Language of document : ECLI:EU:C:2000:92

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ÉDITION PROVISOIRE DU

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PHILIPPE LÉGER

vom 17. Februar 2000(1)

Rechtssache C-124/99

Carl Borawitz

gegen

Landesversicherungsanstalt Westfalen

(Vorabentscheidungsersuchen des Sozialgerichts Münster)

„Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer - Gleichbehandlung - Überweisung einer Rentennachzahlung in einen anderen Mitgliedstaat - Höherer Mindestbetrag als bei Überweisung innerhalb desselben Mitgliedstaats“

1.
    Der Kläger des Ausgangsverfahrens, Carl Borawitz (im folgenden: Kläger), dessen Wohnsitz sich in den Niederlanden befindet, bezieht monatlich eine von einem deutschen Versicherungsträger gezahlte Erwerbsunfähigkeitsrente.

2.
    Dem Kläger stand eine Rentennachzahlung zu, er erhielt diese Leistung aber nicht, weil deren Betrag einen 3/10 des Rentenbetrags entsprechenden Wert nicht überstieg; diese Voraussetzung schreibt das einschlägige deutsche Gesetz vor.

3.
    Ebenfalls nach diesem Gesetz ist der Mindestwert, unterhalb dessen Nachzahlungen nicht vorgenommen werden können, wenn sie im Inland erfolgen sollen, auf 1/10 des aktuellen Werts der Rente festgesetzt.

4.
    Die Klage, die der Kläger gegen den Bescheid erhoben hat, durch die ihm diese Nachzahlung verwehrt worden ist, hat das Sozialgericht Münster dazu veranlaßt, den Gerichtshof danach zu fragen, welche Tragweite der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz der Gleichbehandlung in bezug auf nationale Rechtsvorschriften wie die im vorliegenden Fall betroffenen hat, durch die eine unterschiedliche rechtliche Regelung je nachdem eingeführt wird, ob die Zahlung der Rente im Inland oder im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats erfolgt. Der nach nationalem Recht im ersten Fall erforderliche Mindestbetragist nämlich niedriger als der Betrag, der im zweiten Fall vorgeschrieben ist.

I - Rechtlicher Rahmen

Die gemeinschaftsrechtliche Regelung

5.
    Die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern(2), in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 1945/93 des Rates vom 30. Juli 1993(3) (im folgenden: Verordnung) soll die innerstaatlichen Rechtsvorschriften für die soziale Sicherheit koordinieren, um die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Staatsangehörige der Mitgliedstaaten sind, zu ermöglichen(4).

6.
    Die Verordnung soll innerhalb der Gemeinschaft sicherstellen, daß zum einen alle Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten gleichbehandelt werden und zum anderen die Arbeitnehmer und ihreanspruchsberechtigten Angehörigen unabhängig von ihrem Arbeits- oder Wohnort in den Genuß der Leistungen der sozialen Sicherheit kommen. Diese Ziele sollen durch die Gewährung von Leistungen an die verschiedenen durch die Verordnung erfaßten Personengruppen ohne Rücksicht auf deren Wohnort in der Gemeinschaft erreicht werden(5).

7.
    Schließlich sollen die für die Durchführung von Artikel 51 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 42 EG) erlassenen Koordinierungsregeln den Arbeitnehmern, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, die Beibehaltung der erworbenen Rechte und Vorteile ermöglichen(6).

8.
    In Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung ist das in dem durch die Verordnung erfaßten Bereich geltende Diskriminierungsverbot niedergelegt. Diese Vorschrift bestimmt:

„Die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die diese Verordnung gilt, haben die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates, soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts anderes vorsehen.“

9.
    Was die Höhe der Leistungen angeht, die ein Mitgliedstaat einem im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats niedergelassenen Empfänger gewährt, sieht Artikel 10 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Verordnung vor:

„Die Geldleistungen bei Invalidität, Alter oder für die Hinterbliebenen, die Renten bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten und die Sterbegelder, auf die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten Anspruch erworben worden ist, dürfen, sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, nicht deshalb gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, weil der Berechtigte im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des Staates wohnt, in dessen Gebiet der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat.“

10.
    Artikel 58 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71(7) betrifft die Einbehaltung von mit der Zahlung der Leistung verbundenen Kosten. Er bestimmt:

„Die Zahlstelle kann die mit der Zahlung der Leistung verbundenen Kosten, insbesondere Postgebühren und Bankspesen, unter den Bedingungen, die in den von ihr anzuwendenden Rechtsvorschriftenvorgesehen sind, von den dem Berechtigten zu zahlenden Beträgen einbehalten.“

Die deutsche Regelung

11.
    Nach § 118 Absatz 2a des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches - SGB VI - muß eine Rentennachzahlung, um ausgezahlt zu werden, zu dem betreffenden Zeitpunkt 1/10 des aktuellen Rentenwerts bei Auszahlungen in Deutschland oder 3/10 dieses Werts bei Auszahlungen in einem anderen Mitgliedstaat übersteigen.

12.
    Aus dem Vorlagebeschluß geht hervor, daß diese Vorschrift mit Wirkung vom 1. Juli 1993 eingeführt wurde, um zu vermeiden, daß die Verwaltungs- und Buchungskosten den Betrag von Nachzahlungen übersteigen.

II - Sachverhalt und Ausgangsverfahren

13.
    Die Erwerbsunfähigkeitsrente, die der Kläger seit dem 1. August 1993 monatlich bezog, belief sich auf 660,63 DM. Mit Schreiben vom 20. Juni 1995 teilte die Landesversicherungsanstalt Westfalen (im folgenden: Beklagte) mit, daß dieser Betrag nach dem Rentenanpassungsgesetz auf 663,94 DM angehoben werde.

14.
    Am selben Tag teilte die Beklagte dem Kläger mit, daß sich für den Zeitraum vom 1. Juli bis zum 31. August 1995 ein Anspruch auf eine Nachzahlung in Höhe von 6,62 DM ergebe. Sie fügte jedoch hinzu, daß dieser Betrag nach § 118 Absatz 2a SGB VI nicht ausgezahlt werden könne, weil er 3/10 des Wertes der Erwerbsunfähigkeitsrente nicht übersteige.

15.
    Der Kläger legte bei der Beklagten Widerspruch ein und machte geltend, es verstoße gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung gemäß Artikel 3 der Verordnung, wenn nach deutschem Recht zwischen Zahlungen innerhalb Deutschlands und Zahlungen in anderen Mitgliedstaaten ein Unterschied gemacht werde. Darüber hinaus werde durch das zwischen Deutschland und den Niederlanden angewendete „Clearing“-Verfahren sichergestellt, daß die Kosten für zwischenstaatliche Zahlungen in der Praxis die Kosten für Zahlungen innerhalb Deutschlands nicht überstiegen.(8)

16.
    Mit Bescheid vom 16. April 1996 wies die Widerspruchsstelle der Beklagten den Widerspruch mit der Begründung zurück, daß § 118 Absatz 2a SGB VI nicht in den Geltungsbereich des Artikels 10 Absatz 1 der Verordnung falle.

17.
    Am 3. Mai 1996 rief der Kläger das Sozialgericht Münster an; die Bundesrepublik Deutschland wurde beigeladen.

III - Die Vorabentscheidungsfrage

18.
    Das Sozialgericht Münster hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Verstößt § 118 Absatz 2a SGB VI gegen das Recht der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, soweit darin die Auszahlung von Rentennachzahlungsbeträgen im Ausland weiter eingeschränkt ist als die im Inland?

IV - Zur Vorabentscheidungsfrage

19.
    Vorab ist darauf hinzuweisen, daß der Gerichtshof, wenn er gemäß Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) angerufen wird, nicht zur Entscheidung über die Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit dem Gemeinschaftsrecht befugt ist. Er kann jedoch dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts geben, die es diesem ermöglichen, die Frage derVereinbarkeit bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens zu beurteilen(9).

20.
    Unter diesen Voraussetzungen ist davon auszugehen, daß die Frage des vorlegenden Gerichts dahin geht, ob der Grundsatz der Gleichbehandlung gemäß Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, durch die der Mindestwert einer Sachleistung, von der deren Auszahlung an einen in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden Leistungsempfänger abhängt, höher festgesetzt wird als der Wert, der vorgeschrieben ist, wenn diese Zahlung innerhalb desselben Mitgliedstaats erfolgt.

21.
    Um diese Frage im Rahmen des Ausgangsverfahrens beantworten zu können, ist es erforderlich, vorab zu prüfen, ob der Kläger auch - sowohl persönlich als auch sachlich - in den Geltungsbereich der Verordnung fällt, wie es Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung vorsieht.

22.
    Nach Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung gilt diese „für Arbeitnehmer und Selbständige, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen...“

23.
    Wie die Kommission zu Recht festgestellt hat, liegen uns keine Angaben vor, anhand deren sich feststellen ließe, ob der Kläger die nach dieser Vorschrift bestehende Voraussetzung, Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats zu sein - oder eine der Voraussetzungen, die an deren Stelle treten können - erfüllt(10).

Zwar sind die Voraussetzung des Wohnsitzes im Gebiet der Gemeinschaft und die die Anwendung der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats betreffende Voraussetzung offensichtlich erfüllt, da der Kläger in den Niederlanden wohnt und eine Erwerbsunfähigkeitsrente bezieht, für die unbestritten die deutschen Rechtsvorschriften gelten, das gleiche gilt aber nicht für seine Staatsangehörigkeit.

Da das Sozialgericht Münster diesen Fall stillschweigend angenommen hat, werde ich davon ausgehen, daß dieses Erfordernis erfüllt ist, um die Vorlagefrage sachgerecht beantworten zu können. Das vorlegende Gericht wird sich vor der Anwendung der einschlägigen Vorschriften der Verordnung jedoch vergewissern müssen, daß dies auch tatsächlich der Fall ist.

24.
    Was den Gegenstand des Ausgangsverfahrens angeht, der Voraussetzung für die sachliche Anwendbarkeit der Verordnung ist, genügt die Feststellung, daß es sich bei der streitigen Zahlung um eineNachzahlung auf eine Erwerbsunfähigkeitsrente handelt. Die Verordnung ist daher insoweit gemäß Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b anwendbar(11).

25.
    Unter dem vorstehenden Vorbehalt fällt ein Sachverhalt wie der vom vorlegenden Gericht beschriebene daher unter die Verordnung.

26.
    Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung soll gemäß Artikel 48 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG) zugunsten der Personen, für die die Verordnung gilt, die Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit ohne Unterscheidung nach der Staatsangehörigkeit dadurch sicherstellen, daß er alle Diskriminierungen beseitigt, die sich insoweit aus den nationalen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten ergeben(12).

27.
    Nationale Rechtsvorschriften wie die im vorliegenden Fall unterscheiden aber nicht danach, ob der Betroffene Deutscher ist oder nicht. Sie machen die Auszahlung einer Rentennachzahlung von der Einhaltung eines Mindestwerts abhängig, der, wenn die Zahlung von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat erfolgt, höher ist alsder Wert, der für diese Rentennachzahlung innerhalb desselben Mitgliedstaats vorgeschrieben ist. Für einen in Deutschland wohnenden Nichtdeutschen gilt die Voraussetzung der Einhaltung des Mindestwerts von 1/10, wodurch er größere Chancen hat, die streitige Nachzahlung zu erhalten, als einer im Ausland wohnender Deutscher. Das gleiche gilt für einen im Inland wohnenden Deutschen im Verhältnis zu einem Nichtdeutschen, der Deutschland verlassen hat. In der gleichen Weise gilt für einen außerhalb Deutschlands wohnenden Deutschen die weniger günstige 3/10-Voraussetzung ebenso wie für einen außerhalb Deutschlands wohnenden Nichtdeutschen, der eine von einem deutschen Versicherungsträger gezahlte Rente bezieht. Da derartige Rechtsvorschriften keine Staatsangehörigkeitsvoraussetzung aufstellen, schaffen sie auch keine auf dieses Kriterium gestützte unmittelbare Diskriminierung.

28.
    Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung verbietet jedoch nicht nur offenkundige Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit der aus den Systemen der sozialen Sicherheit leistungsberechtigten Personen, sondern auch versteckte Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungskriterien tatsächlich zum gleichen Ergebnis führen(13).

29.
    Das Unterscheidungskriterium liegt offensichtlich in dem Ort, wo der Rentenempfänger die Zahlung erhält, d. h. seinem Wohnort. Wie die Kommission ausführt, liegt eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit vor, wenn die nationale Regelung zwar ohne Staatsangehörigkeitsvoraussetzung gilt, aber ausschließlich oder hauptsächlich Ausländer benachteiligt.

30.
    Zum Nachweis einer solchen Diskriminierung ist festzustellen, ob die außerhalb Deutschlands wohnenden Arbeitnehmer, die die streitige Nachzahlung auf die Erwerbsunfähigkeitsrente erhalten, ausschließlich oder mehrheitlich Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten der Gemeinschaft als der Bundesrepublik Deutschland sind. In diesem Fall wäre der Beweis für eine diskriminierende Unterscheidung zwischen Deutschen und Nichtdeutschen zum Nachteil der letztgenannten erbracht.

31.
    Anhand der dem Gerichtshof vorliegenden Angaben über das Ausgangsverfahren läßt sich keine abschließende Stellungnahme in dem einen oder dem anderen Sinn abgeben. Man kann allenfalls als Hinweis und vorbehaltlich sonstiger Angaben, über die das vorlegende Gericht verfügen könnte, feststellen, daß es sich nach Aussage der Kommission bei den außerhalb Deutschlands wohnenden Personen, die durch die deutschen Rechtsvorschriften betroffen sind, mehrheitlich um Deutschehandelt(14). Es ist klar, daß Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung einer diesen Merkmalen entsprechenden Regelung aus mit der Anwendung eines Staatsangehörigkeitskriteriums zusammenhängenden Gründen nicht entgegenstehen würde, da die nationalen Rechtsvorschriften in einem solchen Fall die eigenen Staatsangehörigen benachteiligen würden.

32.
    Es ist jedoch eine andere Betrachtungsweise geboten, die mehr nach Maßgabe der Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit als nach Maßgabe des Grundsatzes der Gleichbehandlung im allgemeinsten Sinne zu definieren ist.

33.
    Zu den bemerkenswerten Besonderheiten dieses Teils des Gemeinschaftsrechts gehört, daß in der einschlägigen Vorschrift des Primärrechts, nämlich Artikel 51 des Vertrages, auf den die Verordnung gestützt ist, das Bestreben zum Ausdruck kommt, zur Freizügigkeit derArbeitnehmer dadurch beizutragen, daß für die Wanderarbeitnehmer ganz bestimmte Rechte sichergestellt werden(15).

34.
    Der Gerichtshof hat daraus logisch gefolgert, daß die Regelungen in Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung „im Lichte ihres Zwecks auszulegen [sind]; dieser besteht, insbesondere auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit, in der Herstellung größtmöglicher Freizügigkeit der Wanderarbeitnehmer, die eine der Grundlagen der Gemeinschaft darstellt...“(16).

35.
    Nach diesem Grundsatz, bei dem keine Beziehung zum Begriff der Staatsangehörigkeit besteht, sollen „die Artikel 48 bis 51 EWG-Vertrag sowie die zu ihrer Durchführung erlassenen gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften, insbesondere die Verordnung Nr. 1408/71, ... verhindern, daß ein Arbeitnehmer, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat und in mehr als einem Mitgliedstaat beschäftigt war, schlechter gestellt wird als einArbeitnehmer, der seine gesamte berufliche Laufbahn in einem einzigen Mitgliedstaat zurückgelegt hat ...“(17).

36.
    Der Gerichtshof hat darauf hingewiesen, daß er entschieden hatte, „daß der Zweck der Artikel 48 bis 51 verfehlt würde, wenn Wanderarbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlören, die ihnen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats sichern. Ein solcher Verlust könnte nämlich den EG-Arbeitnehmer davon abhalten, von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, und würde somit die Freizügigkeit beeinträchtigen ...“(18).

37.
    Entgegen dem Vorbringen der Kommission(19)kann eine Vorschrift der Art, wie sie vor dem nationalen Gericht streitig ist, auch wenn sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer gilt, im Bereich der sozialen Sicherheit die Wanderarbeitnehmer im Verhältnis zu den Arbeitnehmern benachteiligen, die eine Tätigkeit nur in einem Mitgliedstaat ausgeübt haben.

38.
    Unabhängig davon, ob sie die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats der Gemeinschaft sind, können die betroffenen Arbeitnehmer und sonstigen Begünstigten des Systems der sozialen Sicherheit keinen Anspruch darauf erheben, den gleichen Betrag der Nachzahlung der im Rahmen dieses Systems geschuldeten Erwerbsunfähigkeitsrente zu erhalten, wenn der Betrag dieser Nachzahlung nach seiner ursprünglichen Festsetzung 3/10 der Rente nicht übersteigt. In diesem Fall haben, wie ersichtlich, nur die in Deutschland wohnenden Leistungsempfänger einen Anspruch auf die streitige Nachzahlung, wobei dann die einzige Bedingung darin besteht, daß der Betrag der Nachzahlung 1/10 der Rente übersteigt.

39.
    Unter diesen Voraussetzungen befinden sich die Gemeinschaftsstaatsangehörigen, die ihre Berufstätigkeit in Deutschland ausgeübt haben, und diejenigen, die ihr Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft ausgeübt haben und ihren Wohnsitz in einem andern Mitgliedstaat genommen haben, nicht in der gleichen Lage, obwohl sie doch das gleiche Recht auf eine Rentennachzahlung in einer bestimmten Höhe haben.

40.
    Die Kommission ist der Auffassung, auch wenn die Voraussetzungen einer mittelbaren Diskriminierung erfüllt seien, könne diese doch durch sachliche Unterschiede gerechtfertigt sein. Die Unterscheidung zwischen der Zahlung im Inland und der Zahlung im Ausland stütze sich darauf, daß mit den Auslandszahlungen höhereKosten verbunden seien. Sie trage den Überweisungskosten Rechnung und solle vermeiden, daß diese Kosten den Nachzahlungsbetrag überstiegen.

41.
    Die Erklärungen der Kommission, die auf den Gedanken gestützt sind, daß unwirtschaftliche Situationen vermieden werden sollen, verdienten Zustimmung, wenn ihnen im vorliegenden Fall nicht ein besonderer Umstand entgegenstünde.

42.
    Im Ausgangsverfahren ist nämlich festgestellt worden, daß im Zahlungsverkehr mit den Niederlanden ein „Clearing“-Verfahren angewendet wird. Bei diesem Verfahren wird die Rentenzahlung von der Verbindungsstelle im Wohnland des Rentenberechtigten durch eine Inlandsüberweisung vorgenommen. Nach dem Eingeständnis der Kommission verursacht das „Clearing“-Verfahren keine zusätzlichen Kosten, da tatsächlich keine Auslandszahlung erfolgt(20).

43.
    Mit anderen Worten würden die streitige Rentennachzahlung im vorliegenden Fall zu keinen zusätzlichen Kosten im Vergleich zu einer entsprechenden Zahlung im Gebiet des zahlungspflichtigen Versicherungsträgers führen. Ist dies der Fall, so läßt sich daraus folgern, daß keine Gefahr besteht, daß die Kosten den Nachzahlungsbetrag übersteigen.

44.
    Unter diesen Voraussetzungen erscheint es gewagt, die unterschiedliche Behandlung damit zu rechtfertigen, daß zusätzliche Kosten entstünden oder wahrscheinlich seien. Man kann sich nicht auf die Notwendigkeit berufen, unwirtschaftliche Situationen zu vermeiden, um Diskriminierungen, die die Freizügigkeit der Wanderarbeitnehmer beeinträchtigen, in Fällen zu rechtfertigen, in denen solche Situationen gerade nicht vorliegen.

45.
    Bekanntlich ist die Verordnung u. a. auf Artikel 51 Buchstabe b des Vertrages gestützt, der dem Rat die Aufgabe zuweist, den Wanderarbeitnehmern und deren anspruchsberechtigten Angehörigen die Zahlung der Leistungen an Personen zu sichern, die in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten wohnen. Ausnahmen vom Grundsatz des Artikels 51 wie von dem in Artikel 48 des Vertrages niedergelegten grundlegenden Prinzip der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, dessen Anwendung im Bereich der sozialen Sicherheit Artikel 51 darstellt, sind nur beschränkt zulässig.

46.
    Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung, wonach Wohnortklauseln aufzuheben sind, bestätigt diese Betrachtungsweise. Er schließt aus, daß die Entstehung oder die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf die in dieser Bestimmung genannten Leistungen allein deshalb verneint wird,weil der Betroffene nicht im Gebiet des Mitgliedstaats wohnt, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat(21).

47.
    Niemand bestreitet, daß die streitige Rentennachzahlung zu der durch Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung erfaßten Gruppe von Geldleistungen bei Invalidität gehört, und daß diese Leistung, wenn ihr Betrag 3/10 der Erwerbsunfähigkeitsrente nicht übersteigt, ihrem Empfänger entzogen wird, weil er im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt.

48.
    Die Kommission ist dagegen der Auffassung, Artikel 10 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Verordnung sei nicht anwendbar, denn dem Kläger werde durch die Nichtauszahlung des Nachzahlungsbetrages keine Leistung entzogen oder gekürzt. Die Beklagte habe die Rentenerhöhung festgestellt, die Kosten der Übermittlung aber einfach mit dem Betrag der Nachzahlung verrechnet. Artikel 10 der Verordnung solle jedoch nicht die Frage der Kostentragungslast, sondern die der Kürzung oder der Entziehung der Leistung regeln.

49.
    Außerdem habe der deutsche Gesetzgeber zwischen den im Ausland wohnenden Beziehern einer Rente nicht danach unterscheiden wollen, ob die durch die Zahlung der Rente tatsächlich entstehenden Kosten höher als die Rente seien. Diese pauschale Betrachtungsweisestütze sich nicht nur darauf, daß die allgemeinen Kosten und die Bankspesen bei derartigen Zahlungen höher seien, sondern auch auf die den Systemen der sozialen Sicherheit inhärente Solidarität.

50.
    Schließlich verweist die Kommission auch auf Artikel 58 der Durchführungsverordnung, wonach die Mitgliedstaaten die Zahlstellen dazu ermächtigen könnten, die mit der Zahlung der Leistung verbundenen Kosten, insbesondere Postgebühren und Bankspesen, von den dem Berechtigten zu zahlenden Beträgen einzubehalten.

51.
    Ich teile diese Meinung nicht, denn meiner Auffassung nach darf man nicht außer acht lassen, daß die Überweisung der Rentennachzahlung nach den Angaben in der Akte keine zusätzlichen Kosten verursacht.

52.
    Zum einen kann ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats der Gemeinschaft, dem ein Teil seiner Rente mit der Begründung entzogen wird, daß dieser Teil niedriger als oder gleich hoch wie die zu seiner Überweisung erforderlichen Kosten sei, sich offensichtlich auf Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung berufen, wenn nicht nachgewiesen ist, daß diese Kosten tatsächlich entstehen. Seine Lage ist in diesem Fall nicht anders als die Lage der Empfänger der gleichen Leistung, für die die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats gelten, in dem sie wohnen. Nach genau dem gleichen Gedankengang ist es nicht möglich, sich auf die Einbehaltung der mit der Zahlung der Leistung verbundenen Kostengemäß Artikel 58 der Durchführungsverordnung zu berufen, wenn keine derartigen Kosten entstanden sind.

53.
    Zum anderen muß in einem solchen Fall auch Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung Anwendung finden. Die Nichtüberweisung der Nachzahlung kommt nämlich einer Kürzung oder einer Änderung der Rente gleich, da der Rentenberechtigte die Nachzahlung nicht in vollem Umfang erhält, obwohl sie einen Bestandteil der Rente darstellt.

54.
    Auch das auf die in den nationalen Systemen der sozialen Sicherheit gebotene Solidarität gestützte Vorbringen überzeugt mich nicht.

55.
    Es läßt sich nämlich nur schwer sagen, wodurch die Ablehnung der Überweisung einer Rentennachzahlung, bei der die entstehenden Kosten nicht höher sind als die Kosten, die normalerweise bei einem derartigen Vorgang entstehen, zum Schutz der anderen Empfänger von Leistungen der sozialen Sicherheit beitragen sollte.

56.
    Somit sind im vorliegenden Fall die die Mindestwerte betreffenden Unterschiede unter dem Vorbehalt durch keine sachliche Erwägung gerechtfertigt, daß das vorliegende Gericht die Anwendung eines „Clearing“-Verfahrens sowie dessen Auswirkungen auf die Höhe der Kosten bestätigt.

Ergebnis

57.
    In Anbetracht dieser Erwägungen schlage ich vor, die Vorabentscheidungsfrage des Sozialgerichts Münster wie folgt zu beantworten:

Der in Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 1945/93 des Rates vom 30. Juni 1993 formulierte Grundsatz der Gleichbehandlung steht der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegen, wonach der Mindestwert einer Geldleistung bei Invalidität, von dem die Zahlung dieser Leistung an einen in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden Leistungsempfänger abhängt, höher festgesetzt wird als der Wert, der vorgeschrieben ist, wenn diese Zahlung innerhalb des erstgenannten Mitgliedstaats erfolgt, sofern die Zahlung in einen anderen Mitgliedstaat, die deshalb nicht vorgenommen werden kann, weil die Leistung den höheren Mindestwert nicht erreicht, keine höheren Kosten verursacht, als sie bei der Zahlung der gleichen Leistung innerhalb des erstgenannten Mitgliedstaats entstehen.


1: Originalsprache: Französisch.


2: -     Abl. L 149, S. 2.


3: -     ABl. L 181, S. 1.


4: -     Fünfte Begründungserwägung.


5: -     Sechste Begründungserwägung.


6: -     Siebte Begründungserwägung.


7: -     ABl. L 74, S. 1; im folgenden: Durchführungsverordnung.


8: -     Nach Angabe der Kommission werden bei diesem Verfahren die Informationen bezüglich der Rentenauszahlungen an eine Verbindungsstelle im Wohnland des Rentenberechtigten weitergeleitet, die ihrerseits die Renten dann innerstaatlich auszahle. Insoweit entstünden keine höheren Kosten, da letztlich keine Auslandszahlung erfolge.


9: -     Siehe z. B. Urteil vom 30. April 1998 in den verbundenen Rechtssachen C-37/96 und C-38/96 (Sodiprem u. a., Slg. 1998 I-2039, Randnr. 22).


10: -     Urteil vom 30. April 1996 in der Rechtssache C-308/93 (Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097, Randnr. 21).


11: -     Nach diesem Artikel gilt die Verordnung „für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die folgende Leistungsarten betreffen: ... Leistungen bei Invalidität einschließlich der Leistungen, die zur Erhaltung oder Besserung der Erwerbsfähigkeit bestimmt sind ...“


12: -     Urteil vom 25. Juni 1997 in der Rechtssache C-131/96 (Mora Romero, Slg. 1997, I-3659, Randnr. 29).


13: -     Urteile vom 12. Juli 1979 in der Rechtssache 237/78 (Toia, Sgl. 1979, 2645, Randnr. 12) und Mora Romero, a. o., Randnr. 32.


14: -     Nummer 21 der schriftlichen Erklärungen der Kommission, die diese Information von dem im Ausgangsverfahren beigeladenen Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung erhalten hat. Mein Zweifel daran, ob dies wirklich der Fall ist, der dadurch genährt wird, daß die Bundesrepublik Deutschland ein Land ist, das zahlreiche ausländische Arbeitnehmer aufnimmt, auch wenn es sich dabei nicht nur um Staatsangehörige der Mitgliedstaaten handelt, veranlaßt mich dazu, die Möglichkeit einer mittelbaren Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit nicht vollkommen auszuschließen und das vorlegende Gericht dazu aufzufordern, sich in diesem Punkt im Hinblick auf die vorzunehmende rechtliche Beurteilung Gewißheit zu verschaffen.


15: -     Es handelt sich um Maßnahmen, die ihnen und ihren anspruchsberechtigten Angehörigen folgendes sichern: „die Zusammenrechnung aller nach den verschiedenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften berücksichtigten Zeiten für den Erwerb und die Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs sowie für die Berechnung der Leistungen ...“ und „die Zahlung der Leistungen an Personen, die in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten wohnen“.


16: -     Urteil vom 7. März 1991 in der Rechtssache C-10/90 (Masgio, Slg. 1991, I-1119, Randnr. 16).


17: -     A. a. O. Randnr. 17.


18: -     A. a. O., Randnr. 18.


19: -     Die Kommission trägt vor, eine Regelung wie die hier streitige könne nicht gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen, da sie ohne Unterschied für die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten und die inländischen Staatsangehörigen gelte, wodurch die Gefahr einer mittelbaren Diskriminierung ausgeschlossen werde.


20: -     Schriftliche Erklärungen der Kommission, Nr. 25.


21: -     Urteil vom 20. Juli 1991 in der Rechtssache C-356/89 (Newton, Slg. 1991, I-3017, Randnr. 23).