Language of document : ECLI:EU:C:2001:361

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

SIEGBERT ALBER

vom 26. Juni 2001 (1)

Rechtssache C-189/00

Urszula Ruhr

gegen

Bundesanstalt für Arbeit

(Vorabentscheidungsersuchen des Sozialgerichts Trier)

„Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 - Drittstaatsangehörige - Familienangehöriger eines Arbeitnehmers - Eigene und abgeleitete Rechte - Arbeitslosigkeit“

I - Einführung

1.
    In dem vorliegenden, vom Sozialgericht Trier anhängig gemachten Vorabentscheidungsverfahren geht es um die Anwendung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern(2), insbesondere deren Artikel 67 bis 71, auf eine Drittstaatsangehörige, die mit einem Unionsbürger verheiratet ist und mit ihm in dessen Heimatstaat lebt. Sie klagt dort auf eine Arbeitslosenunterstützung, nachdem sie im Beschäftigungsstaat Luxemburg arbeitslos geworden war.

II - Sachverhalt und Verfahren

2.
    Die Klägerin des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Klägerin) ist polnische Staatsangehörige, die mit einem deutschen Staatsangehörigen verheiratet ist und seit April 1998 in Deutschland lebt.

3.
    Vom 1. Juli 1998 bis 22. Dezember 1999 übte sie eine Tätigkeit als Hauswirtschafterin im Großherzogtum Luxemburg aus. Im Januar 2000 meldete sie sich beim Arbeitsamt Trier arbeitslos und beantragte die Zahlung von Arbeitslosengeld.

4.
    Nachdem die luxemburgische Arbeitsverwaltung mitgeteilt hatte, dass die Bescheinigung E 301(3) nicht ausgestellt werden könne, da die Klägerin polnische Staatsangehörige sei, lehnte die Beklagte des Ausgangsverfahrens deren Antrag ab, weil die Klägerin die Anwartschaftszeit nicht erfüllt habe. So habe die Betreffende in dem Zeitraum von drei der Antragstellung vorausgehenden Jahren nicht mindestens zwölf Monate lang eine Tätigkeit in einem Versicherungspflichtverhältnis ausgeübt. Im Übrigen könne sie sich weder aufgrund ihrer Eigenschaft als Drittstaatsangehörige, noch aufgrund gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen auf die Ausnahmevorschrift für Grenzgänger berufen.

5.
    Nach der Zurückweisung ihres Widerspruchs focht die Klägerin diesen Bescheid vor dem Sozialgericht Trier an und machte geltend, sie könne im Großherzogtum Luxemburg keine Arbeitslosenunterstützung beziehen, obwohl sie dort länger als ein Jahr versicherungspflichtig tätig gewesen sei, weil sie dort nichtgewohnt habe. Wegen ihrer Staatsangehörigkeit könne sie sich auch in Deutschland nicht auf die einschlägigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 berufen. Der streitige Bescheid beeinträchtige auch das Recht ihres Ehegatten auf Freizügigkeit in der Gemeinschaft, da er, um die Leistungsansprüche der Klägerin des Ausgangsverfahrens zu erhalten, nicht seinen Wohnsitz in Deutschland beibehalten könne, sondern gezwungen wäre, seinen Aufenthaltsort in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen.

6.
    Das vorlegende Gericht teilt die Auffassung der Klägerin des Ausgangsverfahrens und hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist die vom Europäischen Gerichtshof in der Entscheidung vom 23. November 1976 (Slg. 1976, 1669) vorgenommene Auslegung von Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149 vom 5. Juli 1971, S. 2), auch dann weiterhin maßgeblich, wenn es dadurch zu einer mittelbaren Beeinträchtigung auch der Freizügigkeit eines Angehörigen eines Mitgliedstaats kommt?

7.
    Am Verfahren haben sich die Regierungen Österreichs und des Vereinigten Königreichs sowie die Kommission beteiligt. Der Gerichtshof wird ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

III - Rechtlicher Rahmen

a) Die relevanten Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71

8.
    Artikel 2, der den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung regelt, lautet in den Absätzen 1 und 2:

„Diese Verordnung gilt für Arbeitnehmer und Selbständige, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene.(4)

Diese Verordnung gilt ferner für Hinterbliebene von Arbeitnehmern oder Selbständigen, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten galten, und zwar ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit dieserArbeitnehmer oder Selbständigen, wenn die Hinterbliebenen Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen.“

9.
    Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii lautet folgendermaßen:

„Grenzgänger erhalten bei Vollarbeitslosigkeit Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sie wohnen, als ob während der letzten Beschäftigung die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats für sie gegolten hätten; diese Leistungen gewährt der Träger des Wohnorts zu seinen Lasten.“

b) Europa-Abkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Polen andererseits(5)

10.
    Die Artikel 37 und 38 dieses Abkommens lauten:

„Artikel 37

(1) Vorbehaltlich der in den einzelnen Mitgliedstaaten geltenden Bedingungen und Modalitäten

-    wird den Arbeitnehmern polnischer Staatsangehörigkeit, die im Gebiet eines Mitgliedstaats rechtmäßig beschäftigt sind, eine Behandlung gewährt, die hinsichtlich der Arbeitsbedingungen, der Entlohnung oder der Entlassung keine auf der Staatsangehörigkeit beruhende Benachteiligung gegenüber den eigenen Staatsangehörigen bewirkt;

-    haben die rechtmäßig im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnhaften Ehegatten und Kinder eines dort rechtmäßig beschäftigten Arbeitnehmers Zugang zum Arbeitsmarkt dieses Mitgliedstaats während der Geltungsdauer der Arbeitserlaubnis dieses Arbeitnehmers; eine Ausnahme bilden Saisonarbeitnehmer und Arbeitnehmer, die unter bilaterale Abkommen im Sinne von Artikel 41 fallen, sofern diese Abkommen nichts anderes bestimmen.

(2) Polen gewährt ...

Artikel 38

(1) Im Hinblick auf die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer polnischer Staatsangehörigkeit, die im Gebiet eines Mitgliedstaatsrechtmäßig beschäftigt sind, und für deren Familienangehörige, die dort rechtmäßig wohnhaft sind, und vorbehaltlich der in jedem Mitgliedstaat geltenden Bedingungen und Modalitäten

-    werden für diese Arbeitnehmer die in den einzelnen Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungs-, Beschäftigungs- bzw. Aufenthaltszeiten bei den Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenrenten sowie der Krankheitsfürsorge für sie und ihre Familienangehörigen zusammengerechnet;

-    ...

(2) Polen gewährt ...“

IV - Vortrag der Beteiligten

a) Österreichische Regierung

11.
    Die österreichische Regierung weist darauf hin, dass ein polnischer Staatsangehöriger nur in der Eigenschaft als Familienangehöriger oder Hinterbliebener eines Arbeitnehmers, der seinerseits Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats sei, in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung, wie er in Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 festgelegt sei, gelangen könne. Aus dem erwähnten Urteil Kermaschek(6) gehe jedoch hervor, dass die Regelungen der Verordnung Nr. 1408/71 über die Leistungen bei Arbeitslosigkeit, und zwar konkret Artikel 71, auf Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige eines Arbeitnehmers aus der Gemeinschaft seien, nicht anwendbar seien.

12.
    Die österreichische Regierung betont, dass die Aussage dieses Urteils durch das Urteil vom 30. April 1996 in der Rechtssache C-308/93(7) bestätigt worden sei, in dem der Gerichtshof die Auffassung, die er in der Rechtssache Kermaschek vertreten habe und wonach die Familienangehörigen im Rahmen der Verordnung Nr. 1408/71 nur abgeleitete Rechte in Anspruch nehmen könnten, grundsätzlich revidiert und ausgeführt habe, dass

„... sich der Ehegatte eines Arbeitnehmers aus der Gemeinschaft für die Inanspruchnahme der Artikel 67 bis 71 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht auf seine Eigenschaft als Familienangehöriger berufen [kann] ...“(8)

13.
    Aber auch unter dem vom vorlegenden Gericht gewählten Blickwinkel einer möglichen Beschränkung der Freizügigkeit besteht nach Ansicht der österreichischen Regierung kein Grund, das Urteil in der Rechtssache Cabanis-Issarte zu revidieren. Aus dem Vorlagebeschluss gehe nämlich hervor, dass der Ehegatte der Klägerin des Ausgangsverfahrens in Deutschland lebe und die Freizügigkeit nicht in Anspruch genommen habe. Von einer Beeinträchtigung der Freizügigkeit könne daher keine Rede sein.

14.
    Im vorliegenden Fall laufe die Nichtanwendbarkeit des Artikels 71 der Verordnung Nr. 1408/71 auf die Klägerin des Ausgangsverfahrens nicht auf eine Beschränkung der Freizügigkeit ihres Ehegatten hinaus, sondern komme der Anerkennung des Bestehens dieser Freizügigkeit zugunsten einer Drittstaatsangehörigen gleich.

15.
    Die österreichische Regierung schlägt daher vor, die Vorlagefrage wie folgt zu beantworten:

Die Familienangehörigen eines von der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 erfassten Arbeitnehmers können sich nicht auf Artikel 39 EG-Vertrag oder diese Verordnung berufen, um Leistungen der sozialen Sicherheit, die an ihre eigene Erwerbskarriere geknüpft sind wie die Leistungen bei Arbeitslosigkeit, zu beanspruchen, sofern diese Familienangehörigen selbst nicht die Kriterien für die Arbeitnehmereigenschaft nach dieser Verordnung erfüllen.

b) Regierung des Vereinigten Königreichs

16.
    Die Regierung des Vereinigten Königreichs bemerkt zunächst, dass der dem Fall zugrunde liegende Sachverhalt nicht die Ausübung von durch das Gemeinschaftsrecht verliehenen Rechten durch einen der beiden Ehegatten betreffe. Insbesondere habe die Klägerin als Drittstaatsangehörige kein Recht auf Freizügigkeit nach Artikel 39 EG. Artikel 38 des Europa-Abkommens zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und Polen andererseits(9) sehe die Zusammenrechnung von Beschäftigungs- und Versicherungszeiten polnischer Staatsangehöriger vor, die in mehr als einem Mitgliedstaat rechtmäßig beschäftigt oder wohnhaft seien, aber nur bei den Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenrenten sowie der Krankheitsfürsorge, nicht jedoch bei der Arbeitslosenunterstützung; das Recht, in einem Mitgliedstaat zu arbeiten oder zu wohnen, verbleibe in der Zuständigkeit eines jeden Mitgliedstaats.

17.
    Hilfsweise trägt das Vereinigte Königreich vor, dass das vorlegende Gericht dem Gerichtshof vorschlage, Artikel 2 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass die Rechte von Familienangehörigen eines Arbeitnehmersunabhängig von deren Staatsangehörigkeit den Rechten eines Arbeitnehmers entsprechen, der Gemeinschaftsbürger sei.

18.
    Diese Auslegung sei nicht mit dem Wortlaut des Artikels 2 der Verordnung vereinbar, der sich eindeutig auf zwei verschiedene Personengruppen beziehe (zum einen die Arbeitnehmer, zum anderen deren Familienangehörige und Hinterbliebene), und sei nicht notwendig, um die Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Sinne des Vertrages zu erleichtern.

19.
    Nach Ansicht der Regierung des Vereinigten Königreichs geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ferner hervor, dass die beiden in Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 beschriebenen Personengruppen unterschiedliche Rechte hätten: Nur Personen, die zur ersten Gruppe gehörten (Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats seien), besäßen „originäre“ Ansprüche aus eigenem Recht nach Artikel 39 EG, während das abgeleitete Recht den Familienangehörigen von Arbeitnehmern gewisse Rechte gewährt habe, wobei es sich aber um „abgeleitete“ Rechte handele, die in erster Linie bestünden, um dem Arbeitnehmer selbst den Wohnortwechsel innerhalb der Gemeinschaft zu erleichtern(10).

20.
    Im Urteil Cabanis-Issarte habe der Gerichtshof die Kermaschek-Rechtsprechung geändert: Er habe die Unterscheidung zwischen den Ansprüchen der Arbeitnehmer nach der Verordnung und den Ansprüchen der Familienangehörigen eines Arbeitnehmers beibehalten, aber nicht danach unterschieden, ob die betreffende Leistung Gegenstand „abgeleiteter Rechte“ im nationalen Recht sei, sondern ob es sich bei den fraglichen Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 um solche handele, die nur auf Arbeitnehmer anwendbar seien oder auf beide der unter Artikel 2 Absatz 1 fallenden Personengruppen.

21.
    Die Regierung des Vereinigten Königreichs vertritt die Ansicht, es gebe keinen Grund, diese Rechtsprechung zu ändern. Der einzige Grund, den das Sozialgericht für ein Abrücken von der bisherigen Rechtsprechung angebe, sei der, dass dies erforderlich sei, um die Freizügigkeit eines Gemeinschaftsangehörigen zu erleichtern, der Ehemann einer Person wie der Klägerin sei. Das sei jedoch nicht der Fall. Soweit es Herrn Ruhr betreffe, bestehe kein Grund zur Annahme, dass die Unanwendbarkeit des Artikels 71 auf seine Ehefrau seine Entscheidung über seine eigene Tätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger in Deutschland beeinflusst hätte.

22.
    Schließlich sollte der Gerichtshof nach Auffassung der Regierung des Vereinigten Königreichs, falls er die für mehr als ein Vierteljahrhundert geltendeRechtsauffassung ändern sollte, sein Urteil wie in der Rechtssache Cabanis-Issarte zeitlich begrenzen.

23.
    Im Ergebnis schlägt das Vereinigte Königreich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefrage wie folgt zu beantworten:

Der Ehegatte eines Gemeinschaftsangehörigen kann sich nicht auf seinen Status als Familienangehöriger des Arbeitnehmers berufen, um die Anwendung der Artikel 67 bis 71 der Verordnung Nr. 1408/71 zu verlangen.

c) Kommission

24.
    Die Kommission stellt fest, dass der Ausgangsrechtsstreit im Wesentlichen dem entspreche, der der Rechtssache Kermaschek zugrunde gelegen habe, und dass sich seit 1976 an den einschlägigen Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 nichts Wesentliches geändert habe. Eine vom Urteil in der Rechtssache 40/76 abweichende Entscheidung des Gerichtshofes ließe sich deshalb nur ins Auge fassen, wenn die für eine solche Änderung vorgebrachten Argumente sehr überzeugend wären.

25.
    Das vorlegende Gericht bringe zwei Argumente vor: Der Gerichtshof habe im Urteil Kermaschek die möglichen Auswirkungen seiner Entscheidung auf den Ehegatten, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats sei, und dessen Recht auf Freizügigkeit in der Gemeinschaft nicht ausreichend berücksichtigt; außerdem könne die Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts in den letzten beiden Jahrzehnten eine Änderung der Rechtsprechung in Bezug auf Drittstaatsangehörige nahe legen.

26.
    Dabei gehe die Kommission zunächst davon aus, dass der Ehemann der Klägerin kein Wanderarbeitnehmer im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 sei und offenbar auch nicht die Absicht habe, von seinem Recht auf Freizügigkeit in der Gemeinschaft in nächster Zeit Gebrauch zu machen.

27.
    Im vorliegenden Fall gehe es darum, ob Drittstaatsangehörigen womöglich ein eigenes Recht auf Freizügigkeit zustehe, das dann konsequenterweise auch zur entsprechenden Anwendung der Artikel 67 bis 71 der Verordnung Nr. 1408/71 führen müsste. Ein solches allgemeines Recht gebe es aber derzeit nicht. In Fällen, in denen die Rechte von Gemeinschaftsbürgern nicht berührt seien, sei die Tatsache, dass Drittstaatsangehörige mit einem Gemeinschaftsbürger verheiratet seien, grundsätzlich irrelevant, und diese Fälle seien nicht anders zu bewerten, als solche, in denen der Drittstaatsangehörige alleinstehend sei. Hierzu führt die Kommission aus, dass sie dem Rat einen Vorschlag unterbreitet habe, der darauf abziele, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhaltenden Drittstaatsangehörigen an den sozialen Bestimmungen zur Absicherung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und Selbständigen innerhalb der Gemeinschaftteilhaben zu lassen(11). Es handele sich jedoch um eine freie gesetzgeberische Entscheidung, da der EG-Vertrag insoweit keine zwingenden Vorgaben mache, sondern nur die Möglichkeit dazu eröffne.

28.
    Die Kommission berücksichtigt darüber hinaus die Artikel 37 Absatz 1 erster Gedankenstrich, 38 Absatz 1, 39 Absatz 1 und 42 des Europa-Abkommens zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Polen andererseits.

29.
    Artikel 37 Absatz 1 erster Gedankenstrich verbiete „[v]orbehaltlich der in den einzelnen Mitgliedstaaten geltenden Bedingungen und Modalitäten ... hinsichtlich der Arbeitsbedingungen, der Entlohnung oder der Entlassung“ eine auf der Staatsangehörigkeit beruhende Benachteiligung.

30.
    Da die Versicherungspflichtigkeit oder -möglichkeit gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit ein Teil der Arbeitsbedingungen eines jeden Arbeitnehmers sei, wäre dann, wenn die Klägerin in Luxemburg gewohnt und dort Ansprüche gestellt hätte, klar, dass Artikel 37 es verboten hätte, ihr Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung vorzuenthalten. Im vorliegenden Fall stelle sich jedoch die Frage, ob die Tatsache, dass sie in Deutschland wohne, wo sie nie gearbeitet habe, zu einer anderen Beurteilung führe, da sie Ansprüche nicht gegen die luxemburgische, sondern gegen die deutsche Arbeitslosenversicherung geltend mache.

31.
    Der Wortlaut des Artikels 37 Absatz 1 des Europa-Abkommens stehe einer Auslegung, die - unter bestimmten Umständen - Verpflichtungen auch für den Mitgliedstaat des Wohnsitzes begründen würde, nicht zwingend entgegen, da gesagt werde, dass „den Arbeitnehmern polnischer Staatsangehörigkeit ... eine Behandlung gewährt [werde], die ... keine auf der ... beruhende Benachteiligung bewirk[e]“. Es werde also nicht gesagt, von wem diese Inländerbehandlung zu gewähren sei: Keinesfalls sei die Rede davon, dass die Bestimmung ausschließlich vom Mitgliedstaat der Beschäftigung zu gewähren sei, möge dies auch in aller Regel so sein. Nach Ansicht der Kommission ist allein entscheidend, ob es sich um Rechtsansprüche hinsichtlich der Arbeitsbedingungen, der Entlohnung oder der Entlassung handele, nicht etwa um Rechtsansprüche, die an den Wohnsitz anknüpften (z. B. Anspruch auf Sozialhilfe).

32.
    Der Umstand, dass ein deutscher Staatsangehöriger in gleicher Lage wegen seines Arbeitsverhältnisses in Luxemburg Ansprüche nach Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii oder gegebenenfalls Buchstabe b Ziffer ii gegen die deutsche Arbeitslosenversicherung geltend machen könne, müsse nach dem Grundsatz der Inländerbehandlung gemäß Artikel 37 Absatz 1 des Europa-Abkommens dazuführen, dass eine solche Möglichkeit auch für einen polnischen Staatsangehörigen vorgesehen sei.

33.
    Dieser Standpunkt lasse sich angesichts der Konzeption des Kapitels über die Freizügigkeit und des Wortlauts von Artikel 38 Absatz 1 erster Gedankenstrich des Europa-Abkommens, der die Regel der Zusammenrechnung der Versicherungs-, Beschäftigungs- und Aufenthaltszeiten vorsehe, ohne jedoch die Arbeitslosenversicherung zu erwähnen, allerdings nicht halten. Diese könne dann auch nicht über Artikel 37 des Europa-Abkommens erfasst werden.

34.
    Artikel 37 erfasse also - trotz seines offeneren Wortlauts - tatsächlich nur Ansprüche gegen den Mitgliedstaat der Beschäftigung, während Artikel 38 Sachverhalte regele, die einer „Koordinierung“ zwischen den Mitgliedstaaten bedürften, weil eben nicht nur ein Mitgliedstaat als Staat der Beschäftigung betroffen sei, sondern mehrere Mitgliedstaaten. Eine „Koordinierung“ zwischen den Mitgliedstaaten sei nicht nur für die in Artikel 38 ausdrücklich aufgeführten Fälle der Kumulierung von in den einzelnen Mitgliedstaaten erworbenen Ansprüchen erforderlich, sondern erst recht, wenn es sich wie im Fall des Artikels 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii oder Buchstabe b Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71 um eine Substitution der Ansprüche gegen einen Mitgliedstaat durch Schaffung von Ansprüchen gegen einen anderen Mitgliedstaat handele. Diesem Verständnis der Artikel 37 und 38 des Europa-Abkommens entspreche völlig, dass polnischen Arbeitnehmern in der EG kein Recht auf Freizügigkeit zustehe und die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 deshalb auf sie nicht anwendbar oder über Artikel 37 Europa-Abkommen erstreckbar seien, es sei denn, dies würde ausdrücklich beschlossen. Da die Arbeitslosenversicherung in Artikel 38 nicht aufgeführt sei, stünden polnischen Staatsangehörigen derzeit keine Ansprüche aus Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii oder Buchstabe b Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71 zu.

35.
    Die Kommission betont, dass eine Lösung für das durchaus berechtigte Anliegen der Klägerin des Ausgangsverfahrens nur im nationalen luxemburgischen Recht, gegebenenfalls unter Einschluss einer Anrufung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg, gefunden werden könne.

36.
    Im Ergebnis schlägt die Kommission dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefrage wie folgt zu antworten:

Polnischen Staatsangehörigen, einschließlich Ehegatten von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, stehen beim derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts bei Arbeitslosigkeit keine Leistungen gegen den Mitgliedstaat des Wohnsitzes nach Artikel 71 der Verordnung Nr. 1408/71 zu.

V - Würdigung

37.
    Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob sich die Klägerin des Ausgangsverfahrens erfolgreich auf die Artikel 67 bis 71 der Verordnung Nr. 1408/71 berufen kann.

38.
    Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung bestimmt den persönlichen Anwendungsbereich der Verordnung folgendermaßen:

„Diese Verordnung gilt für Arbeitnehmer und Selbständige, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene.“(12)

39.
    Auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofes muss davon ausgegangen werden, dass es sich bei den Arbeitnehmern und bei den Familienangehörigen um zwei grundsätzlich voneinander zu unterscheidende Personengruppen handelt. In dem Urteil in der Rechtssache Kermaschek, das zu Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung erging, hat der Gerichtshof ausgeführt:

„Bereits die mit dem Wort .sowie' angedeutete Gegenüberstellung zeigt, dass diese Bestimmung zwei deutlich unterschiedene Personengruppen behandelt: zum einen die Arbeitnehmer, zum anderen deren Familienangehörige und Hinterbliebene. Als Arbeitnehmer sind nur diejenigen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, Staatenlosen und Flüchtlinge anzusehen, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten. Während die zur ersten Gruppe gehörigen Personen Ansprüche auf Leistungen im Sinne der Verordnung aus eigenem Recht geltend machen können, stehen den zur zweiten Gruppe gehörigen Personen nur abgeleitete Rechte zu, die sie als Familienangehörige oder Hinterbliebene eines Arbeitnehmers erworben, also von einer zur ersten Gruppe gehörenden Person, abgeleitet haben.

Diese Auslegung wird durch den zweiten Absatz des Artikels 2 bestätigt[(13)], wonach Arbeitnehmer, die nicht Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind, solchen Staatsangehörigen im Hinblick auf die Rechtsstellung ihrer Hinterbliebenen gleichgestellt werden, wenn letztere Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen. Sie wird überdies dadurch bestätigt, dass auch Artikel 1 der Verordnung deutlich zwischen den Arbeitnehmern einerseits und ihren Familienangehörigen andererseits unterscheidet, indem er unter den Buchstaben a, b und c die Begriffe .Arbeitnehmer', .Grenzgänger' und .Saisonarbeiter' selbst definiert, hingegenunter den Buchstaben f und g wegen der Begriffe .Familienangehöriger' und .Hinterbliebener' auf die jeweils bezeichneten nationalen Vorschriften verweist.“(14)

40.
    Wenngleich die erste Personengruppe durch die Änderungsverordnung Nr. 307/1999 zur Verordnung Nr. 1408/71(15) erweitert wurde, ist wohl an dieser grundsätzlichen Differenzierung zwischen dieser und den Familienangehörigen als zweiten von der Vorschrift erfassten Personengruppe festzuhalten. Diese Einschätzung lässt sich auch auf das Urteil in der Rechtssache Cabanis-Issarte(16) stützen, in dem der Gerichtshof ausführte:

„Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71, der den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung festlegt, behandelt zwei deutlich unterschiedene Personengruppen: die Arbeitnehmer auf der einen und deren Familienangehörige und Hinterbliebene auf der anderen Seite. Erstere müssen, um unter die Verordnung zu fallen, Angehörige eines Mitgliedstaats oder in einem Mitgliedstaat ansässige Staatenlose oder Flüchtlinge sein; dagegen hängt die Geltung der Verordnung für Familienangehörige oder Hinterbliebene von Arbeitnehmern, die Gemeinschaftsangehörige sind, nicht von deren Staatsangehörigkeit ab.“(17)

41.
    Aufgrund ihrer polnischen Staatsangehörigkeit zählt die Klägerin zweifellos nicht zu der ersten Gruppe der Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 definierten Personengruppe. Als Ehegattin eines Unionsbürgers kann sie jedoch als Familienangehörige zu der zweiten in Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung angesprochenen Personengruppe zählen. Dem Vorabentscheidungsersuchen ist zwar nicht zu entnehmen, ob und in welcher Qualität (Arbeitnehmer, Selbständiger etc.) der deutsche Ehemann der Klägerin in den Anwendungsbereich des Artikels 2 Absatz 1 der Verordnung fällt. Da jedoch in der Argumentation des vorlegenden Gerichts von einer mittelbaren Beeinträchtigung der Freizügigkeit des Ehemannes die Rede ist, soll für die weitere Argumentation unterstellt werden, dass er in seiner Person die Voraussetzungen erfüllt, die ihn in den Anwendungsbereich des Artikels 2 Absatz 1 der Verordnung fallen lassen, so dass die Klägerin als dessen Familienangehörige der zweiten in Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung angesprochenen Personengruppe zuzuordnen wäre.

42.
    Die Frage ist nun, ob sie sich dadurch, dass sie als Familienangehörige im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fallen könnte, auf die Artikel 67 bis 71 der Verordnung berufen könnte, d. h., ob sie die in Artikel 71 Absatz 1Buchstabe a Ziffer ii für Grenzgänger erlassenen Sonderregelungen in Anspruch nehmen könnte, die die Arbeitsverwaltung des Wohnstaates als den für die Gewährung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit zuständigen Träger bezeichnet.

43.
    Vor dem Hintergrund der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofes(18) ist diese Frage - auch nach einhelliger Ansicht der Beteiligten - relativ eindeutig, und zwar negativ zu beantworten.

44.
    Dem Urteil in der Rechtssache Kermaschek lag ein im Hinblick auf die im vorliegenden Verfahren relevanten Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 vergleichbarer Sachverhalt zugrunde.

„... Frau Kermaschek, eine jugoslawische Staatsangehörige, hatte verlangt, auf sie die Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 über die Zusammenrechnung der Versicherungs- und Beschäftigungszeiten zur Begründung eines Anspruchs auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit anzuwenden. Als Angehörige eines Drittstaats konnte sie sich dabei nicht darauf berufen, dass sie Arbeitnehmerin in Deutschland war. Sie konnte aber auch nicht geltend machen, dass sie Ehefrau eines deutschen Staatsangehörigen war, da die betreffenden Gemeinschaftsvorschriften ausschließlich für Arbeitnehmer galten.“(19)

45.
    In dem Urteil in der Rechtssache Kermaschek unterschied der Gerichtshof zwischen eigenen und abgeleiteten Rechten, die jeweils von der ersten oder zweiten der in Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 bezeichneten Personengruppe in Anspruch genommen werden könnten(20). Der Gerichtshof kam dort im Hinblick auf die Inanspruchnahme der Artikel 67 f. der Verordnung Nr. 1408/71 zu folgendem Schluss:

„Die Artikel 67 bis 70 der Verordnung sollen also in erster Linie nur die Ansprüche auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit koordinieren, welche den Arbeitnehmern, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind, nach den nationalen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten gewährt werden. Die Familienangehörigen dieser Arbeitnehmer haben nur auf diejenigen Leistungen Anspruch, die in diesen Rechtsvorschriften zugunsten der Familienangehörigen arbeitsloser Arbeitnehmer vorgesehen sind, wobei es in diesem Zusammenhang auf die Staatsangehörigkeit dieser Familienangehörigen nicht ankommt.“(21)

46.
    Überträgt man diese Feststellungen auf den vorliegenden Fall, dann könnte Artikel 71 der Verordnung der Klägerin keinen Anspruch auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit gegen den deutschen Träger vermitteln, „da diese Bestimmungen in erster Linie nur die Ansprüche auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit koordinieren sollen, welche nach den nationalen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten Arbeitnehmern, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind, und nicht deren Familienangehörigen gewährt werden“(22).

47.
    Der Gerichtshof hat in seiner dem Urteil Kermaschek folgenden Rechtsprechung zunächst an der Unterscheidung zwischen eigenen und abgeleiteten Rechten zur Bestimmung des Anwendungsbereichs der Vorschriften der Verordnung auf die beiden voneinander zu unterscheidenden Personengruppen nach Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung festgehalten(23).

48.
    In dem Urteil Cabanis-Issarte hat er diese jedoch grundsätzlich in Frage gestellt, da sie „zu einer Beeinträchtigung des für die Gemeinschaftsordnung grundlegenden Gebots der einheitlichen Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften führen [kann], da deren Anwendbarkeit auf den einzelnen davon abhinge, ob der Anspruch auf die betreffenden Leistungen nach nationalem Recht je nach den Besonderheiten des einzelstaatlichen Systems der sozialen Sicherheit als eigenes oder abgeleitetes Recht qualifiziert würde“(24).

49.
    Der Gerichtshof sah sich folglich dazu veranlasst, die Tragweite seiner Rechtsprechung in der Folge des Urteils Kermaschek über die Unterscheidung zwischen eigenen und abgeleiteten Rechten auf den beschriebenen Sachverhalt der Rechtssache Kermaschek zu beschränken(25).

50.
    Auch wenn man aus dogmatischer Sicht davon ausgehen muss, dass der Gerichtshof die Unterscheidung zwischen eigenen und abgeleiteten Rechten durch das Urteil in der Rechtssache Cabanis-Issarte stark relativiert hat, was auch dadurch untermauert wird, dass der Gerichtshof im Urteil in der Rechtssache Hoever und Zachow im Hinblick auf Familienleistungen entschieden hat, dass „die Unterscheidung zwischen eigenen und abgeleiteten Rechten grundsätzlich nicht für Familienleistungen gilt“(26), hat er dennoch für Sachverhalte, wie sie derRechtssache Kermaschek zugrunde lagen, ausdrücklich an dem Ergebnis des Urteils festgehalten, was sowohl aus dem Urteil Cabanis-Issarte(27) als auch aus dem Urteil Hoever und Zachow(28) folgt.

51.
    Da es sich im vorliegenden Fall um einen der Rechtssache Kermaschek vergleichbaren Sachverhalt handelt, wird man auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung davon ausgehen müssen, dass die Klägerin sich in ihrer Eigenschaft als Familienangehörige nicht auf die Artikel 67 bis 71 der Verordnung Nr. 1408/71 berufen kann, um Leistungen bei Arbeitslosigkeit in ihrem Wohnstaat zu beanspruchen, ohne die von der dortigen Rechtsordnung vorgesehen anwartschaftsbegründenden Zeiten zurückgelegt zu haben.

52.
    Die Frage kann daher nunmehr nur sein, ob Gründe vorliegen, die die bisherige Rechtsprechung nachhaltig in Frage stellen und eine Änderung der Rechtsprechung nahe legen.

53.
    Zunächst soll dem Hinweis des vorlegenden Gerichts auf die zeitliche Dimension(29), der durch das Urteil Kermaschek verankerten Rechtsprechung nachgegangen werden. Veranlassung dazu besteht in mehrfacher Hinsicht. Die vor nahezu 25 Jahren etablierte Rechtsprechung wurde in der Tat - wie im Vorigen bereits dargestellt - nachhaltig in Frage gestellt(30).

54.
    Rein abstrakt betrachtet, lässt sich die Behauptung aufstellen, dass der dynamische Charakter des Gemeinschaftsrechts durchaus eine Ursache dafür sein kann, eine vor 25 Jahren im Wege der Rechtsprechung ins Leben gerufene Begriffsbildung zu hinterfragen, zumal wenn die Grundfreiheiten der Gemeinschaft, zu denen die Freizügigkeit der Personen zählt, auf anderem Wege besser gefördert werden könnten, wovon das vorlegende Gericht auszugehen scheint.

55.
    Schließlich ist auch auf der legislativen Ebene in der Zwischenzeit eine Reihe von Änderungen eingetreten, die von den Änderungen des Primärrechts bis zur konkreten Erweiterung des Artikels 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 reichen.

56.
    Dennoch sind diese Überlegungen für sich betrachtet nicht geeignet, das Urteil in der Rechtssache Kermaschek als nicht mehr relevant zu betrachten, hat doch der Gerichtshof dessen Gültigkeit im Jahr 1996 ausdrücklich und dies gleich zweimal bekräftigt(31).

57.
    Nachhaltiger wirkt das sachliche Argument der mittelbaren Beeinträchtigung der Freizügigkeit des gemeinschaftsangehörigen Ehepartners, wie es das vorlegende Gericht ausgeführt hat. Allerdings wurden keinerlei Hinweise dahin gehend gemacht, inwiefern der in Deutschland ansässige deutsche Ehemann der Klägerin überhaupt jemals von seiner durch den Vertrag eingeräumten Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat. Es ist daher völlig ungeklärt, ob er als Wanderarbeitnehmer zu betrachten ist und ob er in den persönlichen Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fällt. Die abstrakte Möglichkeit, dass er sie einmal in Anspruch nehmen könnte, die potenziell für jeden Gemeinschaftsangehörigen gilt, reicht nicht, um eine so weit tragende Rechtsfolge, wie die faktische Freizügigkeit eines drittstaatsangehörigen Ehepartners in der Gemeinschaft zu begründen. Die konkrete Fallkonstellation des Ausgangsfalles ist daher denkbar ungünstig, um den Gerichtshof zu einer Umkehr seiner bisherigen Rechtsprechung zu veranlassen.

58.
    Es stellt sich jedoch die berechtigte Frage, ob die Klägerin nicht aufgrund einer anderen Rechtsgrundlage gegebenenfalls in den Genuss der beantragten Leistungen bei Arbeitslosigkeit gelangen kann. Sowohl die Regierung des Vereinigten Königreichs als auch die Kommission haben insoweit auf das Europa-Abkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Polen andererseits verwiesen. Dessen Artikel 37 verankert den Gleichbehandlungsgrundsatz für polnische Arbeitskräfte, während Artikel 38 für bestimmte Bereiche der sozialen Sicherheit eine Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vorsieht.

59.
    Es fällt auf, dass die Leistungen bei Arbeitslosigkeit nicht in Artikel 38 des Abkommens genannt werden, sondern nur die Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenrenten sowie die Krankheitsfürsorge. Die Kommission hat Hinweise dazu gegeben, dass die Koordinierung der Arbeitslosenversicherung gegebenenfalls Gegenstand eines zukünftigen Beschlusses des Assoziationsrates zur Annahme von Vorschriften zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit sein könnte. Daraus folgt jedoch, dass de lege lata eine derartige Koordinierung noch nicht existiert.

60.
    Im Hinblick auf den in Artikel 37 des Abkommens verankerten Gleichbehandlungsgrundsatz ist der Analyse der Kommission zu folgen, die den Standpunkt vertritt, die Vorschrift richte sich an den Beschäftigungsstaat. Ein Anspruch auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit gegen den Wohnstaat Deutschlandist daher auf diese Vorschrift auch nicht zu stützen. Diese Betrachtungsweise weist jedoch auf den Beschäftigungsstaat hin und damit auf das eigentliche Problem des Falles, dass nämlich die Klägerin in Luxemburg versicherungspflichtig beschäftigt war, dort mit hoher Wahrscheinlichkeit Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entrichtet hatte, ihr dann aber bei Eintritt des Versicherungsfalles eine Leistungsgewährung mit Hinweis auf den ausländischen Wohnsitz verwehrt wurde. Es handelt sich dabei um eine unbillige Situation, wie sie typischer Weise bei Grenzgängern immer wieder anzutreffen ist.

61.
    Meines Erachtens handelt es sich um ein Gleichbehandlungsproblem des Arbeitnehmers gegenüber dem Beschäftigungsstaat. Gegebenenfalls stellt sich der Hinweis auf den ausländischen Wohnsitz bei Grenzgängern als eine mittelbare Diskriminierung dar, die möglicherweise dann der rechtfertigenden Gründe entbehrt, wenn der Grenzgänger nach wie vor der Arbeitsverwaltung des Beschäftigungsstaats zur Verfügung steht, wofür prima facie eine Vermutung sprechen kann, weil er ja bereits in dem betreffenden Staat erwerbstätig war.

62.
    Auf eine vergleichbare Problematik, die aus der deutschen Rechtsordnung folgte, hat das Bundesverfassungsgericht reagiert, indem es entschied, dass grenznah lebende Ausländer aus Nicht-Unionsstaaten Anspruch auf staatliche Leistungen der Bundesrepublik bei Arbeitslosigkeit haben, wenn sie ihren Arbeitsplatz in Deutschland verloren haben und in der Arbeitslosenversicherung pflichtversichert waren(32), worauf das vorlegende Gericht ausdrücklich hingewiesen hat.

63.
    Das vorlegende Gericht wird einer vergleichbaren Lösung für den vorliegenden Fall kaum zum Durchbruch verhelfen können, da diese eine Auseinandersetzung mit der luxemburgischen Rechtsordnung impliziert.

64.
    Beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts vermag das Gemeinschaftsrecht jedoch die Brücke zwischen der luxemburgischen Rechtsordnung und der deutschen Rechtsordnung nicht zu schlagen (so wünschenswert das in einem derartig gelagerten Fall auch zu sein scheint).

65.
    Dem vorlegenden Gericht ist daher auf seine Vorlagefrage zu antworten, dass beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts die vom Europäischen Gerichtshof in dem Urteil vom 23. November 1976 in der Rechtssache 40/76 (Kermaschek) vorgenommene Auslegung von Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, insbesondere im Hinblick auf deren Artikel 67 bis 71 weiterhin maßgeblich ist.

VI - Ergebnis

66.
    Als Ergebnis vorstehender Überlegungen schlage ich folgende Beantwortung des Vorabentscheidungsersuchens vor:

Beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts ist die vom Europäischen Gerichtshof in dem Urteil vom 23. November 1976 in der Rechtssache 40/76 (Kermaschek) vorgenommene Auslegung von Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, insbesondere im Hinblick auf deren Artikel 67 bis 71 weiterhin maßgeblich.


1: -     Originalsprache: Deutsch.


2: -     Vgl. Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 zur Änderung und Aktualisierung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (ABl. L 28 vom 30.1.1997, S. 1).


3: -     Das Formular dient der „Bescheinigung von Zeiten, die für die Gewährung von Leistungen wegen Arbeitslosigkeit zu berücksichtigen sind“, im Hinblick auf die Artikel 67, 68, 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii und Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer ii; vgl. Beschluss Nr. 154 vom 8. Februar 1994 über die Muster der zur Durchführung der Verordnungen (EWG) Nr. 1408/71 und (EWG) Nr. 574/72 des Rates erforderlichen Vordrucke (E 301, E 302 und E 303), ABl. L 244 vom 19.9.1994, S. 123.


4: -    Der Text dieser Vorschrift wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 307/1999 des Rates vom 8. Februar 1999 erweitert, indem die Worte „sowie für Studierende“ in den ersten Halbsatz der Vorschrift aufgenommen wurden; vgl. ABl. L 38, S. 1.


5: -     Vgl. Beschluss des Rates und der Kommission vom 13. Dezember 1993 über den Abschluss des Europa-Abkommens (ABl. L 348, S. 1).


6: -     Urteil vom 23. November 1976 in der Rechtssache 40/76 (Slg. 1976, 1669).


7: -     Vgl. Urteil vom 30. April 1996 in der Rechtssache C-308/93 (Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097, Randnr. 23).


8: -     Vgl. Urteil in der Rechtssache Cabanis-Issarte (zitiert in Fußnote 7, Randnr. 23).


9: -     ABl. L 348 vom 31. Dezember 1993, S. 2.


10: -     Vgl. Urteil Kermaschek (zitiert in Fußnote 6, Randnrn. 7 und 9) und Schlussanträge des Generalanwalts Reischl vom 11. November 1976 in dieser Sache (Slg. 1976, 1682 bis 1683).


11: -     ABl. C 6 vom 10. Januar 1998, S. 15.


12: -     Hervorhebung durch den Verfasser.


13: -     Zum Wortlaut siehe im Vorigen, Nr. 8.


14: -     Vgl. Urteil in der Rechtssache Kermaschek (zitiert in Fußnote 6, Randnrn. 7 und 8).


15: -     Durch die Verordnung Nr. 307/1999 wurden Studierende in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 aufgenommen.


16: -     Urteil in der Rechtssache Cabanis-Issarte (zitiert in Fußnote 7).


17: -     Vgl. Urteil Cabanis-Issarte (zitiert in Fußnote 7, Randnr. 21).


18: -     Vgl. Urteile Kermaschek (zitiert in Fußnote 6), Cabanis-Issarte (zitiert in Fußnote 7) und vom 10. Oktober 1996 in den verbundenen Rechtssachen C-245/94 und C-312/94 (Hoever und Zachow, Slg. 1996, I-4895).


19: -     Vgl. Urteil Cabanis-Issarte (zitiert in Fußnote 7, Randnr. 24).


20: -     Vgl. Randnr. 7 des Urteils Kermaschek (zitiert im Vorigen, Nr. 39).


21: -     Urteil Kermaschek (zitiert in Fußnote 6, Randnr. 9).


22: -     Vgl. Urteil Cabanis-Issarte (zitiert in Fußnote 7, Randnr. 23).


23: -     Vgl. Urteile vom 6. Juni 1985 in der Rechtssache 157/84 (Frascogna, Slg. 1985, 1739); vom 20. Juni 1985 in der Rechtssache 94/84 (Deak, Slg. 1985, 1873); vom 17. Dezember 1987 in der Rechtssache 147/87 (Zaoui, Slg. 1987, 5511); vom 8. Juli 1992 in der Rechtssache C-243/91 (Taghavi, Slg. 1992, I-4401) und Urteil vom 27. Mai 1993 in der Rechtssache C-310/91 (Schmid, Slg. 1993, I-3011).


24: -     Vgl. Urteil Cabanis-Issarte (zitiert in Fußnote 7, Randnr. 31).


25: -     Vgl. Urteil Cabanis-Issarte (zitiert in Fußnote 7, Randnr. 34).


26: -     Vgl. Urteil in der Rechtssache Hoever und Zachow (zitiert in Fußnote 18, Randnr. 33).


27: -     Vgl. Randnrn. 23 und 24 des Urteils (zitiert in Fußnote 7).


28: -     Vgl. Randnr. 32 des Urteils (zitiert in Fußnote 18).


29: -     In dem Vorabentscheidungsersuchen des vorlegenden Gerichts heißt es am Ende: „Da es vor diesem Hintergrund mithin zweifelhaft geworden ist, ob der EuGH an den Grundsätzen der unter 2 genannten Entscheidung aus dem Jahre 1976 auch heute noch festhält, war eine - erneute - Vorlage geboten.“


30: -     Vgl. Urteile Cabanis-Issarte (zitiert in Fußnote 7) und Hoever und Zachow (zitiert in Fußnote 18).


31: -     Vgl. Urteile Cabanis-Issarte (zitiert in Fußnote 7) und Hoever und Zachow (zitiert in Fußnote 18).


32: -     Vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Dezember 1999, Aktenzeichen 1 BvR 809/95, abgedruckt in RIW 2000, S. 299.