638 B. Civxlrechtspflege.

II. Obligasstionenreeht. Droit des obligations.

101. Urtheil vom Z. Oktober 1891 in Sachen Mühlemann gegen Christen.

A. Durch Urtheil vom 26. Juli 1891 hat der AppellationsUnd Kassationshof
des Kantons Bern erkannt ;

Der Kläger Jakob Mühlenraan ist mit seinen Klagsbegehren abgewiesen.

B. Gegen dieses Urtheil ergriff der Kläger die Weiterziehnng an das
Bundesgericht. Bei der jhentigen Verhandlung beantragt sein Anwalt: Es
sei in Aufhebung des angefochtenen Urtheils die Klage gutznheissen. Der
Vertreter der Beklagten trägt auf Abweifung der gegnerischen Beschwerde
im Sinne der Verwerfung der Klage an.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. In thatfächlicher Beziehung hat die Vorinstanz folgendes festgestellt:
Gegen Abend des 8. Oktober 1889 trieben der Sohn der Beklagten und deren
Melker eine aus 8 bis 9 Kühen und 2 Kälbern bestehende Viehherde von
der Weide durch einen öffentlichen Weg nach dem Hause der Beklagten. Der
Melker befand sich an der Spitze der Heerde, der Sohn Christen am Ende
derselben. Neben dem letztern lief während einiger Zeit das am 9. März
1876 gebotene, danach noch schulpflichtige Mädchen, Lina Mühleniann,
Tochter des Klägers, her. Dasselbe war, während der damaligen Schulferien,
bei Ferdinand Werthmüller in Rumendingen bedienftet, wo es Kost und Logis
und einige Vergütung in Kleidern und Geld erhielt. Das Mädchen hatte im
Auftrage seines Meisters eine Besorgung im Dorfe Rumendingen

ausgeführt und kehrte von dort her nach dem Hause feines '

Meisters zurück. Als die Viehheerde in der Nähedes Hauses der Beklagten,
beim Brunnen, angelangt war, wurden die Kühe angehalten, um ihnen die
Glocken abzunehmen und sie zu tränkenDabei leisteten auch die Beklagte
selbst, eine Tochter und eine Magd derselben, welche aus dem Hause
heraus-getreten waren,II. Obligàtionenrecht. N° 101. 639

Hülfe An der betreffenden Stelle grenzt auf der andern Seite des
Brunnens-, ein Hag, bestehend aus eichenen Wandftöcken und Querlatten,
den Weg ab. Das Mädchen versuchte nun, an den Kühen vorbeizukommenz
dabei wurde es von einer der Kühe derart gegen einen der Wandstöcke,
bei welchem es momentan scheint stehen geblieben zu sein, gepresst,
dass ihm der Brustkafte eingedrückt wurde. Es waren nämlich zwei der
Kühe, während sie vor dem Brunnen standen, aneinandergestossen; das
hintere der beiden, übrigens nicht bösartigen, sondern zahmen und freinen
Thiere machte in Folge dessen, dem Stosse des vordern nachgebend, eine
rückgängige Bewegung und stiess dabei auf das in der Nähe befindliche
Mädchen. Die erlittene Verletzung hatte den sofortigen Tod des Mädchens
zur Folge. Der Vater desselben hat unter Berufung auf Art. 50 ff. und
Art. 65 O.-R. von der Beklagten eine angemessene Entschädigung gefordert,
die er auf 2000 Fr. für vermögensrechtlichen Schaden und 1000 Fr. für
moralisches Leid sowie auf 22 Fr. 75 Cts. für Beerdigungskosten beziffert.
Die Beklagte hat die Forderung in Betreff der Beerdigungskosten anerkannt,
im Uebrigen dagegen bestritten.

2. In rechtlicher Beziehung ist für die grundsätzliche Frage der
Haftpflicht der Beklagten offenbar Art. 65 O.-R. entscheidend Nach dieser
Gesetzesbestimmung haftet, wer ein Thier hält, für den Schaden, welchen
dasselbe anrichtet, sofern er nicht beweist, dass er alle erforderliche
Sorgfalt in der Verwahrung und Beaufsichtigung angewendet habe. Die
Haftpflicht des Thierhalters ifi demnach einerseits keine unbedingte,
lediglich an die objektive Thatsache der Schadensstiftung geknüpfte,
andrerseits dagegen liegt nicht dem Geschädigten der Nachweis seines
Verschuldens ob; sondern die Haftpflicht besteht vielmehr insolange, als
der Thierhalter nicht seinerseits beweist, dass er alle erforderliche
Sorgfalt in Verwahrung und Beaufsichtigung aufgewendet habe. Der
Thierhalter trägt also zwar nicht schlechthin die Gefahr von Schädigungen,
welche sein Thier verursacht, wohl aber muss er, um sich der Haftung zu
entziehen, den Entlastungsbeweis erbringen; die Vermuthung spricht gegen
ihn. Dabei verlangt das Gesetz für den Entlastungsbeweis den Nachweis-,
dass alle erforderliche Sorgfalt (le soin voulu, la necessarja diligenza)
aufgewendet worden sei. Das Gesetz stellt die Anforderung, dass ' bei
Verwahrung und

640 B'. Clvilrechtspflege.

Beaufsichtigung von Thieren sorgfältig verfahren werde; jeder auch
nur leichte Verstoss hiegegen schliesst die Entlastung des Beklagten
aus und lässt dessen Verantwortlichkeit bestehen. Wer Thiere zu seinem
Nutzen oder Vergnügen hält, soll eben mit aller Sorgfalt darüber wachen,
dass durch dieselben nicht Dritte rechtswidrig geschädigt werden. Was im
einzelnen Falle zur sorgfältigen Verwahrung und Beaufsichtigung gehört,
hängt von den Umständen ass. Gefährliche Thiere erheischen natürlich eine
strengere Ueberwachung, als solche, welche im Allgemeinen unschädlich
sind; unter Umständen, welche eine Gefährdung Dritter als leicht
möglich erscheinen lassen, ist eine genauere Aufsicht erforderlich
als da, wo eine solche Gefährdung im ordentlichen Laufe der Dinge als
ausgeschlossen erscheint. Die blosse Thatsache, dass bei Verwahrung und
Beaufsichtigung der Thiere in der Üblichen Weise ist verfahren worden,
wirkt für sich allein nochnicht befreiend. Freilich ist die Uebung
insofern von Bedeutung, als sie in der Regel bekunden wird, welche
Vorsichtsmassregeln erfahrungsmässig als unerlässlich gelten. Allein
schlechthin entscheidend ist sie nicht. Denn das Gesetz fordert nicht die
Aufwendung der üblichen, sondern aller erforderlichen Sorgfalt. Sollte es
daher auch lokal üblich fein, Thiere Unter Umständen, welche eine genauere
Aufsicht zur Abwendung von Schädigungen Dritter objektiv erfordern, ganz
ohne Aufsicht oder unter ungenügender Aufsicht zu lassen, so befreit
diese Uebung denjenigen nicht, welcher derselben gefolgt ist und dessen
Thiere in Folge dessen Schaden gestiftet haben. Dieser kann seinen Mangel
an der erforderlichen Sorgfalt nicht damit entschuldigen, dass überhaupt
in seinen Kreisen gewohnheitsmässig bei Verwahrung und Beaufsichtigung
der Thiere nachlässig zu Werke gegangen werde. Er muss vielmehr, da er
es eben an der vom Gesetze allgemein von jedem verlangten erforderlichen
Sorgfalt hat fehlen lassen, für den Schaden aufkommen, welchen seine
Thiere in Ermangelung derselben gestiftet haben. Danach erscheint es
denn nicht als zutreffend, wenn die Vorinstanz ihre klageabvweisende
Entscheidung wesentlich darauf stützt, dass beim Eintreiben und Tränken
der Thiere der Beklagten in der landesüblichen Weise sei verfahren
worden und es muss daher das Bundesgericht zuselbständiger Prüfung der
Frage schreiten, ob von der Beklagten der ihr obliegende Beweis, dass
sie alle erforderliche Sorgfalt inIl. Ohligafionenrecht. N° 101. 641

Verwahrung und Ueberwachung ihrer Thiere aufgewendet habe, erbracht
sei. Dies ist nun zu verneinen. Der Unfall ereignete sich auf einem
öffentlichen Wege, zu dessen Benutzung jedermann berechtigt ist. Beim
Viehtrieb auf öffentlichen Wegen ist es nun gewiss geboten, dass die
Beaufsichtigung des Viehes so geordnet werde, dass die Sicherheit des
den Weg benutzenden Publikums nicht gefährdet werde; es ist demnach
zu fordern, dass die Treiber und Hüter des Viehes ihre Aufmerksamkeit
auch dem letztern zuwenden. Hieran fehlte es nun im vorliegenden
Falle. Freilich war vollständig genügend Personal anwesend, um die
Viehheerde zu beaufsichtigen. Allein die Aufmerksamkeit dieses Personals
richtete sich einzig oder doch vorwiegend nur darauf, den Kühen die
Glocken abzunehmen und sie zur Tränke zu treiben. Auf die Sicherheit der
öffentlichen Passage und des dieselbe benutzenden Mädchens Lina Mühlemann
wurde dabei nicht, jedenfalls nicht in ausreichendem Masse, gerichtet Zwar
ist von der Beklagen behauptet worden, ihr Sohn habe das Mädchen mündlich
gewarnt und ihm zugewinkt. Allein, nach der thatsächlichen Feststellung
der Vorinstanz, ist ersteres nicht erwiesen und steht in letzterer
Beziehung wenigstens nicht fest, dass die Verunglückte das Winken gesehen
und verstanden habe oder hätte sehen und verstehen sollen. Es muss also
daran festgehalten werden, dass es an der erforderlichen Beaufsichtigung
insofern fehlte, als für die Sicherheit des öffentlichen Weges keine
Sorge getragen wurde; in Folge dieses Mangels ereignete sich dann der
Unfall und zwar ohne dass der Verunglückten eine Schuld an demselben
könnte beigemessen werden. Ein Verschulden des verunglückten Mädchens
wäre dann wohl anzunehmen, wenn dasselbe, in Missachtung einer Warnung,
sich mitten durch das Vieh durchzuzwängen versucht hätte. Allein dies
ist nicht der Fall. Das Mädchen konnte ohne Verschulden erwarten, auf dem
öffentlichen Wege ungefährdet neben dem Vieh vorbeigehen und etwa auch am
Wegrande stehen bleiben zu können, und es hätte dies sicher auch gekonnt,
wenn die Beaufsichtigung des Viehes auch darauf sich gerichtet hätte,
ans dem Wege einen Durchpass von dem Gedränge der zur Tränke getriebenen
Kühe frei zu halten.

3. Die Entschädigungsforderung ist sonach prinzipiell begründet, sofern
dem Kläger durch den Tod seines Kindes ein nach dem

542 B. Civilrechtspflege.

Gesetze ersiattungsfähiger Schaden entstanden ist. In dieser Richtung
ist festzuhalten, dass nach Art. 52 O.-R. den Hinterlassenen ein
Ersatzanspruch auch dann zusteht, wenn der Getödtete zur Zeit des
Todes noch nicht zu ihrem Unterhalte beitrug, dagegen anzunehmen ist,
dass er dies un normalen Verlaufe der Dinge in Zukunft gethan haben
würde (siehe Entscheidung des Bundesgerichtes in Sachen Liechti gegen
Bürgergemeinde Aarberg, Entscheidung Amtliche Sammlung XVI, S. 816
u. ff. Erw. 5). Im vorliegenden Falle nun ist anzunehmen, dass im
ordentlichen Laufe der Dinge das getödtete Mädchen nach wenigen Jahren
zum Unterhalte seiner gar nicht oder nur wenig begüterten Fa-f milie
aus seinem Arbeitsverdienste einiges beigetragen hätte. Dagegen können
allerdings, nach den vorliegenden Verhältnissen, diese Beiträge nicht
sehr hoch angeschlagen werden; es erscheint vielmehr eine Entschädigung
von 500 Fr. als den Verhältnissen entsprechend und genügend. Denn die
Getödtete wäre offenbar ihrer ganzen Befähigung und Bildung nach auf
die Stellung eines ländlichen Dienstboten angewiesen gewesen und hätte
aus dem bescheidenen Lohne eines solchen auch nur bescheidene Beiträge
zum Unterhalte ihrer Familie leisten können und geleistet. Weiter zu
gehen und eine den vermuthlichen ökonomischen Schaden übersteigende
Summe in Anwendung des Art. 54 O.-R. zuzusprechen, liegt ein Grund nicht
vor. Jnsbesondere ist der Unfall nicht etwa auf ein grobes Verschulden
der Beklagten zurückzuführen, sondern vielmehr ein solcher; wo eine
unglückliche Fügung der Umstände mit einem etwelchen Mangel an Sorgfalt
seitens der Beklagten zusammentraf Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Die Weiterziehung des Klägers wird dahin für begründet er-

klärt, dass, in Abänderung des angefochtenen Urtheils, die Be-

klagte verpflichtet wird, ausser den von ihr anerkannten Beerdi.

gungskosten von 22 Fr. 75 Cts., an den Kläger eine Entschädigung von
500 Fr. (fünfhundert Franken) nebst Zins zu 50/0 vom Tage des Unfalles
(8. Oktober 1889) an zu bezahlen.II. Obligationenrecht. N° 102. 643

102. Urtheil vom 10. Oktober 1891 in Sachen ' Conti gegen von Gonzenbach.

A. Durch Urtheil vom 22. Juni 1891 hat das Obergericht des Kantons
Zug erkannt:

Es sei unter Abweisung der Appellationsbeschwerden das kantonsgerichtliche
Urtheil vom 21. Februar 1891 bestätigt

Das erstinstanzliche Urtheil des Kantonsgerichtes Zug ging dahin:
1. Der Beklagte sei pflichtig, an den Kläger wegen Bruches des
zwischen den Parteien den 7. Juni 1883 abgeschlossenen Vertrages 15,000
Fr. als Schadenersatz zu bezahlen, mit der Mehrsorderung sei Kläger
abgewiesen. 2. Die Widerklage sei abgewiesen.

B. Gegen das obergerichtliche Urtheil ergriffen beide Parteien die
Weiterziehung an das Bundesgericht. Bei der heutigen Verhandlung beantragt
der Anwalt des Klägers, es sei, in Abänderung des vorinstanzlichen
Urtheil-s der Beklagte zu verurtheilen, dem Kläger wegen Bruches des
zwischen den Parteien am 7. Juni 1883 abgeschlossenen Vertrages eine
Entschädigung von 250,000 Fr. eventuell eine nach richterlichem Ermessen
festzusetzeude Summe zu bezahlen, unter Kosten und Entschädigungsfolge

Der Anwalt des Beklagten trägt auf Abweisung der Klage an und beantragt
widerklagsweise, es sei der Kläger zu einer Entschädigung von 60,000
Fr. an den Beklagten zu ver-urtheilen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Karl von GonzenbachsEscher (wohnhaft in Buonas, Kantons Zug) war
Kommanditär der Firma Escher-Wyss & Cie. in Zürich und gleichzeitig
alleiniger Inhaber eines Geschäftes (einer mechanischen Werkstätte)
in Ravensburg (Würtemberg), für welches er die Firma Filialwerkstätte
von Escher Wyss & Eie. zu Ravensburg führte. Als Inhaber letztern
Geschäfts, unter der Firma Filialwerkstätte von EschewWyss & Cie. zu
Ravensburg, schloss er am 7. Juni 1883 in Zürich mit dem in Paris
wohnhasten Napoleon Conti einen Vertrag ab, wonach dem Conti für den
Verkan gewisser Fabrikate, die Vertretung des Geschäftes in
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Dokument : 17 I 638
Datum : 30. September 1891
Publiziert : 30. Dezember 1891
Quelle : Bundesgericht
Status : 17 I 638
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : 638 B. Civxlrechtspflege. II. Obligasstionenreeht. Droit des obligations. 101.


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