkennen, dass er dazu aber nicht verpflichtet ist, und dass nach der Richtlinie diese Anerkennung keine Auswirkungen über sein Hoheitsgebiet hinaus entfaltet. Bemerkenswert ist, dass nach der vorgeschlagenen Änderung(9) solche Befähigungsnachweise zu berücksichtigen sind.

29.
    Wie einige der Verfahrensbeteiligten ausführen, die Erklärungen abgegeben haben, wird dieses Ergebnis durch die Urteile Haim I(10) und Tawil-Albertini(11) des Gerichtshofes bestätigt, die beide eine Koordinierungsrichtlinie im Zahnarztbereich(12) betrafen, die Bestimmungen enthielt, die mit denen der Richtlinie vergleichbar sind.

30.
    In der Rechtssache Haim I ging es um die Klage eines Gemeinschaftsangehörigen auf Feststellung, dass er von der Verpflichtung zur Ableistung einer für die Kassenzulassung erforderlichen Vorbereitungszeit befreit ist. Der Gerichtshof hat entschieden, dass die Richtlinie 78/686 einem Mitgliedstaat nicht verbot, von einer Person, die einen außerhalb der Gemeinschaft erworbenen Befähigungsnachweis besaß, die Ableistung einer solchen Vorbereitungszeit zuverlangen, auch wenn dieser Befähigungsnachweis von einem anderen Mitgliedstaat als einem in der Richtlinie genannten Befähigungsnachweis gleichwertig anerkannt worden war und der Betroffene in diesem anderen Mitgliedstaat zur Berufsausübung zugelassen war(13).

31.
    Die Rechtssache Tawil-Albertini betraf einen Antrag, den Zahnarztberuf in einem Mitgliedstaat auszuüben, wobei der Betreffende einen nicht in der Gemeinschaft ausgestellten Befähigungsnachweis besaß, der von zumindest einem anderen Mitgliedstaat anerkannt worden war. Der Gerichtshof hat entschieden, dass „die Richtlinie 78/686/EWG ... die Mitgliedstaaten nicht [verpflichtet], Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstige Befähigungsnachweise anzuerkennen, mit denen keine in einem der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft absolvierte Zahnarztausbildung abgeschlossen wird“(14).

32.
    In der vorliegenden Rechtssache kommt hinzu, dass der Betreffende offenbar einen in der Richtlinie genannten fachärztlichen Befähigungsnachweis besitzt.

33.
    Dies ist nicht unbestritten, da die spanische Regierung behauptet, dass das Diplom von Dr. Hocsman kein solcher Befähigungsnachweis sei. Ihr ursprüngliches Vorbringen, dass das Diplom nur ein Hochschulabschluss, aber kein beruflicher Befähigungsnachweis sei, ist in der mündlichen Verhandlung fallen gelassen worden, da er im Widerspruch zu einem Schreiben des Ministeriums für Erziehung und Wissenschaft vom 12. April 1986 stand, mit dem das von Dr. Hocsman zuvor erworbene Hochschuldiplom auch für berufliche Zwecke für gültig erklärt wurde. Die spanische Regierung hat aber daran festgehalten, dass das Facharztdiplom nach einem nur zweijährigen Ausbildungsgang ausgestellt worden sei und daher nicht unter die Richtlinie falle. Ich bin jedoch der Ansicht, dass das Diplom nach Artikel 9 Absatz 2 der Richtlinie und angesichts der nachfolgenden Berufstätigkeit von Dr. Hocsman in Spanien unter die Richtlinie hätte fallen können, wenn es sich bei seinem Befähigungsnachweis über eine ärztliche Grundausbildung um einen Befähigungsnachweis im Sinne der Artikel 3 und 23 gehandelt hätte.

34.
    Für die Feststellung der Rechtslage nach der Richtlinie unter den vorliegenden Umständen kommt es nicht so sehr auf den tatsächlichen Status des fachärztlichen Befähigungsnachweises an. Meiner Ansicht nach schließt die Tatsache, dass eine Bescheinigung über eine ärztliche Grundausbildung nicht in einem Mitgliedstaat erworben wurde, eine Berufung auf die Bestimmungen über die gegenseitige Anerkennung von Befähigungsnachweisen des Facharztes aus, auch wenn ein fachärztlicher Befähigungsnachweis in einem Mitgliedstaat erworben wurde.

35.
    Nach Artikel 4 ist die zwingende Anerkennung von Befähigungsnachweisen des Facharztes u. a. von den Voraussetzungen der Artikel 5 und 24 abhängig. Artikel 24 Absätze 1 Buchstabe a und 2 macht deutlich, dass ein fachärztlicher Befähigungsnachweis, bei dem eine Verpflichtung zur Anerkennung bestehen kann, den Besitz eines Befähigungsnachweises über eine ärztliche Grundausbildung voraussetzt, der seinerseits in einem Mitgliedstaat erworben wurde. Aus der Richtlinie insgesamt und aus ihrer Präambel(15) geht klar hervor, dass auf die Koordinierung von Standards auf allen Stufen als Voraussetzung für die zwingend vorgeschriebene gegenseitige Anerkennung abgezielt wird. Die Anerkennung auf der Stufe der Facharztdiplome setzt somit nach der Systematik der Richtlinie voraus, dass ein hinreichender Grad an Koordinierung erreicht ist.

36.
    Ich bin daher der Ansicht, dass, wenn eine Person einen außerhalb der Gemeinschaft ausgestellten Befähigungsnachweis über eine ärztliche Grundausbildung und einen Befähigungsnachweis des Facharztes besitzt, der von einem Mitgliedstaat aufgrund der freiwilligen Anerkennung des Befähigungsnachweises über eine ärztliche Grundausbildung ausgestellt wurde, andere Mitgliedstaaten nach der Richtlinie keinen dieser Befähigungsnachweise anzuerkennen haben. Daher wende ich mich nun den Vertragsbestimmungen zu.

Die Rechtslage nach Artikel 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 43 EG)

37.
    Eine Vorfrage stellt die von der italienischen und der spanischen Regierung vertretene Ansicht - der sich die französische Regierung in der mündlichen Verhandlung angeschlossen hat - dar, wonach die Rechtsprechung des Gerichtshofes zu Artikel 52 EG-Vertrag auf die vorliegende Rechtssache nicht anwendbar sei. Die Niederlassungsfreiheit in Bezug auf die ärztlichen Berufe könne nur im Rahmen des Artikels 57 Absatz 3 (nach Änderung jetzt Artikel 47 Absatz 3 EG)(16) bestehen, und sie sei jetzt durch die Richtlinie erschöpfend geregelt. Die Rechtsprechung zu dem erstgenannten Artikel betreffe dagegen Berufe wie die des Rechtsanwalts (Vlassopoulou(17)) und des Immobilienmaklers (Aguirre Borrell u. a.(18)) und sei zu einem Zeitpunkt ergangen, als noch keine Koordinierungsrichtlinie zu diesen Berufen erlassen worden sei. Diese Rechtsprechung sei daher für die Ausübung des Arztberufs irrelevant.

38.
    Meiner Ansicht nach ist dieses Vorbringen zurückzuweisen.

39.
    Der Vertrag selbst verbietet bereits Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit für Gemeinschaftsangehörige. Die Rolle der Richtlinien besteht darin, einen Rahmen gemeinsamer Mindeststandards zu schaffen, innerhalb dessen die gegenseitige Anerkennung von in der Gemeinschaft erworbenen beruflichen Befähigungsnachweisen nicht nur möglich, sondern sogar zwingend vorgeschrieben wird. Der Zweck von Artikel 57 Absatz 3 EG-Vertrag besteht somit nicht in erster Linie darin, die Niederlassungsfreiheit für Arztberufe zu gewähren, sondern bloß darin, zu gewährleisten, dass eine systematische gegenseitige Anerkennung von Befähigungsnachweisen nicht ohne Koordinierung der Vorschriften über die Ausübung dieser Berufe stattfindet. Durch diesen Artikel wird das Grundrecht auf Niederlassungsfreiheit, das in Artikel 52 EG-Vertrag für alle Berufe, ob medizinische oder andere, niedergelegt ist, nicht verdrängt.

40.
    In den Urteilen Vlassopoulou und Aguirre Borrell u. a. hat der Gerichtshof nämlich ausgeführt, dass „Artikel 52 des Vertrages ..., soweit er das Ende der Übergangszeit als Zeitpunkt für die Herstellung der Niederlassungsfreiheit bestimmt, eine Verpflichtung [auferlegt], deren Ergebnis klar umrissen ist und deren Erfüllung durch die Verwirklichung programmatisch festgelegter, abgestufter Maßnahmen zwar erleichtert, nicht aber bedingt werden sollte“(19).

41.
    Außerdem erlischt ein im Vertrag vorgesehenes Grundrecht nicht einfach, weil eine Richtlinie zu einem bestimmten Berufszweig ergangen ist. Wie die Kommission in ihren Erklärungen bemerkt, wäre es paradox, wenn eine Richtlinie die Niederlassungsfreiheit beschränken könnte, indem sie ein Recht entfernt, das ohne diese Richtlinie nach dem Vertrag bestanden hätte. Wie nachstehend ausgeführt, hat der Gerichtshof im Urteil Haim I die Rechte des Klägers nach dem Vertrag beurteilt(20), obwohl zu dem fraglichen Bereich eine Koordinierungsrichtlinie erlassen worden war.

42.
    Zwar enthält der aktuelle Vorschlag der Kommission zur Änderung der Richtlinie(21) speziell die Verpflichtung, außerhalb der Gemeinschaft erworbene Befähigungsnachweise, die in einem Mitgliedstaat anerkannt worden sind, zu berücksichtigen. Jedoch ist es meiner Ansicht nach falsch, wenn die italienische Regierung daraus schließt, dass gegenwärtig keine solche Verpflichtung besteht. In der sechsten Begründungserwägung des Vorschlags ist vielmehr klargestellt, dass die Richtlinie mit der Änderung an die Rechtsprechung im Urteil Haim I angepasst werden soll - d. h. an die bereits nach dem Vertrag bestehende Rechtslage.

43.
    Da weder Artikel 57 Absatz 3 EG-Vertrag noch die Richtlinie in Verbindung mit diesem Artikel das Recht auf Niederlassungsfreiheit gemäß Artikel 52 außer Kraft setzt, bleibt die Rechtsprechung dazu anwendbar.

44.
    Im Urteil Vlassopoulou hat der Gerichtshof ausgeführt:

„16    Ein Mitgliedstaat, bei dem die Zulassung zu einem Beruf beantragt worden ist, dessen Aufnahme nach nationalem Recht vom Besitz eines Diploms oder einer beruflichen Qualifikation abhängt, hat ... die Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise, die der Betroffene erworben hat, um den gleichen Beruf in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben, in der Weise zu berücksichtigen, dass er die durch diese Diplome bescheinigten Fachkenntnisse mit den nach nationalem Recht vorgeschriebenen Kenntnissen und Fähigkeiten vergleicht.

17    Dieses Prüfungsverfahren muss es den Behörden des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen, objektiv festzustellen, ob ein ausländisches Diplom seinem Inhaber die gleichen Kenntnisse und Fähigkeiten wie das innerstaatliche Diplom oder diesen zumindest gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten bescheinigt. Diese Beurteilung der Gleichwertigkeit eines ausländischen Diploms muss ausschließlich danach erfolgen, welches Maß an Kenntnissen und Fähigkeiten dieses Diplom unter Berücksichtigung von Art und Dauer des Studiums und der praktischen Ausbildung, auf die es sich bezieht, bei seinem Besitzer vermuten lässt ...

...

19    Führt diese vergleichende Prüfung zu der Feststellung, dass die durch das ausländische Diplom bescheinigten Kenntnisse und Fähigkeiten den nach den nationalen Rechtsvorschriften verlangten entsprechen, so hat der Mitgliedstaat anzuerkennen, dass dieses Diplom die in diesen Vorschriften aufgestellten Voraussetzungen erfüllt. Ergibt der Vergleich hingegen, dass diese Kenntnisse und Fähigkeiten einander nur teilweise entsprechen, so kann der Aufnahmemitgliedstaat von dem Betroffenen den Nachweis, dass er die fehlenden Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat, verlangen.

20    Insoweit müssen die zuständigen nationalen Behörden beurteilen, ob die im Aufnahmemitgliedstaat im Rahmen eines Studiengangs oder praktischer Erfahrung erworbenen Kenntnisse für den Nachweis des Erwerbs der fehlenden Kenntnisse ausreichen.

21    Ist im Aufnahmemitgliedstaat die Absolvierung eines beruflichen Vorbereitungsdienstes oder eines Berufspraktikums vorgeschrieben, so haben die nationalen Behörden zu beurteilen, ob eine im Herkunfts- oder im Aufnahmemitgliedstaat erworbene Berufserfahrung als diesem Erfordernis ganz oder teilweise entsprechend angesehen werden kann.“

45.
    Dieses Ergebnis ist in den Urteilen Aguirre Borrell u. a.(22), Haim I(23) und Aranitis(24) bestätigt worden. Insbesondere im Urteil Haim I hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die Berufserfahrung von Herrn Haim einschließlich der als Zahnarzt mit Kassenzulassung in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Berufserfahrung zu berücksichtigen war, und für Recht erkannt, dass „die zuständigen Stellen eines Mitgliedstaats einem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der kein in Artikel 3 der Richtlinie 78/686 genanntes Diplom besitzt, der aber im erstgenannten wie im zweitgenannten Mitgliedstaat zur Berufsausübung zugelassen worden ist und seinen Beruf auch ausgeübt hat, nach Artikel 52 EWG-Vertrag nicht mit der Begründung, er habe die nach dem Recht des erstgenannten Staates erforderliche Vorbereitungszeit nicht abgeleistet, die Zulassung als Kassenzahnarzt versagen dürfen, ohne zu prüfen, ob und, wenn ja, inwieweit die vom Betroffenen bereits nachgewiesene Erfahrung der nach diesem Recht vorgeschriebenen entspricht“.

46.
    Die Vertragsbestimmungen über die Niederlassungsfreiheit gelten für eine Person in der Lage von Dr. Hocsman, da dieser zur maßgeblichen Zeit als Angehöriger eines Mitgliedstaats seinen Beruf, für den er über Befähigungsnachweise verfügt, in einem anderen Mitgliedstaat ausüben wollte. Nach diesen Bestimmungen darf die Niederlassungsfreiheit einer solchen Person nicht beschränkt werden.

47.
    Der Umstand, dass Dr. Hocsman seitdem zusätzlich zu seiner spanischen Staatsangehörigkeit oder an deren Stelle die französische Staatsangehörigkeit erworben hat, ist insoweit irrelevant. Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass Mitgliedstaaten die Anwendung des Gemeinschaftsrechts nicht denjenigen ihrer Staatsangehörigen versagen dürfen, die ihr Freizügigkeitsrecht ausgeübt haben und anschließend in ihren Herkunftsstaat zurückgekehrt sind(25). Dies gilt erst recht im Fall eines Gemeinschaftsangehörigen, der die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats in der Zeit erworben hat, als er dort wohnte.

48.
    Außerdem ist klar, dass die Vertragsbestimmungen nicht nur Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit, sondern auch Hindernissefür die Freizügigkeit ausschließen sollen, die sich aus unterschiedlichen nationalen Erfordernissen in Bezug auf Befähigungsnachweise ergeben können(26).

49.
    Daher ist erforderlich, dass der Mitgliedstaat, in dem die Genehmigung zur Berufsausübung beantragt wird, alle Faktoren berücksichtigt, auf deren Grundlage der Betreffende seinen Beruf in der Gemeinschaft ausüben konnte. In der vorliegenden Rechtssache zählen zu diesen Faktoren der (von Spanien anerkannte) Befähigungsnachweis von Dr. Hocsman über eine ärztliche Grundausbildung, sein fachärztlicher Befähigungsnachweis und seine lange praktische Berufserfahrung. Ferner gehört dazu (und insoweit besteht eine Analogie zu den Rechtssachen Haim I und Fernández de Bobadilla(27)) die Berufserfahrung in dem Mitgliedstaat, dessen Genehmigung beantragt wird, nämlich die offenbar ununterbrochene Beschäftigung von Dr. Hocsman als Urologe in französischen Krankenhäusern von 1990 bis 1997.

50.
    Aus der Rechtsprechung ergibt sich weiter, dass die nationalen Behörden, wenn sie die Kenntnisse und Fähigkeiten eines Gemeinschaftsangehörigen mit den nach den nationalen Vorschriften verlangten vergleichen, gemäß einem Verfahren vorgehen müssen, das die Erfordernisse des Gemeinschaftsrechts in Bezug auf den effektiven Schutz der Grundfreiheiten beachtet, die den Gemeinschaftsangehörigen durch den Vertrag verliehen sind. Der Betreffende muss in der Lage sein, die Gründe für jede Entscheidung festzustellen, die diese Behörden im Zusammenhang mit diesem Vergleich getroffen haben, und jede Entscheidung muss gerichtlich auf ihre Rechtmäßigkeit im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht überprüft werden können(28).

51.
    In der vorliegenden Rechtssache bedeutet dies, dass jede Weigerung, Dr. Hocsman als Urologe in Frankreich zuzulassen, eine klare, rechtsbehelfsfähige Begründung enthalten muss, weshalb er den verlangten Standard nicht erfüllt hat. Aus der vor dem vorlegenden Gericht angefochtenen Entscheidung ergibt sich offenbar keine solche Begründung, zumindest was eine Beurteilung seiner Befähigungsnachweise und Erfahrung anbelangt.

52.
    Sollten die französischen Behörden jedoch nach ihrer Beurteilung davon ausgehen, dass die Befähigungsnachweise von Dr. Hocsman nicht in vollem Umfang denjenigen entsprechen, die für die Berufsausübung als Urologe in Frankreich erforderlich sind, haben sie ihm, wie der Gerichtshof in Randnummer 19 des Urteils Vlassopoulou ausgeführt hat, Gelegenheit zum Nachweis zu geben, dass er die fehlenden Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat.

53.
    Besitzt der Betreffende wie vorliegend nachprüfbare Fähigkeiten und Erfahrungen - insbesondere in einem Mitgliedstaat und erst recht im Aufnahmemitgliedstaat erworbene Befähigungsnachweise und Erfahrungen -, so ist klar, dass jede Prüfung auf eine Beurteilung von Kenntnissen und Fähigkeiten beschränkt sein muss, für die nur unzureichende Nachweise verfügbar sind. Dies darf kein Vorwand dafür sein, den Betreffenden einer vollständigen Prüfung auf allen verlangten Gebieten der ärztlichen Grund- und der Facharztausbildung zu unterziehen, was praktisch eine Versagung der im Vertrag verankerten und in der Rechtsprechung des Gerichtshofes erläuterten Grundsätze der Freizügigkeit darstellen würde.

Die Sprachenfrage

54.
    Im Zusammenhang mit dieser letztgenannten Erwägung wende ich mich schließlich einem untergeordneten Aspekt dieser Rechtssache zu, der nicht vom vorlegenden Gericht, sondern von Dr. Hocsman erwähnt wurde, der vorträgt, dass er es sehr schwierig fände, sich auf Französisch einer Prüfung in Allgemeinmedizin zu unterziehen. Dies ist ein Aspekt, der die Frage einer möglichen Diskriminierung(29) oder einer unzulässigen Beschränkung der Niederlassungsfreiheit berührt.

55.
    Nach der Richtlinie wird der Besitz oder Erwerb von Sprachkenntnissen verlangt, die die Betreffenden „für die Ausübung ihrer Berufstätigkeit im Aufnahmeland brauchen“. Um dieses Erfordernis geht es - in Bezug auf die entsprechende Vorschrift der Richtlinie 78/686 - in der Rechtssache Haim II(30), die sich an das Urteil Haim I anschließt und in der Herr Haim vom deutschen Staat Schadensersatz für die Beschränkungen seiner beruflichen Laufbahn verlangt, die sich aus der ihm verweigerten Zulassung als Kassenarzt ergeben haben. Das Urteil in dieser Rechtssache steht noch aus, aber Generalanwalt Mischo hat die Frage in seinen Schlussanträgen(31), denen ich weitgehend beipflichte, eingehend erörtert.

56.
    Insbesondere stimme ich in vollem Umfang der Ansicht zu, dass jede Beurteilung der sprachlichen Fähigkeiten des Betreffenden mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Einklang stehen muss(32). Generalanwalt Mischo weist auf zwei Gesichtspunkte hin, denen Rechnung getragen werden darf: die Fähigkeit, mitden Patienten zu kommunizieren, und die Fähigkeit, die administrative Arbeit zu bewältigen, die das Kassensystem mit sich bringt. Auch wenn der letztgenannte Gesichtspunkt für die Rechtssache Haim II von besonderer Bedeutung ist, glaube ich, dass sich diesem Gesichtspunkt niemand, der heute in der Gemeinschaft den Arztberuf ausübt, entziehen kann und dass dieser Gesichtspunkt als Kriterium für die Entscheidung dienen kann, ob eine Person zur Ausübung des Arztberufs in einem Mitgliedstaat zugelassen wird. Ich würde noch die Fähigkeit, präzise und effektiv mit Berufskollegen zu kommunizieren, als ein ähnliches Kriterium hinzufügen.

57.
    Es ist jedoch ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass jeder Test oder jede Prüfung, die sich als erforderlich erwiesen hat, diskriminierend oder unverhältnismäßig sein kann, wenn damit eine sprachliche Leistung (wie eine schriftliche Abhandlung) verlangt wird, die normalerweise nicht zur Tätigkeit eines Arztes gehört. Dem Gerichtshof ist nicht mitgeteilt worden, welche sprachlichen Kriterien die französischen Behörden von Dr. Hocsman verlangen können, doch kann nach Artikel L. 356-2 des französischen Code de la santé publique in bestimmten Fällen ein „französischer Aufsatz“ verlangt werden. Bei allen Tests oder Prüfungen, die von einer Person in der Lage von Dr. Hocsman verlangt werden, hätten die nationalen Behörden und Gerichte (mit der Möglichkeit, erforderlichenfalls den Gerichtshof anzurufen) zu beurteilen, ob die angewandten Kriterien verhältnismäßig und geeignet waren. Hat der Betreffende im Aufnahmemitgliedstaat tatsächlich bereits über mehrere Jahre den Beruf ausgeübt, ohne dass sich sprachliche Unzulänglichkeiten gezeigt hätten, so würde ein Sprachtest, auf dessen alleiniger Grundlage seine fehlende Eignung festgestellt werden könnte, gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen.

Ergebnis

58.
    Nach alledem bin ich der Ansicht, dass die vom Tribunal administratif Châlons-en-Champagne vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten ist:

Begibt sich ein Gemeinschaftsangehöriger, der Befähigungsnachweise besitzt, die ihn zur Ausübung des Arztberufs in einem Mitgliedstaat berechtigen, in einen zweiten Mitgliedstaat, wo er die Zulassung zur Berufsausübung beantragt, und ist die Anerkennung dieser Befähigungsnachweise durch die Behörden des zweiten Mitgliedstaats nach den einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften nicht zwingend vorgeschrieben, so haben diese Behörden gemäß Artikel 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 43 EG) bei der Prüfung der Frage, ob diese Zulassung zu gewähren ist, sämtliche relevanten Befähigungsnachweise und Erfahrungen des Betroffenen zu berücksichtigen.

Erfüllen diese Befähigungsnachweise und Erfahrungen nicht in vollem Umfang die nationalen Erfordernisse, so haben die Behörden des zweiten Mitgliedstaats dem Betroffenen Gelegenheit zum Nachweis zu geben, dass er die fehlenden Kenntnisseund Fähigkeiten besitzt; sie dürfen aber keine Tests anordnen, die zu diesem Zweck außer Verhältnis stehen.

Wird aufgrund der vorgenommenen Beurteilung die Zulassung verweigert, so muss dies in der Form erfolgen, dass die Gründe klar angegeben werden, auf denen diese Weigerung beruht, und es möglich ist, ein gerichtliches Verfahren einzuleiten, in dem die Rechtmäßigkeit im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht überprüft werden kann.


1: Originalsprache: Englisch.


2: -     Richtlinie 78/686/EWG des Rates vom 25. Juli 1978 für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des Zahnarztes und für Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr (ABl. L 233, S. 1).


3: -     Urteil vom 9. Februar 1994 in der Rechtssache C-154/93 (Slg. 1994, I-451).


4: -     Richtlinie 75/362/EWG des Rates vom 16. Juni 1975 für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des Arztes und für Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr (ABl. L 167, S. 1) und Richtlinie 75/363/EWG des Rates vom 16. Juni 1975 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeiten des Arztes (ABl. L 167, S. 14).


5: -     Richtlinie 93/16/EWG des Rates vom 5. April 1993 zur Erleichterung der Freizügigkeit für Ärzte und zur gegenseitigen Anerkennung ihrer Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise (ABl. L 165, S. 1). Die Richtlinie 93/16 kodifiziert und hebt insbesondere die Richtlinien 75/362 und 75/363 sowie die Richtlinie 86/457/EWG des Rates vom 15. September 1986 über eine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin (ABl. L 267, S. 26) auf. Sie wurde in Einzelheiten geändert, doch berührt bisher keine dieser Änderungen die Fragen, die sich vorliegend stellen.


6: -     Richtlinie 75/362, zitiert in Fußnote 3.


7: -     Zu bemerken ist, dass diese Bestimmung offenbar nicht für die Facharzttätigkeit gilt; die Kommission trägt jedoch (auf S. 6 ihrer schriftlichen Erklärungen) vor, dass nach dem Recht der Mitgliedstaaten in solchen Fällen im Allgemeinen dieselbe Vorschrift angewandt werde.


8: -    Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 89/48/EWG und 92/51/EWG über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise und zur Ergänzung der Richtlinien 77/452/EWG, 77/453/EWG, 78/686/EWG, 78/687/EWG, 78/1026/EWG, 78/1027/EWG, 80/154/EWG, 80/155/EWG, 85/384/EWG, 85/432/EWG, 85/433/EWG und 93/16/EWG über die Tätigkeiten der Krankenschwester und des Krankenpflegers, die für die allgemeine Pflege verantwortlich sind, des Zahnarztes, des Tierarztes, der Hebamme, des Architekten, des Apothekers und des Arztes (KOM[97] 638 endg., ABl. 1998, C 28, S. 1).


9: -     Zitiert oben in Nr. 23.


10: -     Urteil vom 9. Februar 1994 in der Rechtssache C-319/92 (Slg. 1994, I-425).


11: -     Rechtssache C-154/93 (zitiert in Fußnote 2).


12: -     Richtlinie 78/686 (zitiert in Fußnote 1).


13: -     Randnrn. 18 und 22 des Urteils.


14: -     Randnr. 15 des Urteils.


15: -     Siehe z. B. vierzehnte Begründungserwägung.


16: -     Siehe oben, Nr. 14.


17: -     Urteil vom 7. Mai 1991 in der Rechtssache C-340/89 (Slg. 1991, I-2357). Diese Rechtssache betraf einen Angehörigen eines Mitgliedstaats, der in diesem Staat auch als Rechtsanwalt zugelassen war und dann in einem anderen Mitgliedstaat zur Berufsausübung zugelassen werden wollte.


18: -     Urteil vom 7. Mai 1992 in der Rechtssache C-104/91 (Slg. 1992, I-3003). Diese Rechtssache betraf die Verpflichtungen eines Mitgliedstaats, bei dem ein Angehöriger eines anderen Mitgliedstaats die Genehmigung zur Ausübung des Berufes des Immobilienmaklers beantragt hatte.


19: -     Urteile Vlassopoulou (Randnr. 13) und Aguirre Borrell u. a. (Randnr. 8).


20: -     Randnrn. 23 ff.


21: -     Siehe oben, Nr. 23.


22: -     Rechtssache C-104/91 (zitiert in Fußnote 17, Randnrn. 11 und 14).


23: -     Rechtssache C-319/92 (zitiert in Fußnote 9, Randnrn. 27 bis 29).


24: -     Urteil vom 1. Februar 1996 in der Rechtssache C-164/94 (Slg. 1996, I-135, Randnrn. 31 und 32).


25: -     Siehe z. B. Urteile vom 31. März 1993 in der Rechtssache C-19/92 (Kraus, Slg. 1993, I-1663, Randnrn. 15 und 17) und aus jüngster Zeit vom 8. Juli 1999 in der Rechtssache C-234/97 (Fernández de Bobadilla, Slg. 1999, I-4773, Randnr. 30).


26: -     Siehe z. B. Urteil Haim I (Randnr. 26).


27: -     Zitiert in Fußnoten 9 und 24.


28: -     Urteile vom 15. Oktober 1987 in der Rechtssache 222/86 (Heylens u. a., Slg. 1987, 4097, Randnr. 17), Vlassopoulou (zitiert in Fußnote 16, Randnrn. 19 und 22) und Aguirre Borrell u. a. (zitiert in Fußnote 17, Randnrn. 14 und 15).


29: -     Im Urteil vom 28. November 1989 in der Rechtssache C-379/87 (Groener, Slg. 1989, 3967, Randnr. 19) hat der Gerichtshof in Bezug auf tatsächliche Umstände, die sich von denen der vorliegenden Rechtssache deutlich unterscheiden, ausgeführt, dass Spracherfordernisse „in keinem Fall außer Verhältnis zu dem verfolgten Ziel stehen [dürfen]. Ihre Anwendung darf nicht zur Diskriminierung von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten führen.“


30: -     Rechtssache C-424/97.


31: -     Schlussanträge vom 19. Mai 1999 (insbesondere Nrn. 81 bis 121).


32: -     Nr. 98 der Schlussanträge.