VPB 65.71

(Rechtsgutachten der Direktion für Völkerrecht vom 12. März 1998)

Internationale Rechtshilfe. Zustellung. Territoriale Integrität. Hoheitliche Handlungen.

- Staatliche Handlungen im Ausland können nur mit Zustimmung des betroffenen Staates durchgeführt werden. Andernfalls stellen sie einen Eingriff in dessen territoriale Integrität und damit eine Verletzung des Völkerrechtes dar.

- Die Zustellung amtlicher Schriftstücke sowie die amtliche Einholung von Auskünften sind staatliche Handlungen. Zustellungen durch die öffentlichrechtliche Post oder durch Private können die Gebietshoheit verletzen.

- Eine reine Mitteilung über die Möglichkeit der Beteiligung an einem Verfahren stellt keinen unzulässigen Eingriff in die Souveränität dar.

- Die Zustellung eines amtlichen Schriftstückes an eine schweizerische Tochtergesellschaft, das die im Ausland domizilierte Muttergesellschaft betrifft, kann problematisch sein, wenn die Tätigkeiten der Tochtergesellschaft offensichtlich nicht mit dem betroffenen Verfahren zusammenhängen.

Entraide judiciaire internationale. Notification. Intégrité territoriale. Acte de souveraineté.

- L'accomplissement par un Etat d'un acte officiel dans un autre Etat ne peut avoir lieu qu'avec le consentement de ce dernier, sans quoi il constitue une atteinte à l'intégrité territoriale et par conséquent une violation du droit international public.

- Une notification d'actes ou une demande de renseignements émanant d'une autorité sont des actes officiels. La notification de tels actes par les services postaux publics ou par des canaux privés peut représenter une atteinte à l'intégrité territoriale.

- La simple communication d'une possibilité de participer à une procédure ne constitue pas une atteinte à la souveraineté.

- La notification à une filiale établie en Suisse d'un acte officiel destiné à la maison mère domiciliée à l'étranger peut poser problème si les activités de la filiale sont manifestement sans liens avec la procédure en cause.

Assistenza giudiziaria internazionale. Notifica. Integrità territoriale. Atto ufficiale.

- Il compimento di un atto ufficiale statale sul territorio di un altro Stato può avvenire soltanto con il consenso di quest'ultimo. In caso contrario, rappresenta un attentato alla sua integrità territoriale e di conseguenza una violazione del diritto internazionale pubblico.

- La notifica di atti o la richiesta di informazioni da parte di un'autorità rappresentano atti ufficiali. Se la notifica avviene per via postale o tramite canali di trasmissione privati può costituire un attentato all'integrità territoriale.

- La semplice comunicazione riguardante la possibilità di partecipare ad una procedura non viola la sovranità.

- La notifica ad una filiale svizzera di un atto ufficiale destinato alla casa madre può essere problematica nella misura in cui le attività della filiale non abbiano un legame manifesto con la procedura in corso.

Die Direktion für Völkerrecht (DV) prüfte, unter welchen Bedingungen die Zustellung amtlicher Schriftstücke im Ausland völkerrechtlich zulässig ist. Auch wird die Frage eines amtlichen Vorgehens gegen in der Schweiz domizilierte Tochtergesellschaften oder Betriebsstätten untersucht.

Gemäss Völkerrecht hat jeder Staat Anspruch auf Achtung seiner territorialen Integrität. Untersagt sind demnach alle staatlichen Handlungen im Ausland, durch welche in die Gebietshoheit eines anderen Staates ohne dessen Einwilligung und ohne anderen völkerrechtlichen Rechtfertigungsgrund eingegriffen wird[264]. Zu diesen Handlungen zählen grundsätzlich die Zustellung amtlicher Schriftstücke durch die Post an Privatpersonen sowie die amtliche Einholung von Auskünften[265]. Im Rahmen dieser weiten Definition kann sich jeder Staat gegen postalische Zuwendungen entweder zur Wehr setzen oder sie tolerieren. Dementsprechend lässt sich über die Staatenpraxis kaum Allgemeines aussagen, sondern muss, je nach Rechtsfrage und von Staat zu Staat, differenziert werden[266].

Soweit die Souveränität der Schweiz in Frage steht, gehen die schweizerischen Behörden vom Wesen und Zweck der Zustellung aus[267]: Entscheidend ist, ob sie der Erfüllung staatlicher Aufgaben dient. Für den Begriff des Hoheitsaktes wird hingegen nicht darauf abgestellt, ob sich aus der Zustellung für den Adressaten unmittelbar Rechtsnachteile ergeben; ebensowenig spielt es eine Rolle, ob darin - ausdrücklich oder implizit - Zwangsmassnahmen angedroht werden. Immerhin wird postuliert, dass die Zustellung von Mitteilungen mit rein informativem Inhalt, die für den Adressaten ohne Rechtswirkungen sind, völkerrechtlich in der Regel unbedenklich seien[268].

Im Verhältnis zwischen der Schweiz und einem bestimmten ausländischen Staat ist somit (im Rahmen der erwähnten Definition des Völkerrechts) die Auffassung dieses ausländischen Staates und das Bestehen (bzw. das Fehlen) einer staatsvertraglichen Regelung[269] massgebend. Die erwähnte Reziprozität im engeren Sinn hingegen ist unerheblich: Die Schweiz gewährt anderen Staaten, vorbehältlich staatsvertraglicher Verpflichtungen, keine zustellungsrechtlichen Erleichterungen in Erwägung des Gegenrechts und kann selber auch keine solchen beanspruchen. Politisch spielt der Gedanke der Reziprozität freilich eine Rolle: Die Schweiz sollte im Ausland nicht ohne Grund Zustellungsformen in Anspruch nehmen, die sie selbst - im betroffenen Rechtsgebiet - nicht zu tolerieren bereit ist.

Die Durchführung von hoheitlichen Akten im Ausland

Die Durchführung hoheitlicher Akte im Ausland ist von der Zustimmung des betroffenen Staates im Allgemeinen (Staatsvertrag) oder im Einzelfall abhängig. Diese kann unter Umständen auch aus der Duldung bestimmter Zustellungsformen abgeleitet werden, wobei eine solche jederzeit widerrufen werden kann. Die Duldung setzt zudem voraus, dass der ausländische Staat um die Verwendung der Form weiss und gegen ihren Gebrauch nicht protestiert.

Die ausdrückliche oder implizite Sanktionsandrohung ist für den Begriff des hoheitlichen Aktes unerheblich. Sie spielt allenfalls eine Rolle bei der Beurteilung der Schwere einer Verletzung der ausländischen Hoheit.

Gemäss den einleitenden Bemerkungen kann die Schweiz selber bestimmen, in welchem Rahmen sie bestimmte Zustellungen toleriert oder nicht. Die DV erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass auch ein Auskunftsersuchen grundsätzlich eine hoheitliche Tätigkeit darstellt. Ob seine Zulässigkeit gemäss schweizerischer Praxis davon abhängen soll, ob eine ausländische Verfahrensordnung genannt oder nicht genannt wird, liegt nach Erachten der DV im Ermessen der zuständigen[270] Behörden.

Ob ein Auskunftsersuchen ohne ausdrückliche oder implizite Sanktionsandrohung zulässig ist, hängt vom Souveränitätsverständnis des betroffenen Staates ab. Dieser ist, vorbehältlich staatsvertraglicher Regelungen, völkerrechtlich frei, sich gegen jegliche amtliche Auskunftsersuchen ausländischer Staaten zur Wehr zu setzen. Dies gilt selbst dann, wenn der Adressat dem Ersuchen freiwillig Folge leistet, da über den Souveränitätsanspruch grundsätzlich lediglich die Behörden, nicht aber Einzelne verfügen können.

Eine reine Mitteilung des Inhalts, dass in der Schweiz ein Untersuchungsverfahren eröffnet worden sei und dass das betroffene Unternehmen sich daran, namentlich durch Bezeichnung eines Zustelldomizils in der Schweiz, beteiligen könne, stellt nach Erachten der DV aber keinen völkerrechtlich unzulässigen Eingriff in die Hoheit des ausländischen Staates dar. Sie könnte somit auf postalischem Weg vorgenommen werden.

Nach Erachten der DV ist die Organisation des für eine Zustellung verwendeten Postbetriebs nach privatem oder öffentlichem Recht für die Frage ihrer Zulässigkeit unerheblich. Auch die Zustellung amtlicher Schriftstücke durch Private kann die Gebietshoheit ausländischer Staaten verletzen.

Aus der (möglichen) Unzulässigkeit einer direkten postalischen Zustellung folgt nicht, dass lediglich die Zustellung auf diplomatischem Weg als Lösung bleibt; eine solche kann ja im Übrigen ebenfalls verbaut sein. Korrekt scheint der DV vielmehr eine amtliche Publikation oder eine direkte postalische Mitteilung an das betroffene Unternehmen des Inhalts, dass in der Schweiz ein Untersuchungsverfahren eröffnet worden sei und dass das betroffene Unternehmen sich daran, namentlich durch Bezeichnung eines Zustelldomizils in der Schweiz, beteiligen könne.

Aus völkerrechtlicher Sicht ist gegen eine Verfahrenseröffnung durch Publikation nichts einzuwenden. Sie bedarf keiner Mitteilung auf diplomatischem Weg. Solange sich spätere Vollstreckungshandlungen auf das schweizerische Territorium beschränken, sieht die DV für ihre Durchführung insofern keine völkerrechtlichen Hindernisse.

Vorgehen gegen in der Schweiz domizilierte Tochtergesellschaften oder Betriebsstätten

Aus völkerrechtlicher Sicht ist gegen die Zustellung von Verfahrensakten an das schweizerische Domizil ausländischer Gesellschaften nichts einzuwenden, solange damit keine über das schweizerische Territorium hinausreichenden hoheitlichen Wirkungen einhergehen. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob und inwieweit das anwendbare (schweizerische oder ausländische) Verfahrensrecht die Zustellung an eine rechtlich nicht identische Person als wirksam gelten lässt. Ist das im Ausland gelegene Mutterunternehmen eigentlicher Adressat der Untersuchung, so kann nur das ausländische Recht beantworten, ob Zustellungen in der Schweiz Rechtswirkungen im Ausland entfalten.

Grundsätzlich halten wir die Zustellung von Verfahrensakten gegenüber ausländischen Unternehmen mit Domizil in der Schweiz für die Zwecke einer Untersuchung im Inland für zulässig. Problematisch könnte der Einbezug von inländischen Tochtergesellschaften in ein Wettbewerbsverfahren dann sein, wenn sie selbst mit dem Gegenstand der angehobenen Untersuchung offensichtlich in keiner Beziehung stehen. Umgekehrt gesagt: Richtet sich eine Untersuchung der schweizerischen Wettbewerbsbehörden auf Sachverhalte, welche einzig das im Ausland gelegene Mutterunternehmen betreffen, und wird gleichwohl nur die inländische Tochter ins Recht gefasst, so fragt sich, ob mit einem solchen Vorgehen der Rechtshilfeweg in unzulässiger Weise umgangen wird. Die DV kann zu dieser Problematik allerdings nicht generell im Voraus Stellung nehmen, da die Antwort von den Umständen des Einzelfalles abhängt und zu differenzieren ist. Im konkreten Fall wäre zum Beispiel zu prüfen, ob der ausländische Staat den Rechtshilfeweg überhaupt ausschliesst, so dass die Schweiz ihre völkerrechtlich legitimen Regelungsinteressen im Wettbewerbsrecht[271] gegenüber einem ausländischen Unternehmen nicht anders als mit einer Untersuchung gegen seine schweizerische
Niederlassung wahren kann.

Die Frage der grenzüberschreitenden Wissenszurechnung verbundener Unternehmenseinheiten ist unseres Erachtens nicht primär ein völkerrechtliches Problem, sondern eine Frage des anwendbaren materiellen Rechts und des Prozessrechts. Völkerrechtlich problematisch wäre eine Wissenszurechnung dann, wenn damit in unzulässiger Weise extraterritoriale Wirkungen der vorhin erwähnten Art angestrebt würden.

Grundsätzlich sieht die DV keine völkerrechtlichen Hindernisse für wettbewerbsrechtliche Untersuchungen (gegebenenfalls auch mit prozessualem Zwang) am schweizerischen Domizil ausländischer Unternehmen. Ob Beweismittel in der Schweiz erhältlich sind oder nicht, zeigt in der Regel ja erst das Ergebnis der Untersuchung. Freilich kann, wie soeben festgehalten, die Androhung von Zwangsmassnahmen gegen eine Tochtergesellschaft, welche einzig auf die Herausgabe von Beweisen durch die ausländische Muttergesellschaft gerichtet ist, unter Umständen völkerrechtlich fragwürdig sein.

Vorgehen gegen in der Schweiz domizilierte Muttergesellschaften

Auch hier gelten grundsätzlich die soeben gemachten Überlegungen. Ein (indirekter) Zwang zur Herausgabe von Dokumenten, die sich im Besitze von ausländischen Niederlassungen oder Tochtergesellschaften befinden, dürfte aber in der Regel eher zu rechtfertigen sein als im umgekehrten Fall: Die Muttergesellschaft trägt sowohl konzern- wie auch völkerrechtlich (bei Zugrundelegung des Kontrollprinzips[272]) die Gesamtverantwortung für ein multinational tätiges Unternehmen. Der Rechtsordnung des Sitzstaates kommt deshalb eine Sonderstellung zu.

Begriff der Amtshilfe; internationale Kooperation zwischen Wettbewerbsbehörden

Der Begriff der Amtshilfe ist völkerrechtlich nicht allgemein definiert, und es gibt, mangels staatsvertraglicher Grundlage, keinen völkerrechtlichen Anspruch auf sie. (Lediglich aus dem Konzept der «Comity»[273] wird mitunter ein ausserrechtlicher Anspruch abgeleitet.) Primär ist deshalb das Landesrecht für die Beantwortung der Frage heranzuziehen, ob schweizerische Behörden von sich aus - oder auf Ersuchen - Informationen an ausländische Behörden geben dürfen (oder müssen). In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der Rechtshilfeweg justizförmig geregelt ist und die Interessen der Betroffenen, namentlich durch Rechtsmittel, besonders schützt: Nur über den Weg der Rechtshilfe lassen sich prozessuale Zwangsmittel (z. B. zur Beweiserhebung) anfordern und einsetzen. Die Amtshilfe findet dagegen auf Informationen Anwendung, über welche die ersuchte Behörde bereits verfügt.

[264] Z. B.: I. Brownlie, Principles of Public International Law, 4. Aufl., Oxford 1990, S. 307.
[265] A. Verdross / B. Simma, Universelles Völkerrecht - Theorie und Praxis, 3. Aufl., Berlin 1984, § 456. Die Autoren machen eine Ausnahme für blosse Mitteilungen ohne rechtsgestaltende Wirkungen (S. 277, Anm. 13).
[266] Im Allgemeinen dürfte der Begriff der Amtshandlung im angelsächsischen Rechtskreis etwas weniger strikt verstanden werden, soweit wenigstens keine Zwangsmassnahmen angedroht werden (vgl. z. B. BGE 109 III 97 E. 2 aus Anlass der postalischen Zustellung von Betreibungsurkunden in die USA).
[267] Th. Bischof, Die Zustellung im internationalen Rechtsverkehr in Zivil- oder Handelssachen, Veröffentlichungen des Schweizerischen Instituts für Rechtsvergleichung, Band 31, Zürich 1997, S. 174.
[268] Bischof, a.a.O. (Anm. 4), S. 190; Verdross/Simma, a.a.O. (Anm. 2).
[269] Vgl. etwa die einschlägigen Haager Übereinkommen in Zivil- und Handelssachen von 1905 (SR 0.274.11), 1954 (SR 0.274.12), 1965 (SR 0.274.131).
[270] Nach Ansicht des DV kann man sich für die Zuständigkeit am einschlägigen Bundesratsbeschluss (BRB) vom 7. Juli 1971 über die Ermächtigung der Departemente und der Bundeskanzlei zum selbständigen Entscheid über Bewilligungen nach Artikel 271 Ziff. 1 des Schweizerischen Strafgesetzbuches vom 7. Juli 1971 (AS 1971 1053) orientieren, selbst wenn keine formelle Bewilligung, sondern die Zulassungspraxis im Allgemeinen zur Frage steht.
[271] Zum Fragekomplex insgesamt: J. Schwarze, Die Jurisdiktionsabgrenzung im Völkerrecht, Neuere Entwicklungen im internationalen Wirtschaftsrecht, 1. Aufl., Baden-Baden 1996 (vgl. insbesondere Kapitel IV: Das Wirkungsprinzip und die Notwendigkeit seiner Eingrenzung - dargestellt am Beispiel des Wettbewerbsrechts der Europäischen Gemeinschaft [S. 43ff., S. 45 zum Zellstoff-Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, EuGH, Anm. 145]).
[272] Die Kontrolltheorie hat sich allerdings nicht allgemein durchgesetzt (vgl. z.B. I. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, 6. Aufl., Köln 1987, Rz. 1345-1348, 1707 f.).
[273] Entspricht etwa dem Begriff «gute Nachbarschaft» (vgl. zur Comity: Brownlie, a.a.O. [Anm. 1], S. 29f.).
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : VPB-65.71
Datum : 12. März 1998
Publiziert : 12. März 1998
Quelle : Vorgängerbehörden des BVGer bis 2006
Status : Publiziert als VPB-65.71
Sachgebiet : Direktion für Völkerrecht (DV/EDA)
Gegenstand : Internationale Rechtshilfe. Zustellung. Territoriale Integrität. Hoheitliche Handlungen.


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109-III-97
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AS 1971/1053